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Reversible Nyktalopie nach Adipositaschirurgie bei einer jungen Frau in Deutschland

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Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Anamnese

Eine 27-jährige Frau berichtet über seit 6 Monaten zunehmend eingeschränktes Dämmerungssehen sowie seit 4 Monaten reduzierte Tagessehschärfe. Zudem klagte die Patientin über wässriges Tränen der Augen sowie einen trockenen Mund und trockene Lippen. Die Familienanamnese war leer. In der medizinischen Vorgeschichte berichtete die Patientin, sich einer laparoskopischen Schlauchmagengastrektomie bei einer Adipositas von 210 kg und einem BMI von 72,7 kg/m2 vor 4 ½ Jahren unterzogen zu haben. Seitdem nehme sie regelmäßig eine orale Multivitaminsubstitution, zu deren Zusammensetzung keine näheren Angaben gemacht werden konnten.

Untersuchungsbefunde

Der bestkorrigierte Fernvisus (BCVA) betrug an beiden Augen 0,4 dezimal. Der vordere Augenabschnitt (VAA) war bis auf eine konjunktivale Verdickung im Bereich der temporalen Konjunktiva und eine alte Hornhautnarbe am linken Auge unauffällig. Fundoskopisch zeigte sich ebenfalls ein regelrechter, altersentsprechender Befund von Glaskörper, Papille, Netzhaut und deren Gefäßen. Die optische Kohärenztomographie (OCT) zeigte an beiden Augen eine verwaschene EZ-Zone (Abb. 1). Die Goldmann-Perimetrie ergab eine beidseitige, konzentrische Gesichtsfeldeinengung (Abb. 2). Der Pelli-Robson-Kontrastsehtest wurde bei Leuchtdichten von 0,5 cd/m2 und 50 cd/m2 durchgeführt. Bei 0,5 cd/m2 konnte die Patientin am linken Auge (LA) keine und am rechten Auge (RA) 5 Sehzeichen erkennen (Norm ab 25 Zeichen), bei 50 cd/m2 wurden am LA 20 und am RA 29 Zeichen erkannt (Norm ab 30 Zeichen). Der gesättigte Panel-D15-Farbsehtest war binokular unauffällig, im entsättigten Test zeigten sich zahlreiche Verwechselungen entlang der Tritan- und Tetartan-Achsen sowie 2 Verwechselungen entlang der Deutan-Achse. Das Ganzfeldelektroretinogramm (ERG) zeigte photopisch reduzierte Signale sowie skotopisch einen Befund unter der Erfassungsgrenze (Abb. 3). Die Ganzfeld-Dunkeladaptation mittels May-Roland Flash-Adaptometer ergab eine Erhöhung der sensorischen Schwelle um 3,6 logarithmische Einheiten, der ERG-Schwelle um 4 logarithmische Einheiten und der zentralen sensorischen Kontrastschwelle um 4 logarithmische Einheiten.
Abb. 1
a Verwaschene EZ-Zone. b Regelrechte Darstellung der EZ-Zone als Vergleich
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Abb. 2
Goldmann-Perimetrie OD/OS vor der Therapie
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Abb. 3
Ganzfeld-ERG vor der Therapie; a photopisch, b skotopisch. Vertikale Kalibrierung photopisch 25 µV/Div.; skotopisch 0,1 cd/m2s: 25 µV/Div.; 3,0 cd/m2s: 50 µV/Div.
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Diagnose

In Zusammenschau der Symptome und der Untersuchungsergebnisse bestand – trotz Substitutionstherapie – ein hochgradiger Verdacht auf Vitamin-A-Mangel: Xerostomie, Xerophthalmie, Nyktalopie und letztlich Beeinträchtigung von Visus und Farbensehen. Anfallsweises wässriges Augentränen war als Insuffizienz der Muzinschicht zu verstehen mit Benetzungsdefekten. Die Bestimmung des Vitamin-A-Spiegels ergab einen Wert von 93 µg/l (Norm 300–600). Nebenbefundlich zeigte sich ebenfalls eine Vitamin-D-Insuffizienz. Der 25-Hydroxy-Vitamin-D-Wert lag < 4 ng/ml (Norm 30–100).

