Über Mitläufer, Unterstützer und Karrieristen in der DGN

Wie eng waren führende deutsche Neurologen mit dem NS-Regime verbunden? Enger jedenfalls, als sie nach dem Kriegsende zugegeben haben. Die DGN zieht daraus Konsequenzen – einige renommierte Auszeichnungen wurden umbenannt. Vor zwei Jahren hat die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) zum letzten Mal den Heinrich-Pette-Preis vergeben, auch das Heinrich-Pette-Institut – Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie – will den Namen des DGN-Gründungsvaters nur noch bis Jahresende tragen. Die Max-Nonne-Gendenkmünze wurde 2012 zum letzten Mal verliehen, der HJ-Bauer-Rehabilitationspreis 2018, und eine Zülch-Lesung wird es auf DGN-Kongressen nicht mehr geben. Ein Grund dafür ist eine umfangreiche medizinhistorische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der DGN-Vorsitzenden, -Vorstände und -Ehrenmitglieder. Danach hat sich zwar keines der prominenten DGN-Mitglieder aus den Gründungsjahren und der Nachkriegszeit an den Verbrechen der Nationalsozialisten beteiligt, aber zum Teil deren Ideologie aktiv unterstützt. Das geht aus Berichten hervor, die in den Jahren 2016 und 2020 in zwei Sonderausgaben der Zeitschrift „Der Nervenarzt“ erschienen sind. Eine aktuelle Zusammenfassung ist nun in den „Annals of Neurology“ erschienen. Darin beschreiben Medizinhistoriker um Professor Heiner Fangerau von der Universität Düsseldorf die Verstrickungen zahlreicher Koryphäen mit dem NS-Regime. Sie nahmen im Auftrag der DGN insgesamt 28 hochrangige deutsche und österreichische Neurologen und Neurowissenschaftler unter die Lupe, von denen viele nach dem Krieg Karriere gemacht haben. Danach waren sechs der sieben DGN-Gründungsväter NSDAP-Mitglieder, 10 von 13 DGN-Präsidenten, die bis 1976 im Amt waren, gehörten zu NS-Organisationen wie SS und SA, sieben von zehn Ehrenpräsidenten hatten substanzielle Beziehungen zum NS-Staat, bei zwei Drittel der bis 1985 ernannten deutschen und österreichischen Ehrenmitglieder ließ sich eine positive Haltung zur Nazi-Ideologie nachweisen. Die allermeisten wurden bei der Entnazifizierung jedoch entlastet, einige wenige als Mitläufer kategorisiert, ein Urteil, gegen das sie häufig erfolgreich klagten. Dabei, so Fangerau und Mitarbeiter, bedienten sich die Neurologen wie viele andere Mitläufer Argumenten wie „eigentlich apolitisch zu sein, aber keine andere Wahl gehabt zu haben“, oder sie gingen in die Offensive und behaupteten, durch ihre Beteiligung Schlimmeres verhindert zu haben. Max Nonne – ein Verfechter der „Euthanasie“ Die Medizinhistoriker schauten jedoch nicht nur auf Mitgliedschaften in NS-Organisationen – dies sage wenig über ihre Einstellung zum NS-Regime aus, da viele Ärzte diesen Schritt aus strategischen und opportunistischen Gründen gewählt hätten, sie durchforsteten auch gezielt den Werdegang sowie schriftliche und mündliche Äußerungen, die Hinweise über ihre Einstellung geben konnten. Ein unrühmliches Beispiel ist Professor Max Nonne, der zuletzt am Klinikum Hamburg-Eppendorf arbeitete und, obwohl bereits 1933 emeritiert, in der Nazizeit die deutsche Neurologie als „graue Eminenz“ stark beeinflusste. Er galt lange Zeit als „der hoch verdiente und geehrte Nestor der deutschen Neurologie, dem (nicht zuletzt auch aufgrund seines Alters) keinerlei Nähe zum nationalsozialistischen Gedankengut unterstellt wurde“, schreiben Fangerau und Mitarbeiter im „Nervenarzt“. Nonne war weder in der NSDAP noch einer anderen NS-Organisation, auch machte er lange Zeit nicht durch NS-Gedankengut auf sich aufmerksam. Das Bild änderte sich im Jahr 2009, als in einer Dissertation eine „Denkschrift“ wiederentdeckt wurde. Darin äußerte sich Nonne zur Ermordung von Kindern mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen: „Z. Zt. begegnet der Gedanke, durch Freigabe der Vernichtung völlig wertloser geistig Toter eine Entlastung für unsere nationale Überbürdung herbeizuführen, vielerorts noch Widerspruch. … Es soll aber vernünftiger Aufklärung die Aufgabe gestellt werden, die Öffentlichkeit zu der Auffassung heranreifen zu lassen, dass die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern ein erlaubter, nützlicher Akt ist.“ Von dieser Ansicht wich Nonne auch nach dem Krieg nicht ab, als er als Gutachter im Hamburger Kindereuthanasieprozess 1946 die beschuldigten Ärzte verteidigte und maßgeblich zu deren Freispruch beitrug: „Das sind alles Fälle, für die ich schon seit langen Jahren eine Unterbrechung des Lebens gewünscht hatte“, wird Nonne nach Durchsicht der Akten der in der NS-Zeit ermordeten Kinder zitiert. Das Urteil wirkte sich auch auf ähnliche Prozesse aus – die beteiligten Ärzte wurden in der Regel freigesprochen. 