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Erschienen in:

2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Mythen und Vorurteile

verfasst von : Christian Schlesiger, Kerstin Schlesiger

Erschienen in: Psychotherapie-Kompass

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Menschen mit psychischen Erkrankungen werden in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld nach wie vor damit konfrontiert, dass andere Menschen unwissend bzw. unreflektiert pauschale Vorurteile über psychische Krankheiten und psychisch Kranke auf sie projizieren. Insbesondere schwer psychisch kranke Menschen werden weiterhin stigmatisiert und ausgegrenzt. Oft wirken Stigmatisierung und Diskriminierung wie eine „zweite Erkrankung“ mit der Konsequenz eines (weiteren) sozialen Rückzugs und nicht selten auch einer Geheimhaltung der Erkrankung mit wiederum negativen Folgen für den weiteren Erkrankungsverlauf.
Menschen mit psychischen Erkrankungen werden in ihrem privaten und beruflichen Umfeld nach wie vor damit konfrontiert, dass andere Menschen unwissend bzw. unreflektiert pauschale Vorurteile über psychische Krankheiten und psychisch Kranke auf sie projizieren. Insbesondere schwer psychisch kranke Menschen werden weiterhin stigmatisiert und ausgegrenzt. Oft wirken Stigmatisierung und Diskriminierung wie eine „zweite Erkrankung“1 mit der Konsequenz eines (weiteren) sozialen Rückzugs und nicht selten auch einer Geheimhaltung der Erkrankung mit wiederum negativen Folgen für den weiteren Erkrankungsverlauf.
Wer sich für eine Psychotherapie interessiert oder in psychotherapeutische Behandlung begibt, kann dies folglich als peinlich oder beschämend erleben, „outet“ der Betroffene sich doch damit indirekt gegenüber seiner Umwelt als psychisch kranker Mensch.
Auch bezüglich der Eigenschaften von Psychotherapeuten gibt es Vorurteile: Insbesondere in Filmen und Serien werden die dargestellten Psychotherapeuten selbst in stereotyper Weise als hilflos, neurotisch oder narzisstisch – jedenfalls als selbst behandlungsbedürftig – dargestellt.
Solche Mythen und Vorurteile können als mentale Hürde der Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie entgegenstehen. Das ist unnötig und schadet den betroffenen Menschen, die sich aus Scham oder Angst vor Ausgrenzung nicht bzw. verspätet in eine adäquate psychotherapeutische und auch psychiatrische Behandlung begeben.
Bevor wir uns näher mit dem eigentlichen Thema, der Psychotherapie, beschäftigen, wollen wir daher anhand von sieben beispielhaft ausgewählten Mythen und Vorurteilen einige der möglichen Hindernisse, die eine Aufnahme einer psychotherapeutischen Unterstützung unnötig erschweren, aus dem Weg räumen.
Psychotherapie hilft doch nicht – was soll das Reden bringen?
In Zeiten einer hochtechnisierten Medizin mit begleitender rasanter Entwicklung apparativer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden mag es dem einen oder anderen fraglich erscheinen, ob etwas so Einfaches und Unspektakuläres wie die menschliche Sprache tatsächlich in der Lage ist, Krankheiten zu heilen. Tatsache ist: Psychotherapie ist nachweislich wirksam. Insbesondere die „Richtlinienverfahren“2 (psychoanalytisch begründete Verfahren, Verhaltenstherapie, Systemische Therapie) mit ihren umfassenden Theoriesystemen der Krankheitsentstehung und spezifischen Behandlungsmethoden haben ihre therapeutische Wirksamkeit belegt. Neben den speziellen, je nach „Psychotherapieschule“ sich unterscheidenden psychotherapeutischen Verfahren und Techniken hat bei der Psychotherapie auch die therapeutische Beziehung im Sinne einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zwischen dem Patienten und dem Psychotherapeuten eine Bedeutung. Psychotherapie wirkt nicht bei allen psychischen Erkrankungen gleich gut. Während bei einigen psychischen Erkrankungen (z. B. bei Angststörungen, depressiven Störungen, Zwangsstörungen) eine Richtlinientherapie zum „Goldstandard“ gehört, sind bei anderen Erkrankungen medikamentöse oder andere Behandlungsstrategien (z. B. bei demenziellen Erkrankungen, akuten psychotischen Syndromen, Alkoholabhängigkeit ohne Abstinenzfähigkeit) vorrangig angezeigt. Die Abschätzung der Frage, wie gut eine Psychotherapie dem individuellen Menschen mit seiner psychischen Erkrankung voraussichtlich helfen kann (Prognose), wird zu Beginn bzw. im Vorfeld einer psychotherapeutischen Behandlung durch den Psychotherapeuten geklärt.
Es geht jedem mal schlecht – Psychotherapie ist Luxus!
Es trifft zu, dass nicht jeder, der sich über einen Zeitraum von einigen Tagen niedergeschlagen fühlt oder schlecht schläft, eine psychische Erkrankung hat, die psychotherapeutisch behandelt werden muss. Daher ist vor jede (Richtlinien-) Psychotherapie eine Diagnostikphase vorgeschaltet, in der u. a. geprüft wird, ob eine behandlungsbedürftige psychische Störung oder der Verdacht darauf vorliegt. Nur in diesem Fall ist eine Richtlinientherapie angezeigt. Niemand käme auf die Idee, einem Menschen, der unter Schmerzen leidet, ein wirksames Medikament zur Behandlung dieser Schmerzen vorzuenthalten. Genauso stellt die Psychotherapie eine medizinische Behandlung dar, die bei bestimmten psychischen Erkrankungen indiziert (angezeigt) ist. Eine ambulante Psychotherapie ist folglich kein Luxus, sondern eine etablierte, notwendige und erwiesenermaßen wirksame medizinische Behandlung bei psychischen Erkrankungen.
Nun reiß dich doch mal zusammen!
