Die letzten Jahrzehnte intensiver Forschung haben uns Vieles über Krebserkrankungen und ihre Ursachen gelehrt. Wir wissen heute, dass Krebserkrankungen und der gesamte Alterungsprozess unweigerlich miteinander verknüpft sind. Und wir haben verstanden, dass wir sowohl die Entstehung von Krebserkrankungen als auch den Alterungsprozess auf die gleiche Weise verlangsamen können. Klassische Karzinogene spielen dabei nach wie vor eine wichtige Rolle, aber sie sind nur der Samen, aus dem eine Krebserkrankung hervorgehen kann. Ohne einen Nährboden aus krebsfördernden Lebensgewohnheiten, Umwelteinflüssen und Begleiterkrankungen können nur die wenigsten Krebserkrankungen entstehen. Das gefährliche Zusammenspiel von genetischen Mutationen und mächtigen Krebsförderern ist der Grund, weshalb wir die Entstehung nahezu aller Krebserkrankungen durch unseren Lebensstil beeinflussen können und dabei gleichzeitig die Schuldfrage entschärfen.
Krebs ist noch immer ein Tabuthema, mit dem sich niemand gerne beschäftigt, es sei denn, er muss. Wer an Krebs erkrankt, fühlt sich von einem Moment auf den anderen in eine Parallelwelt katapultiert – eine Welt, in der Krebserkrankungen plötzlich eine Rolle spielen, in der sie zwangsweise dazu gehören und in der man sogar lernen kann, mit ihnen zu leben. Dabei existiert eine derartig klare Grenze zwischen Gesunden und Krebskranken gar nicht, denn wir alle tragen die Vorstufen von Krebserkrankungen in uns. Das, was wir klinisch als ausgewachsenen Krebs diagnostizieren, ist nur die Spitze eines Eisberges aus vorgeschädigten Zellen. Während wir uns noch in sicherer Gesundheit wiegen, wütet in unserem Inneren in aller Verborgenheit ein unaufhörlicher Kampf. Millionen von Immunzellen beseitigen täglich tausende geschädigte Zellen und Milliarden mikroskopisch kleiner Reparaturenzyme korrigieren genetische Defekte. Eine Krebsdiagnose macht nur einen einzelnen winzigen Aspekt dieses unsichtbaren Kampfes für uns sichtbar: seinen Ausgang. Dabei könnten wir durch unseren Lebensstil ein Leben lang Einfluss auf den Verlauf dieses Kampfes nehmen.
Krebserkrankungen sind bei weitem keine neue Krankheit – sie sind so alt wie das Leben selbst. Sie kommen bei allen vielzelligen Lebewesen vor, wenngleich ihre Häufigkeit und Altersverteilung bei Säugetieren, Fischen, Vögeln und Pflanzen deutlich variiert. Ihr universales Auftreten im Tierreich lässt Krebserkrankungen als scheinbar unausweichliche Konsequenz komplexen vielzelligen Lebens erscheinen. Dabei lehrt uns das unterschiedliche Alter, mit dem Tierarten typischerweise an Krebs erkranken, dass sie nicht nur unausweichlich, sondern vielmehr ein von der Evolution wohlabgewogener und in gewisser Weise gewollter Kompromiss sind. Damit sich das Leben stets an wandelnde Umweltbedingungen anpassen kann, ist eine gewisse Variation an Merkmalen zwingend notwendig. Nur so kann sichergestellt werden, dass innerhalb einer Art immer eine Untergruppe existiert, die den neuen Herausforderungen ihrer Umwelt oder Zeit gewachsen ist. Höchste Präzision bei der Vervielfältigung unserer Gene ist also von der Evolution gar nicht gewollt. Sie könnte sogar das Überleben einer ganzen Art gefährden.