1949 hielt es Nonne in einer Stellungnahme für „mit der medizinischen Wissenschaft vereinbar, unheilbar missgebildete idiotische Kinder in Anstalten zu töten“. Auf der anderen Seite hat sich der Neurologe auch für jüdische Kollegen eingesetzt, die nach 1933 emigrieren mussten – und ebenso nach 1945 für Kollegen mit NS-Vergangenheit. Persönliche Beziehungen und Überzeugungen waren ihm offenbar wichtiger als die gerade vorherrschenden politischen Einstellungen. Nonne war Ehrenpräsident der DGN bis 1959, die Max-Nonne-Gendenkmünze wurde zwischen 1961 und 2012 verliehen. Heinrich Pette: Mitläufer und Opportunist Deutlich schwieriger ist die Einordung von Professor Heinrich Pette. Der Neurologe war zunächst Assistent bei Max Nonne und wurde auf dessen Betreiben 1934 sein Nachfolger am Neurologischen Klinikum Eppendorf. Pette leitete ab 1935 zudem die Neurologische Abteilung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (GDNP). Nach dem Krieg war er maßgeblich an der Gründung der DGN beteiligt und konnte seine Position als Leiter der Neurologischen Klinik Eppendorf bis zu seiner Emeritierung 1958 fortführen. Dabei wurde er zu einem international beachteten Virologen und Polio-Experten. Pette trat bereits im Mai 1933 in die NSDAP ein. „Zwar war ein solcher Schritt für einen Hochschullehrer oder Arzt nicht zwingend, aus Karrieregründen aber von Vorteil“, schreiben die Medizinhistoriker um Fangerau. Sie vermuten unter anderem eine strategische Entscheidung: Pette machte sich berechtigte Hoffnung auf die Nonne-Nachfolge und wollte wie viele andere auch die formale Zustimmung zum neuen Staat bekunden. Weiteren NS-Organisationen trat der Arzt nicht bei, er unterzeichnete aber das des „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. Ob auch dies eine strategische Entscheidung war oder Ausdruck seiner politischen Überzeugung, lasse sich nur schwer sagen. „In Pettes wissenschaftlichem Werk haben ‚rassenhygienische‘ oder ‚erbbiologische‘ Themen insgesamt wenig Bedeutung“, so Fangerau und Mitarbeiter, allerdings schwor er auf seiner Eröffnungsansprache zur ersten GDNP-Jahresversammlung die Neurologen auf die NS-Gesundheitspolitik ein: Neurologen hätten die Pflicht „zur Mitarbeit an den Aufgaben, die der neue Staat uns als Ärzten und Forschern aus einem besonders wichtigen Gebiet der Medizin übertragen hat“. Ab Mitte der 1930er-Jahre fiel er mit wissenschaftlicher Kritik an Vererbungstheorien auf, Pette sah wenig Hinweise auf ein erbliches Risiko bei MS, Epilepsie und Hirntumoren, war gleichzeitig als Gutachter für das Erbgesundheitsobergericht tätig und scheint sich hier oft gegen eine „Erbepilepsie“ ausgesprochen zu haben, was den Betroffenen eine Zwangssterilisation ersparte. In anderen Fällen soll er sich jedoch auch explizit für die „Erbepilepsie“ und damit die Sterilisation ausgesprochen haben. Im Entnazifizierungsverfahren versuchte er sich zu rechtfertigen, dass er „nur“ in 15 von 72 Fällen eine erblich bedingte Epilepsie bestätigt habe. „Pette war kein Gegner des Erbgesetzes, sondern Gegner einer leichtfertig diagnostizierten erblichen Epilepsie“, schreiben die Medizinhistoriker um Fangerau. Eine kritische Distanz zum NS-Staat, wie sie Pette nach dem Krieg in den Vordergrund stellte, können die Historiker nicht erkennen, er habe vielmehr als Verbandspolitiker im NS-Staat gute Beziehungen zu den Herrschenden gepflegt. Wohl auch aus solchen Gründen wurde er bei der Entnazifizierung zunächst als „Mitläufer“ eingestuft. Dies hätte seine Karriere beendet, er versuchte sich darauf als Oppositioneller darzustellen, der als einer der „ersten den Kampf gegen die Euthanasie“ aufgenommen habe. Obwohl er dafür wenig Belege vorlegte und eher zweifelhafte Fürsprecher aufbot, konnte er schließlich eine Entlastung erreichen, berichten die Historiker. Ein solches Umschreiben und Neuinterpretieren der eigenen Geschichte war unter den neurologischen Koryphäen nach 1945 eher die Regel als die Ausnahme, so die Experten. Doch dürfen wir fast 80 Jahre später bei ihrer Beurteilung die heutigen ethischen Maßstäbe anlegen? Steht nicht auch immer die Frage im Raum, wie wir uns an ihrer Stelle damals verhalten hätten? Für die Medizinhistoriker lässt sich diese Frage aus der Distanz jedoch nicht beantworten. Viel wichtiger sei daher die Frage: Wie hätten wir uns verhalten sollen? Die DGN hat mittlerweile alle Preise und Ehrungen umbenannt, die im Namen von Koryphäen aus der NS- und Nachkriegszeit vergeben wurden. Geblieben ist lediglich der Robert-Wartenberg-Preis. Wartenberg floh 1936 vor den Nationalsozialisten in die USA.

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