In der klinischen Praxis steigt seit einigen Jahren das Bedürfnis nach einer möglichst objektiven Charakterisierung von Patienten mit psychischen Störungen, etwa durch reliable neurobiologische oder neurophysiologische Marker. Traditionelle Krankheitskategorien im Sinne von ICD- und DSM-Klassifikationssystemen bilden allerdings nicht die neurobiologischen Ursachen der psychischen Störungen ab [
51]. Die Kombination aus neuen digitalen Technologien und multidimensionalen Datensätze hat das Potenzial die diagnostische Klassifizierung psychischer Erkrankungen zu verändern [
51]. Künstliche Intelligenz [
21] und Methoden wie das „Machine Learning“ (z. B. Support-Vektor-Maschinen, moderne Algorithmen für neuronale Netzwerke oder Kreuzvalidierungsverfahren) oder „Deep Learning“ ermöglichen, hochkomplexe Datensätze aus der Klinik (subjektive Symptome und messbares Verhalten), Bildgebung (strukturelle und funktionelle Parameter) und der Genetik (genetische Hochrisikovarianten und die sog. „single nucleotide polymporphisms“) zu skalierbaren und diagnostisch verwendbaren Biomarkern zusammenzufügen. Aus der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz wird deutlich, dass die Kombination dieser Analysetechniken mit einer Fülle multimodaler Daten aus Konsortien und Repositorien das Potenzial hat, die psychiatrischen Erkrankungen nach genetischen und hirnassoziierten Parametern sowie behavioralen Dimensionen neu zu definieren und zu diagnostizieren [
51]. Ein weiteres Ziel, maschinelles Lernen und den sog. „Big-Data“-Ansatz in der klinischen Routine zu nutzen, ist die Möglichkeit, klinische Vorhersagen auf individueller Ebene zu erzielen. Das heißt, therapeutische Entscheidungen werden mithilfe multidimensionaler Daten nach Bedarf des Patienten optimiert. In der jüngsten Vergangenheit ist es mithilfe des maschinellen Lernalgorithmus LASSO (eine Methode zur linearen Regression) gelungen, einzelne Patienten mit bipolarer Störung mit einer Genauigkeit von 71 % von gesunden Probanden zu differenzieren [
52]. Andere Studien haben weniger symptombasierte Variablen verwendet (z. B. neurokognitive Daten oder Neuroimaging-Scans; [
53,
54]) und eine Genauigkeit von 94 % bei Identifikation und individualisierter Vorhersage klinischer Phänotypen erzielt. In der kürzlich erschienen longitudinalen Studie von Koutsouleris et al. [
55] an insgesamt 334 Patienten mit Psychoserisikosyndrom oder kürzlich aufgetretener Depression ließ sich mithilfe des maschinellen Lernmodells [
56], welches klinische und biologische Daten mit den Einschätzungen der Kliniker kombinierte, die Transition in eine manifeste psychotische Erkrankung in 85,9 % der Fälle korrekt voraussagen. Darüber hinaus konnte auch die reduzierte prognostische Sensitivität der Kliniker, gemessen an einer Falsch-negativ-Rate von 38,5 %, durch das sequenzielle Prognosemodell auf 15,4 % reduziert werden [
55]. Die Autoren schlussfolgerten, dass ein individualisiertes prognostisches Modell, das die künstliche und menschliche Intelligenz integriert, die personalisierte Prävention psychotischer Störungen bei Menschen mit Psychoserisikosyndromen oder kürzlich aufgetretenen Depressionen erleichtern könnte. Inzwischen sind auch individualisierte Onlinerisikorechner für die transdiagnostische Vorhersage von Psychosen in der psychiatrischen Versorgung verfügbar [
57‐
60].
Ein systematisches Benchmarking der Vorhersagbarkeit klinischer Parameter bei einzelnen Patienten kann zur Verbesserung der klinischen Symptomatik führen und das subjektive Leiden bei vielen psychischen Erkrankungen verringern [
51]. Es ist ein Paradigmenwechsel, welcher eine verbesserte Auswahl der bestehenden Therapieoptionen vorsieht (entgegen dem „Trial-and-error“-Prinzip), indem deren Wirksamkeit bei einzelnen Patienten im Sinne der Präzisionsmedizin vorhergesagt wird [
51]. Moderne, auf digitalen Technologien basierende, diagnostische Ansätze sind, kurz formuliert, in der Lage, dynamische Veränderung bei psychischen Erkrankungen zu erfassen und therapeutisch nutzbar zu machen. Obwohl in den letzten Jahren vielversprechende Ergebnisse erzielt wurden, müssen wissenschaftliche, ethische und datenschutzrechtliche Hürden bewältigt werden, bevor der Big-Data-Ansatz und die sog. digitale Phänotypisierung als Werkzeuge für die psychische Gesundheit der Bevölkerung eingesetzt werden können.