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Dieser genetischen Variation steht der Schutz unserer Gene gegenüber, denn um gesunde Nachkommen zu zeugen und deren Überleben zu sichern, muss die Integrität und Funktion unserer Gene bis ins fortpflanzungsfähige Alter hinein oder – im Fall von uns Menschen – sogar weit darüber hinaus bewahrt werden. Tiere fangen in der Regel erst dann an zu altern, wenn ihre Stunde in der Natur ohnehin längst geschlagen hätte. Man wird daher auf dem Feld selten einer alten grauen Maus begegnen, da Mäuse in der Regel nicht an Altersschwäche sterben, sondern von Fressfeinden verspeist werden, verhungern oder erfrieren. Ein aufwendiger Schutz der Maus-Gene weit über diese Zeit hinaus wäre aus evolutionärer Sicht reine Energieverschwendung. Je höher die Lebenserwartung, desto ausgeklügelter sind die Schutzmechanismen der Gene.
Um uns vor Mutationen zu schützen, hat die Evolution eine Vielzahl an Reparatur- und Kontrollmechanismen hervorgebracht, die wie ein mehrschichtiges Sicherheitsnetz wirken, das krankhafte Zellen in unserem Körper abfängt und an der Vermehrung hindert. Krebs kann nur entstehen, wenn es einer Körperzelle gelingt, mehrere bedeutende genetische Veränderungen anzusammeln und (!) alle „Sicherheitsnetze“ zu durchbrechen. Das erste Sicherheitsnetz bilden Enzyme, die auf die Reparatur von genetischen Schäden spezialisiert sind. Scheitern diese Reparaturversuche, wird die geschädigte Zelle aussortiert oder in eine Art Ruhestand geschickt, den man als „Seneszenz“ bezeichnet.
Unsere Körperzellen erreichen aber auch ohne solche genetischen Schädigungen im Laufe ihres Lebens irgendwann den Zustand der Seneszenz, und zwar dann, wenn die Telomere an den Enden der Chromosomen aufgebraucht sind. Telomere kann man sich am besten als Schutzkappen an den Enden unserer Chromosomen vorstellen, die mit jeder Zellteilung ein kleines Stückchen kürzer werden. Sind sie aufgebraucht, nimmt das Erbgut direkten Schaden und die Zelle stirbt ab oder wird „seneszent“. Diese „pensionierten“ Zellen leben zwar noch, können sich jedoch nicht mehr teilen und somit auch nicht mehr an der Erneuerung von Geweben teilnehmen.
Die Seneszenz unserer Zellen ist einer der Hauptgründe, warum wir im Alter zunehmend an Regenerationspotenzial verlieren (Khosla et al. 2020). Völlig untätig sind die pensionierten Zellen dabei jedoch nicht, denn sie produzieren und sekretieren weiterhin verschiedene Substanzen, die einer unterschwelligen Entzündungsreaktion ähneln und unter anderem für einen beschleunigten Alterungsprozess und Alterserkrankungen verantwortlich gemacht werden (Senescence-associated secretory phenotype, SASP).
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Bis zu 20 % aller Körperzellen in älteren Primaten sind seneszente Zellen mit irreparablen DNA-Schäden oder aufgebrauchten Telomeren (Herbig et al. 2006). Auch unsere Stammzellen gehen ab einem gewissen Alter in den Ruhestand und können nicht mehr für einen kontinuierlichen Nachschub an jungen Zellen sorgen. Dies geschieht spätestens, falls wir es tatsächlich bis dahin geschafft haben, um das 120. Lebensjahr herum. In Mausexperimenten konnte die gezielte Entfernung seneszenter Zellen den gesamten Alterungsprozess verlangsamen, Krebserkrankungen aufhalten und die Lebensspanne deutlich verlängern (Baar et al. 2017; Poblocka et al. 2021). Diese Experimente lieferten die Grundlage für eine völlig neue Art von Medikamenten, die man als „Senolytika“ bezeichnet und an deren Entwicklung intensiv geforscht wird.
