Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Anamnese
Die notfallmäßige Vorstellung des 23-jährigen Patienten erfolgte aufgrund einer ca. 90 min zuvor spontan und hyperakut aufgetretenen Paraparese. Der als Getränkelieferant tätige Patient hatte am Morgen noch vor dem ersten Einsatz beim Autofahren ein kurzes Stechen an der linken Oberschenkelrückseite bemerkt, sodass er zunächst vermutet hatte, dass er einen Insektenstich erlitten habe. Wenige Minuten später haben sich plötzlich eine Gefühlsstörung und ein Schwächegefühl der Beine entwickelt. Die Rettungskräfte hatten festgestellt, dass der Patient nicht mehr selbst laufen konnte. Nun bestünden keine Schmerzen mehr. Es ließ sich kein assoziiertes Trauma ermitteln. Die präklinische orientierende Untersuchung war bis auf das neurologische Defizit unauffällig verblieben, insbesondere eine Puls- oder Blutdruckdifferenz habe nicht vorgelegen. Die Vorgeschichte des Patienten war nicht wegweisend. Der Patient studierte angewandte Chemie und trieb regelmäßig Rugbysport.
Klinische Untersuchung
Die klinische Untersuchung zeigte ein inkomplettes Querschnittssyndrom mit hochgradiger rechtsbetonter sensomotorischer Paraparese mit höhergradiger Parese bzw. Plegie ab L3 und taktiler Hypästhesie der Dermatome L3–S2 mit ca. 50 % Restempfinden. Die Beine konnten nicht von der Unterlage angehoben werden. Der Patellarsehnenreflex war nur rechts erhältlich, und die Achillessehnenreflexe waren erloschen. Es zeigten sich keine Pyramidenbahnzeichen. Es bestand ein Harnverhalt. Die Vitalparameter, einschließlich der bilateralen Blutdruckmessung, waren unauffällig.
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Erste Befunde
Die notfallmäßig durchgeführte kontrastmittelgestützte Magnetresonanztomografie (MRT) des gesamten Myelons zeigte keine relevanten Pathologien. Unter der Verdachtsdiagnose einer ischämischen Myelopathie wurde eine kontrastmittelgestützte CT-Angiografie der Aorta ergänzt. Diese zeigte einen limitierten intimalen Einriss der infrarenalen Aorta abdominalis mit ventraler Ausrichtung und ca. 3 cm kraniokaudaler Ausrichtung, jedoch keine assoziierte Flusslimitation oder Stenosierung der dargestellten Arterienabgänge. Es fanden sich keine Hinweise auf ein intramurales Hämatom oder eine Aortitis. Unmittelbar kranial der Intimaverletzung zeigten sich 3 linksseitige Nierenarterien (Abb. 1).
Abb. 1
CT-Angiografie der thorakoabdominalen Aorta mit limitiertem Einriss der infrarenalen Aorta, a koronar, b transversal, c sagittal
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Therapie und Verlauf
Der bildgebende Nachweis einer aortalen Verletzung stützte die Verdachtsdiagnose einer ischämischen Myelopathie. Trotz des günstigen Zeitfensters wurde auf eine systemische Lysetherapie verzichtet, da ein potenziell lebensbedrohlicher Progress der Aortenpathologie zu befürchten war. Die Gefäßchirurgie sah in Anbetracht des geringen Gefäßbefundes und des unbeeinträchtigten Blutflusses in den größeren Gefäßen keinen chirurgischen Therapieansatz. In sekundärprophylaktischer Absicht wurde ASS 100 mg verordnet. Aufgrund des Harnverhalts wurde ein transurethraler Urinkatheter angelegt. Der Patient wurde stationär auf der Stroke-Unit zur weiteren Diagnostik und Therapie aufgenommen. Da keine sekundäre Verschlechterung oder andere Komplikationen auftraten, konnte der Patient bereits nach 3 Tagen hausintern verlegt werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Paraparese tendenziell gebessert, und eine bilateral kräftige Kniestreckung war erkennbar.
Die elektrophysiologische Diagnostik an Tag 5 zeigte unauffällige Latenzen für die somatosensorisch evozierten Potenziale (Medianus: N20 18,2 ms beidseits, Tibialis: P40 39,6 ms links, 40,0 ms rechts). Die motorisch evozierten Potenziale zu den Beinen zeigten eine verlängerte zentrale motorische Latenz und eine zeitliche Dispersion im Vergleich zur lumbalen Stimulation (links 19,4 ms, rechts 19,5 ms) (Abb. 2). Die motorisch evozierten Potenziale an den Armen und die Elektroneurografien der Beine (N. tibialis rechts, Nn. surales) waren erwartungsgemäß unauffällig. Die erneute spinale MR-Tomografie an Tag 13 zeigte ein neu abgrenzbares Myelopathiesignal des kaudalen Myelons und des Conus medullaris ab Höhe des BWK12 mit deutlichen Signalanhebungen sowohl der anterioren als auch der posterioren grauen Substanz. Die MR-Angiografie der Aorta zeigte keinen Progress der aortalen Intimaverletzung. Eine Liquordiagnostik wurde seitens des Patienten abgelehnt (Abb. 3).