Therapie und Verlauf

Da die orale Vitaminzufuhr offenbar nicht ausreichte, erfolgten eine bukkale Vitamin-A-Substitution mit Vitamin-A-Palmitat 10.000 IE/Tag in öliger Lösung (Vit. A Palmitat Tropfen 6‑mal/Tag) sowie eine lokale Therapie mit Vitamin-A-Augensalbe zur Nacht. Ergänzend wurden unkonservierte Tränenersatzmittel mehrmals pro Tag empfohlen.
Die Patientin stellte sich zur Verlaufskontrolle nach 4 Wochen vor. Sie berichtete über eine deutliche Besserung ihrer Beschwerde. Die BCVA betrug am rechten Auge 1,0 und am linken Auge 0,8 dezimal (der bekannten Hornhautnarbe geschuldet). Die Patientin konnte im Pelli-Robson-Kontrastsehtest nun unter einer Beleuchtung von 0,5 cd/m2 29 Sehzeichen erkennen, die Gesichtsfeldaußengrenzen hatten sich normalisiert (Abb. 4). Im entsättigten Panel-D15-Farbsehtest kam es zu keinen Verwechslungen mehr, und im Ganzfeld-ERG zeigten sich normwertige Signale (Abb. 5). Auch die Dunkeladaptation war wieder regelrecht. Im Bereich der Konjunktiva zeigte sich ein Verschwinden des Bitot-Flecks, und die Netzhautanatomie normalisierte sich in der OCT. Mund und Lippen waren wieder feucht. Die Augen tränten nicht mehr.
Abb. 4
Goldmann-Perimetrie OD/OS nach der Therapie
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Abb. 5
Ganzfeld-ERG nach der Therapie; a photopisch, b skotopisch. Vertikale Kalibrierung photopisch 50 µV/Div.; skotopisch 0,1 cd/m2s: 25 µV/Div.; 3,0 cd/m2s: 50 µV/Div.
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Diskussion