Einen Satz haben die meisten unserer Patienten leider von ihrer Umwelt hören müssen: Nun reiß dich doch endlich mal zusammen! Hinter dieser anklagenden Aussage steht die Annahme, dass die vorliegenden psychischen Symptome bei jedem Menschen auftreten - sozusagen „normal“ sind - und dass diese mit ausreichend Selbstdisziplin und Willensanstrengung überwindbar sind. Unterschwellig klingt der Vorwurf durch, der Betroffene lasse sich gehen und bemühe sich nicht ausreichend um eine Besserung seiner psychischen Verfassung. Psychische Erkrankungen führen allerdings oftmals zu Symptomen bzw. Beeinträchtigungen, die der willentlichen Steuerung nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind. Beispielsweise tritt bei depressiven Störungen häufig eine Antriebsminderung auf, die von den Betroffenen als quälender Verlust von Energie und Tatkraft erlebt wird. Dies kann so weit gehen, dass schwer depressive Menschen kaum oder nicht mehr in der Lage sind, aufzustehen oder sich anzuziehen. In solchen Fällen die betroffenen Menschen zu mehr „Selbstdisziplin“ aufzufordern, zeugt von Unwissenheit über das Wesen und die Folgen psychischer Erkrankungen, ist zynisch und diskriminierend.
Eine Psychotherapie zu brauchen, ist beschämend und peinlich.
Psychische Erkrankungen sind häufig. Über ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland leidet im Laufe eines Jahres an einer psychischen Erkrankung.3 Damit sind in Deutschland ähnlich viele Menschen von einer psychischen Erkrankung betroffen, wie von anderen Volkskrankheiten wie z. B. Bluthochdruck. Zu den häufigsten psychischen Störungsbildern gehören Angststörungen und Depressionen. Hier stellt eine psychotherapeutische Behandlung, ggf. neben einer medikamentösen Behandlung, grundsätzlich die zentrale Behandlungsform dar. Eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen ist daher im Sinn einer Standardbehandlung als Routine anzusehen. Dass Betroffene und ihre Familien nach wie vor unter Ablehnung und Ausgrenzung in ihrem beruflichen und privaten Alltag leiden, ist beschämend – nicht für die Betroffenen selbst, sondern für unsere Gesellschaft. Begrüßenswert sind daher alle Initiativen, die sich gegen die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und für eine soziale Inklusion einsetzen. Besonders positiv zu bewerten sind in diesem Zusammenhang Initiativen wie die regelmäßige Verleihung des „Antistigma-Preises“ (Förderpreis zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen) durch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) und das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit in Verbindung mit der Stiftung für Seelische Gesundheit.4
Wahrscheinlich werde ich aufgefordert, Medikamente zu nehmen!
Eine Psychotherapie kommt grundsätzlich allein mit den Mitteln der Sprache aus und wirkt durch psychotherapeutische Interventionen auf der Basis einer tragfähigen therapeutischen Arbeitsbeziehung. Wenn eine zusätzliche (oder primäre) medikamentöse Behandlung erforderlich erscheint, gehört die entsprechende Klärung und ggf. medikamentöse Verordnung in ärztliche Hände. Eine medikamentöse Behandlung ist keine Voraussetzung für eine Psychotherapie, aber auch kein Hindernis. In seltenen Fällen kann es allerdings notwendig sein, mit einem Medikament überhaupt erst in die mentale Verfassung zu kommen, eine Psychotherapie aktiv in Anspruch nehmen zu können, beispielsweise bei einer schweren Depression mit ausgeprägten kognitiven Einschränkungen (insbesondere Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen). Hier wäre der Patient aufgrund der Symptome der Depression möglicherweise gar nicht in der Lage, eine psychotherapeutische Sitzung von 50 Minuten „durchzustehen“, also beispielsweise sich ausreichend lange zu konzentrieren und das Besprochene zu merken.
Man muss auf der Couch liegen und von seiner Kindheit erzählen.
Dass Klienten bei der psychotherapeutischen Behandlung dem Therapeuten nicht gegenübersitzen, sondern auf einer Couch liegen, kommt inzwischen – wenn überhaupt – nur noch im Rahmen psychoanalytisch fundierter Psychotherapien infrage. Hier kann ein psychotherapeutisches Setting teilweise im Liegen eine therapeutisch gewünschte, vorübergehende Regression (Zurückgreifen auf frühere, kindliche Entwicklungsstadien) fördern und ggf. auch die Erinnerung an „Verdrängtes“ erleichtern. Das übliche Setting einer Psychotherapie findet aber „auf Augenhöhe“ statt, überwiegend im Sitzen oder – z. B. bei Expositionen – auch außerhalb der Praxisräume. Exposition bedeutet beispielsweise, sich seiner Angst zu stellen: Höhenangst verliert man nicht im Liegen, sondern indem mit dem Therapeuten ein hoher Turm bestiegen oder in einer Gondel auf einen Berg gefahren wird. Informationen über die zentralen Beziehungserfahrungen (insbesondere in der Kindheit) sind zwar grundsätzlich in jedem Psychotherapieverfahren von Bedeutung, können aber auch im Sitzen erhoben werden.
Therapeuten sind doch selbst gestört!
In den Medien werden Psychotherapeuten, Psychiater und andere „Psychos“ einerseits als warmherzig und kompetent, andererseits aber auch als inkompetent, neurotisch und manchmal als grenzverletzend dargestellt. Tatsächlich treten psychische Erkrankungen genauso häufig bei Psychotherapeuten auf, wie in der Normalbevölkerung. Ob eigene psychische Krisen bzw. besondere biografische Erfahrungen die Berufswahl beeinflusst haben oder nicht – das eigene erfolgreiche Meistern von Krisen kann jedenfalls zum tieferen Verständnis und zur Empathie für die Klienten beitragen. Verpflichtend müssen Psychotherapeuten im Rahmen ihrer Ausbildung eine Mindestzeit an Selbsterfahrung absolvieren – sozusagen eine „eigene Therapie“ –, wenn auch nicht in Form einer strukturierten psychotherapeutischen Behandlung im engeren Sinne. Viele Psychotherapeuten nehmen darüber hinaus Supervisionen in Anspruch oder treffen sich zu kollegialen Intervisionen (Austausch und Reflektion zu schwierigen Behandlungsfällen und herausfordernden Situationen).