Bei uns Menschen beobachten wir den Alterungsprozess ab Mitte 30 meistens zuerst an unseren Haaren. Wir ergrauen, weil die Stammzellen in der Haarwurzel, die für die Produktion des braunen Farbstoffs Melanin zuständig sind, ihren Dienst für immer aufgeben. Aber wir werden mit dem Alter nicht nur grauer und weiser – uns trifft auch, statistisch gesehen, immer häufiger das Schicksal einer Krebserkrankung. Die Menge an geschädigten und seneszenten Zellen in unserem Körper steigt und damit auch das Risiko, dass bei einer dieser Zellen der Ruhestand in eine neue Selbstständigkeit ausartet.
Über viele Jahre bis Jahrzehnte entwickeln sich diese Zellen in aller Stille in Richtung zunehmender Bösartigkeit. Den Platz für ihr unkontrolliertes Wachstum verschaffen sich Krebszellen, indem sie spezielle Schneide-Enzyme ausschütten, die das umliegende Gewebe auflockern. Um ihren Nahrungsbedarf zu sichern, regen sie das Wachstum neuer Blutgefäße an, die derartig missgebildet sind, dass Immunzellen oder Medikamente kaum noch in den Tumor gelangen. Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sich stillschweigend eine gefährliche Invasionsfront auf ihren Weg macht (Abb. 1.1). Einige dieser invasiven Krebszellen sind so autark geworden, dass sie sich in benachbarte Organe oder im schlimmsten Fall sogar über die Blutbahn oder Lymphe ausbreiten können. Dort, wo ihre Reise sie hinführt, siedeln sie sich an und bilden neue Kolonien. Sie wachsen so lange weiter, bis die Ressourcen verbraucht sind und der Zyklus der Metastasierung von Neuem beginnt. Aus einem anfangs harmlosen primären Tumor werden bösartige sekundäre und metastasierte Tumoren. Von nun an versprechen Therapien kaum mehr Heilung, sondern hauptsächlich einen Gewinn an wertvoller Lebenszeit.
Abb. 1.1
Stadien der Krebsentstehung am Beispiel von schwarzem Hautkrebs (Melanom). Stadium 1: Ein anfänglich gutartiger Tumor mit einer Größe von weniger als 1 mm wächst in der Epidermis der Haut heran. Stadium 2: Der Tumor ist immer noch auf die Epidermis beschränkt, hat aber inzwischen eine Größe von 1–4 mm erreicht. Stadium 3: Krebszellen breiten sich in benachbarte Hautareale und nahegelegene Lymphknoten aus. Der Tumor gilt von nun an als bösartig. Stadium 4: Krebszellen wandern über die Blutbahn in andere Organe und bilden dort Metastasen. Über die Lymphe erreichen die Krebszellen nun auch entferntere Lymphknoten und verursachen hier Schwellungen. In diesem Stadium ist ein Melanom nicht mehr heilbar. Adaptiert aus „Melanoma Staging“ von BioRender.com (2022a). Abgerufen von http://app.biorender.com/biorender-templates
Es sind die gefürchteten Metastasen, die Krebs so gefährlich machen und an denen letzten Endes 90 % aller Krebspatienten versterben (Chaffer et al. 2011). Ausgerechnet ihnen stehen wir aber auch heute noch – in Zeiten der Hightech-Medizin – völlig hilflos gegenüber. Wir können unmöglich zig Millionen dieser nur wenige Mikrometer kleinen Krebszellen, die sich in allen möglichen Winkeln unseres Körpers verstecken, herausoperieren oder bestrahlen. Wir könnten sie nicht einmal alle finden. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Metastasen häufig viele Jahre bis Jahrzehnte in einer Art Dauerschlaf befinden, in dem sie resistent gegenüber nahezu allen Medikamenten sind. Um sie zu bekämpfen, brauchen wir ein Mittel, das ebenso mikroskopisch klein, zahlreich und hartnäckig ist. Die Wissenschaft setzt daher alle Hoffnungen in den einzigen für eine solche Arbeit qualifizierten Kandidaten: unser eigenes Immunsystem. Aber noch sind wir nicht so weit. Für einige Krebserkrankungen gibt es wirksame Immuntherapien, aber auch diese wirken bisher immer nur bis zu einem gewissen Punkt. Ist dieser überschritten, ist eine Heilung ausgeschlossen. Die vollständige Heilung sollte auch nicht das alleinige Ziel aller Forschungsbemühungen sein, denn ein Herauszögern der Erkrankung oder ein Gewinn an Lebensqualität sind für Betroffene ebenso wichtige und erstrebenswerte Ziele. Wer dank einer angepassten Therapie Jahre oder Jahrzehnte gut mit einer Krebserkrankung leben kann, hat sehr viel gewonnen.