Vitamin A spielt eine wichtige Rolle in verschiedenen Funktionen des menschlichen Körpers. Hierzu gehören Entwicklung verschiedener Organellen [5], Erhaltung von Zellen und Gewebe [1], Neuromodulation und kortikale Plastizität [9, 10] sowie seine wichtige Rolle beim Sehen als Ausgangsstoff für die lichtempfindlichen Sehpigmentmoleküle in den Fotorezeptoren [2]. Vitamin-A-Insuffizienz ist in den Industrieländern eine seltene Erkrankung, die jedoch bei langem Bestehen bzw. hohem Ausmaß des Mangels zur Erblindung durch schwere Keratomalazie mit Vernarbung und Perforation der Hornhaut oder – wie in unserem Fall – zu Visusreduktion, Gesichtsfeldkonstriktion und Nachtblindheit führen kann. Mögliche Ursachen hierzu können eine verminderte Vitaminresorption infolge medizinischer Interventionen [8], das Einnehmen bestimmter Medikamente oder chronische Entzündungen des Magen-Darm-Trakts sein. Die Krankheit ist in Entwicklungsländern aufgrund chronischer Unterernährung deutlich häufiger [6]. Nach der Magen-Darm-Resektion blieb unsere Patientin fast 5 Jahre symptomlos; dies ist möglicherweise durch das Vitamin-A-Reservoir in der Leber zu erklären. Dadurch wurde der Zusammenhang zwischen Adipositaschirurgie und der Augensymptomatik verschleiert. Ophthalmologische Leitsymptome und Zeichen von Vitamin-A-Mangel sind Nachtblindheit (Nyktalopie), konjunktivale Xerosis im Sinne eines Bitot-Flecks, korneale Xerosis, Hornhautulkus, Keratomalazie bis hin zur Hornhautperforation und Xerophthalmie [3]. Grundsätzlich sind oberflächige Hyperkeratosen reversibel. Das fortgeschrittene Stadium der Xerophthalmie zeichnet sich hingegen durch ein meist beidseitiges, nicht reaktives, nahe am Limbus gelegenes und schmerzloses Einschmelzen der Kornea (Keratomalazie) aus. Mögliche Folgen sind eine Infektion, Perforation, Narbenbildung oder eine Phthisis bulbi. Häufig ist in diesen schweren Fällen eine Keratoplastik oder sogar eine Enukleation als letzte Maßnahme nicht vermeidbar [4]. Zur Einteilung der Xerophthalmie ist die WHO-Klassifikation maßgeblich (Tab. 1).
Tab. 1
WHO-Klassifikation der Xerophthalmie
XN
Nyktalopie
X1A
Konjunktivale Xerosis
X1B
Bitot-Fleck
X2
Korneale Xerosis
X3A
Korneale Ulzeration/Keratomalazie (< 1/3 der Kornea betreffend)
X3B
Korneale Ulzeration/Keratomalazie (≥ 1/3 der Kornea betreffend)
XS
Korneale Narben
XF
Xerophthalmie-Fundus
Diese Symptome und Zeichen sollten den dringenden Verdacht auf Vitamin-A-Mangel lenken und eine entsprechende Diagnostik in die Wege leiten. Hierzu gehören neben der klinischen Untersuchung das Ganzfeld-ERG und die Dunkeladaptometrie. Weitere Diagnostik wie Farbsehtest, Kontrastsehtest und Perimetrie sind ergänzend durchzuführen. Die Sicherung der Diagnose erfolgt durch Bestimmung des Vitamin-A-Spiegels. Die Therapie basiert im Wesentlichen auf der Substitution von Vitamin A. Da es jedoch keine Leitlinien zu täglichem Bedarf und Mindestlevel gibt, kann auf die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurückgegriffen werden: Kindern mit Unterernährung wird eine erste intramuskuläre Injektion von 100.000 IE Vitamin A empfohlen, gefolgt von 2 oralen Dosen von 200.000 IE. Bei Nachtblindheit wird eine tägliche orale Dosis von 10.000 IE über 2 Wochen empfohlen [7]. Unsere Patientin erhielt Vitamin A in öliger Lösung bukkal, da von einer gestörten gastrointestinalen Aufnahme ausgegangen wurde, sowie eine lokale Anwendung als Vitamin-A-Augensalbe. Diese führte zu einer raschen Besserung der Symptome innerhalb von 4 Wochen und zu einer Normalisierung des Vitamin-A-Spiegels. Vitamin-A-Insuffizienz ist eine vermeidbare Erblindungsursache, die durch die deutliche Zunahme an bariatrischen Eingriffen wieder etwas häufiger wird. Eine Behandlung mit einer hoch dosierten Vitamin-A-Supplementierung kann zu der auch in diesem Fall beeindruckend zügigen Restitutio ad integrum führen, die mit einer vollständigen Herstellung einer normalen Sehfunktion in allen getesteten Qualitäten einherging. Wichtig ist, klinische Leitsymptome wie Keratinisierung der Bindehaut und Keratomalazie zu erkennen und den Verdacht auf Vitamin-A-Mangel durch serologische Tests zu erhärten.

Fazit

  • Nachtblindheit aufgrund Vitamin-A-Mangel kann eine Spätfolge von bariatrischer Chirurgie trotz oraler Vitaminsubstitution sein, v. a. wenn keine spezialisierten bariatrischen Vitamine eingenommen werden.
  • Der Augenarzt ist meist der erste Kontakt nach Manifestation der Symptome und sollte mit den klinischen Zeichen dieser Erkrankung vertraut sein.
  • Vitamin-A-Mangel-assoziierte Nachtblindheit ist eine gut behandelbare Erkrankung, die bei rechtzeitiger Intervention folgenlos ausheilen kann.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M.K. Hallak, H. Krastel, M. Otto und R.P. Finger geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

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Titel
Reversible Nyktalopie nach Adipositaschirurgie bei einer jungen Frau in Deutschland
Verfasst von
Mustafa K. Hallak
Hermann Krastel
Mirko Otto
Robert P. Finger
Publikationsdatum
11.04.2025
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Ophthalmologie / Ausgabe 9/2025
Print ISSN: 2731-720X
Elektronische ISSN: 2731-7218
DOI
https://doi.org/10.1007/s00347-025-02231-9
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Zurück zum Zitat Mark M, Ghyselinck NB, Chambon P (2009) Function of retinoic acid receptors during embryonic development. Nucl Recept Signal 7:e2PubMedPubMedCentralCrossRef
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Bildnachweise
Verwaschene EZ-Zone bei Vit-A-Mangel/© Hallak MK et al. / all rights reserved Springer Medizin Verlag GmbH, Mädchen in selbst gebauter Zeitmaschine/© Santen GmbH (Symbolbild mit Fotomodell)