Zusammenfassung

Psychische Erkrankungen sind häufig. Leider werden Menschen mit psychischen Erkrankungen nach wie vor mit negativen Stereotypen konfrontiert, stigmatisiert und ausgegrenzt. Dies hält Betroffene nicht selten davon ab, rechtzeitig oder überhaupt psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Psychotherapie ist kein Luxus. Sie ist die nachgewiesen wirksame Standardbehandlung bei vielen psychischen Erkrankungen und Regelleistung der Krankenkassen.
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Fußnoten
1
Mit der Bezeichnung „zweite Erkrankung“ ist gemeint, dass psychisch Kranke die von Seiten ihrer Umwelt erfahrenen Stigmatisierungen und Diskriminierungserlebnisse verinnerlichen (vgl. Dtsch Ärztebl 2004; 101: A 3253–3255, Heft 48).
 
2
Die Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses definiert u. a. die zugelassenen, nachweislich wirksamen Psychotherapieverfahren, die Höchstgrenzen der Psychotherapiestunden im jeweiligen Psychotherapieverfahren und (über einen Verweis auf die sog. Psychotherapievereinbarung) auch die beruflichen Mindestqualifikationen der Psychotherapeuten.
 
3
Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) vom 10.09.2021.
 
Metadaten
Titel
Mythen und Vorurteile
verfasst von
Christian Schlesiger
Kerstin Schlesiger
Copyright-Jahr
2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-66007-2_1