Die Medizin hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte auf vielen Gebieten gemacht. Wir können Herz-Kreislauf-Erkrankungen wirksam mit Medikamenten, wie Blutverdünnern und Cholesterinsenkern, behandeln. Gegen viele Infektionskrankheiten, die für ältere Menschen früher gefährlich waren, stehen uns inzwischen hochwirksame Antibiotika oder effiziente Impfungen zur Verfügung. In unserer modernen Welt können wir Unfälle vermeiden, diabetesbedingte Gefäßschäden durch gentechnisch hergestelltes Insulin verhindern, Osteoporose mit Vitamin D vorbeugen und verschlissene Knie- und Hüftgelenke operieren. Aber selbst wenn es uns gelänge, alle anderen Krankheiten und altersbedingten Leiden abzuwenden, so würden wir doch irgendwann an Krebs erkranken. Dabei wird ein entscheidender Faktor systematisch übersehen.
Die Annahme, dass wir dem Krebs irgendwann nicht mehr entfliehen können, mag durchaus stimmen. Aber die Tatsache, dass wir das „Ob“ nicht beherrschen können, bedeutet keinesfalls, dass wir dem „Wann“ ebenso hilflos ausgeliefert sind. Weil wir die genetischen Veränderungen, die zur Entstehung von Krebserkrankungen führen, zum Großteil erst im Laufe unseres Lebens erwerben, können wir entscheidend in diesen langwierigen Prozess eingreifen. Abb. 1.2 veranschaulicht eindrucksvoll, dass wir dabei oftmals sogar Jahrzehnte Zeit haben, um mit Präventionsstrategien oder Therapien in den Prozess der Krebsentstehung einzugreifen (Abb. 1.2).
Abb. 1.2
Geschätzter Zeitraum, den Krebserkrankungen und ihre Vorstufen zur Entstehung benötigen. Dieser Zeitraum ist durch eine Reihe von genetischen Veränderungen gekennzeichnet, wobei die Art und Reihenfolge dieser Veränderungen spezifisch für unterschiedliche Organe und Gewebe ist. Die Zeit von der Initiierung bis hin zur vollen Etablierung einer bösartigen Krebserkrankung ist direkt von dem Erwerb dieser genetischen Veränderungen abhängig. Die lange Zeit, die bis zum Erwerb aller bösartigen genetischen Veränderungen vergeht, bietet einen wertvollen Angriffspunkt für Behandlungen und Präventionsstrategien, die diesen gefährlichen Prozess frühzeitig unterbrechen könnten. Orangefarbene Zellen symbolisieren Veränderungen in der Zusammensetzung des Tumors, wie beispielsweise Immunzellen, die durch absterbende Krebszellen angelockt werden. Fortgeschrittene Tumoren zeigen eine pathologische Neubildung von Blutgefäßen und ein vermehrtes Vorkommen von Bindegewebszellen. Abkürzungen: CIN: Adenokarzinom in situ; CIS: Karzinom in situ; DCIS: Duktales Karzinom in situ; PIN: Intraepitheliale Neoplasien des Pankreas; TIS: Transitionalzellkarzinom in situ. Diese Abbildung aus Umar et al. (2012) wurde angepasst und übersetzt mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature Customer Service Centre GmbH: Springer Nature, Nature Reviews Cancer, Future directions in cancer prevention, Macmillan Publishers Limited 2012 (Umar et al. 2012)
Krebsprävention bedeutet neben Aufklärung, individueller Risikobewertung und regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen auch die Entwicklung von neuen Medikamenten, die Risikopatienten zukünftig vor Krebserkrankungen schützen sollen. Diese Form der Vorsorge wird „Chemoprävention“ genannt und ist trotz ihres abschreckend klingenden Namens im Prinzip das Gleiche wie täglich Aspirin zur Blutverdünnung und somit zum Schutz vor einem Herzinfarkt einzunehmen. Die Entwicklung von Medikamenten zum Schutz vor Krebserkrankungen wäre zudem ein rentabler Anreiz für die Pharmaindustrie, sich ebenfalls an der Präventionsforschung zu beteiligen.
Es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir mit 60 an Krebs erkranken oder mit 80 – oder sogar die Entstehung einer Krebserkrankung so weit hinauszögern, dass sie gar nicht mehr zum Tragen kommt, weil wir zuvor an etwas anderem versterben. In den meisten Fällen sind dies Herz-Kreislauf-Erkrankungen, denn an klassischer Altersschwäche stirbt heute kaum noch jemand. Wissenschaftlich betrachtet ist Altersschwäche jedoch nichts anderes als der allmähliche Funktionsverlust aller Organe und Gewebe aufgrund einer steigenden Anzahl an pensionierten Zellen bis hin zu einer Erschöpfung des Stammzell-Repertoires.
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Die wenigsten Menschen wissen, wie sehr wir das Tempo, mit dem diese Prozesse ablaufen, durch unseren Lebensstil beeinflussen können. Dass wir es können, haben unzählige wissenschaftliche Studien und auch Untersuchungen an besonders langlebigen Bevölkerungsgruppen eindrücklich gezeigt. Allein durch eine begrenzte Kalorienzufuhr kann die Lebensspanne vieler untersuchter Tierarten, darunter auch Säugetiere, zuverlässig verlängert werden. Die Tiere leben nicht nur länger, sondern bleiben auch länger von Alterserscheinungen und Krankheiten verschont (Kenyon 2010; Green et al. 2022). Die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte haben eindrücklich bewiesen, dass Krebserkrankungen und unser gesamter Alterungsprozess unweigerlich miteinander zusammenhängen. Wer Krebsprävention betreibt, macht aus wissenschaftlicher Sicht nichts anderes als eine echte „Anti-Aging“-Therapie.
Um Krebserkrankungen vorzubeugen und den Alterungsprozess zu verlangsamen, müssen oftmals Lebensgewohnheiten verändert werden. Und zwar dauerhaft – was uns mitunter viel Disziplin abverlangen kann. Um dieses hohe Maß an Disziplin aufzubringen, ist es notwendig, von der Sinnhaftigkeit der eigenen Bemühungen überzeugt zu sein. Eine aufrichtige Überzeugung können wir aber nur erlangen, wenn wir die Mechanismen verstehen, die uns altern und krank werden lassen. Es gibt Dinge, die niemand anderes für uns tun kann als wir selbst – und dazu gehört in besonderem Maße der Schutz unserer eigenen Gesundheit. Wir selbst müssen die Konsequenz und Motivation für uns aufbringen, um das Fortschreiten krankhafter Prozesse aufzuhalten. Niemand ist so sehr an Ihrer Gesundheit interessiert wie Sie. Niemand kann Ihnen das Leben wiedergeben, wenn es vorbei ist, auch nicht die modernste Wissenschaft. Alles, was wir Wissenschaftler tun können, ist, die Ergebnisse unserer Forschung mit Ihnen zu teilen. Wenn die Ergebnisse unserer Arbeit jedoch nicht in die Öffentlichkeit, die Politik oder den Alltag von Ärzten und Kliniken gelangen, sind all unsere Bemühungen nutzlos. Krebserkrankungen entstehen nicht von einem Tag auf den anderen. Sie entstehen unser Leben lang. Man könnte Krebsprävention auch als frühe und in vielen Fällen einzig rechtzeitige Form der Therapie für diese unausweichlich eintreffende Krankheit verstehen. Die Chancen stehen sehr hoch, dass sie in Ihrem Leben mit Krebs in Kontakt kommen werden.
Dieser wissenschaftlichen Sichtweise steht in hartem Kontrast das Verhalten unserer Gesellschaft gegenüber. Krebserkrankungen haben den Ruf einer willkürlichen und zweifelhaften Lotterie, die niemand wirklich versteht. Die vielen empfohlenen und teilweise dubiosen Vorsichtsmaßnahmen erscheinen in diesem Licht als bloße Zeitverschwendung. Jeder kennt irgendjemand, der trotz Rauchen oder Trinken uralt geworden ist. Kaum einem fällt dabei auf, dass die Leute, die trotz Rauchen oder Trinken uralt geworden sind, prozentual in der Minderheit sind, und viele bedeutsame Krebsrisiken, wie Übergewicht oder manche Infektionen, sind so gut wie niemandem bekannt, der nicht gerade zufällig selbst in der Krebsforschung arbeitet.
Die Entstehung von Krebserkrankungen ist auf vielen Ebenen ein statistischer Prozess (Abb. 1.3: Ebenen der Krebsentstehung). Daher bekommen wir auch keine Garantie für den Erfolg unserer Bemühungen – wir können lediglich dazu beitragen, die „Lotterie“ nicht unnötig weiter anzukurbeln. Es geht nicht darum, eine einzelne Ursache oder Schuld für eine Krebserkrankung zu finden, sondern darum, so viel Leid wie möglich zu verhindern. Anstatt uns auf sensationelle Durchbrüche in der Krebsforschung zu verlassen, sollten wir zwischenzeitlich alles in unserer Möglichkeit Stehende tun, um unserem Körper zu helfen. Und dies gelingt am effizientesten, wenn wir die Kontrollmechanismen unseres Körpers stärken oder zumindest nicht ihre Arbeit blockieren. Wir werden uns niemals völlig vor Mutationen schützen können, denn sie ereignen sich auch ganz spontan während der Zellteilung und noch viel häufiger durch natürliche, aber chemisch angriffsfreudige Nebenprodukte unseres Stoffwechsels. Wir können jedoch zu jeder Zeit unseres Lebens dazu beitragen, dass geschädigte Körperzellen durch ein gesundes Immunsystem erkannt werden und gefährliche Krebsvorläufer keine zusätzlichen Wachstumsimpulse durch „Krebsförderer“ erhalten.
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Abb. 1.3
Schutzebenen, die Mutationen durchbrechen müssen, um zur Krebsentstehung beizutragen. Gesunde Zellen müssen zunächst eine Reihe genetischer Veränderungen ansammeln, die sowohl angeboren als auch im Laufe des Lebens erworben sein können (z. B. durch Karzinogene oder oxidativen Stress). Je häufiger spontane Mutationen auftreten, desto häufiger müssen Reparaturen unternommen werden und desto höher ist das Risiko, dass dabei ein Fehler unterläuft. Damit defekte Zellen keine weiteren Abkömmlinge mehr produzieren, werden sie in den programmierten Zelltod oder in den Ruhestand geschickt. Dieser Schutzmechanismus kann in Anwesenheit von äußeren Wachstumsstimulatoren wie Entzündungen oder Wachstumshormonen versagen. Geschädigte Zellen, denen es dennoch gelingt, sich weiter zu vermehren, werden vom Immunsystem erkannt und vernichtet. Je höher die Kontrollebene, desto größer ist der Einfluss von Krebsförderern und somit unseres Lebensstils. Das Immunsystem ist als höchste Instanz besonders anfällig für den Einfluss von modernen Krebsförderern. Adaptiert aus „Timeline (4 Segments, Horizontal)“ von BioRender.com (2022b). Abgerufen von http://app.biorender.com/biorender-templates
Krebsförderer sind für die Krebsentstehung weitaus wichtiger als die meisten heiß diskutierten Karzinogene. Dennoch sind ihre Gefahren in der Gesellschaft nahezu unbekannt. Sie zu identifizieren und zu verstehen hat viele Jahrzehnte an intensiver Forschungsarbeit gekostet, was in erster Linie ihrer verschiedenen Beschaffenheit geschuldet ist. Von Sexualhormonen, wie Östrogen und Testosteron, über Wachstums- und Stoffwechselhormone, wie Insulin und IGF-1, bis hin zu dauerhaften Entzündungen oder physikalischen Reizen kann alles als Krebsförderer fungieren, was der Eliminierung von defekten Zellen entgegenwirkt. Unser Körper ist bestens auf Mutationen vorbereitet. Er erwartet sie mit einer Armee aus Reparaturenzymen und Immunzellen. Mutationen sind, unabhängig von ihrer Quelle, der Ausgangspunkt aller Krebserkrankungen – aber ohne Krebsförderer, die ihnen den geeigneten Nährboden bereiten, können nur die wenigsten Krebserkrankungen gedeihen. Nun, da wir sie kennen und ihre Wirkungsweise verstehen, müssen wir ihnen endlich die Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, die ihnen gebührt.
Wenn wir die mächtigsten Krebsförderer unserer Zeit eliminieren, können wir Krebserkrankungen rechtzeitig ihr Substrat entziehen. Wir müssen uns auch nicht mehr kampflos einem familiären und somit genetischen Risiko ergeben, wenn wir wissen, dass wir im Vorfeld viel Zeit haben, um mithilfe dieses neuen Wissens das Heranreifen von Krebserkrankungen zu verlangsamen. Selbst Menschen, die in ihrem Erbgut die Genmutation für eine bestimmte genetisch bedingte Krebsform tragen, müssen während ihrer Lebenszeit nicht zwangsweise erkranken. So lag beispielsweise das Risiko, im Laufe des Lebens an Brustkrebs zu erkranken, für Trägerinnen einer gefährlichen, für die erbliche Form von Brust- und Eierstockkrebs verantwortlichen Genmutation (BRCA1/2) vor 1940 bei lediglich 24 %. Trägerinnen der gleichen Genmutation, die nach 1940 geboren wurden, haben ein Erkrankungsrisiko von 67 %. Damit hat sich das Erkrankungsrisiko selbst bei dieser genetisch bedingten Krebsform trotz der heutigen Untersuchungsmöglichkeiten (inklusive der DNA-Analyse) inzwischen mehr als verdoppelt. Die Autoren dieser Studie mit mehr als 1000 von der Genmutation betroffenen Frauen führten die steigende Erkrankungsrate unter anderem auf Bewegungsmangel und Übergewicht zurück (King et al. 2003). Der Frage, weshalb diese häufigen Faktoren die Krebsentstehung fördern, haben wir eigene Kapitel gewidmet.
Auf den Punkt
Für die meisten Krebserkrankungen nimmt man heute an, dass sie aus einem Zusammenspiel von persönlicher genetischer Veranlagung, erworbenen genetischen Veränderungen (z. B. durch zufällige Fehler bei der DNA-Vervielfältigung und -Reparatur, Karzinogene oder oxidativen Stress) und Krebsförderern (Stoffe aus der Umwelt, Übergewicht, chronische Entzündungen oder Infektionen) hervorgehen. Die Ebene der Umwelteinflüsse wird wohl noch für lange Zeit die einzige bleiben, die wir wirklich beeinflussen können. Ein Lebensstil, der den Stoffwechsel und das Immunsystem gesund hält, leistet neben dem Vermeiden von Karzinogenen in unserer Umwelt und Nahrung den größten Beitrag zu einem krebsfreien Leben. Dieses Wissen bedeutet nicht, dass wir Schuld an einer Krebserkrankung sind. Es bedeutet, dass wir unser persönliches Krebsrisiko minimieren können, wenn wir unseren Lebensstil bereits in jungen Jahren anpassen. Es erteilt uns eine hohe Verantwortung, aber es macht auch Mut und Hoffnung, denn wir müssen uns nicht kampflos einem familiären Krebsrisiko ergeben.