Abb. 2
Exemplarische elektrophysiologische Untersuchungen an Tag 5 nach dem Initialereignis, a unauffällige somatosensibel evozierte Potenziale (N. tibialis), b motorisch evozierte Potenziale (M. tibialis anterior) mit verlängerter zentraler motorischer Latenz und rechtsbetonter Chronodispersion bei kortikaler Stimulation
Abb. 3
Spinale MRT-Bildgebung. Nachdem sich das kaudale Myelon initial noch unauffällig zeigte (a), zeigte sich an Tag 13 ein neues Myelopathiesignal des Conus und der Cauda medullaris mit T2-Signalanhebungen der grauen Substanz und einem leichtgradigen Myelonödem (b und c)
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Erfreulicherweise verbesserte sich der klinische Zustand des Patienten während der 2‑wöchigen Frührehabilitation weiter. Es bestanden noch leichte distale Paresen der unteren Extremitäten. Mithilfe einer Gehhilfe war der Patient auf Stationsebene mobil. Der transurethrale Urinkatheter konnte entfernt werden. Der Patient wurde zur Anschlussheilbehandlung in ein spezialisiertes Querschnittszentrum verlegt.
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Diskussion
Die spinale Ischämie ist eine seltene Erkrankung, die 0,3–1 % der Ischämien des zentralen Nervensystems ausmacht [1]. Spinale Ischämien treten häufig im Zusammenhang mit operativen oder interventionellen Eingriffen an der Aorta auf [3, 4]. Bei spontanen spinalen Ischämien sind ebenfalls Aortenpathologien die häufigste Ursache [5, 6]. Alternativ können Dissektionen der Vertebralarterien, spinale Gefäßmalformationen sowie atherosklerotische oder embolische Ereignisse verantwortlich sein [3]. Lokal raumfordernde Prozesse können durch Kompression eine sekundäre Ischämie verursachen [3]. Auch im Rahmen systemischer Erkrankungen wie der systemischen Hypotonie (z. B. kardiogener Schock), Erkrankungen mit Hyperkoagulabilität oder Thrombophilie (z. B. Polycythämia vera) sowie Vaskulitiden können spinale Ischämien auftreten [3, 7]. Seltener sind Ursachen wie fibrokartilaginäre Embolien, die Taucherkrankheit, maligne intravaskuläre Lymphomatose, Meningokokkenmeningitis oder die sog. Surfermyelopathie [3, 8, 9]. Im vorliegenden Fall vermuten wir eine Thrombembolie, die sich im Bereich der Intimaverletzung der Aorta gebildet hatte. Die Ätiologie der Aortenpathologie blieb unklar. Weder klinisch noch anamnestisch ergaben sich bei diesem jungen Patienten Hinweise für eine hereditäre Bindegewebserkrankung wie das Marfan- oder das Ehlers-Danlos-Syndrom. Ein Zusammenhang mit einem nicht erinnerlichen Trauma im Rahmen des Rugbysports bleibt rein spekulativ.
Abseits der spinalen Ischämie sind bei der Differenzialdiagnose des hyperakuten spinalen Syndroms traumatische und/oder kompressive Pathologien, spinale Blutungen sowie toxische Myelopathien durch Stickstoffdioxid oder Kokain zu bedenken. Abhängig vom klinischen Befund ist außerdem eine funktionelle neurologische Störung zu erwägen [3].
Klinisch manifestiert sich die spinale Ischämie durch ein hyperakut bis subakut auftretendes spinales Syndrom, das sich je nach Infarktlokalisation mit Para(oder Tetra-)parese mit variablen sensiblen Defiziten und autonomen Funktionsstörungen präsentiert [3, 7]. Auch lateralisierte Varianten können auftreten [5]. Häufig – wie auch im vorliegenden Fall – ist die Symptomatik initial von radikulär ausstrahlenden Schmerzen begleitet [3]. Im Allgemeinen sind thorakolumbale Ischämien häufiger als Ischämien des Halsmarks [1]. Das klassische Spinalis-Anterior-Syndrom ist durch eine akut auftretende Paraparese und eine Störung der protopathischen Sensibilität kaudal des Läsionsortes gekennzeichnet [5]. Harnverhalt und Sphinktertonusverlust treten vor allen Dingen bei Läsionen des Conus medullaris auf, hohe zervikale Läsionen können Blutdruckregulationsstörungen und Bradykardien nach sich ziehen [7]. Die Symptomatik des Patienten mit inkomplettem Querschnittsyndrom ab L3 mit autonomer Beteiligung deckt sich gut mit der bildmorphologischen Läsion von Conus und Kauda. Die Beteiligung des zweiten Motoneurons bedingte den ungewöhnlichen Befund mit Reflexverlust und fehlenden Pyramidenbahnzeichen.
Es steht keine evidenzbasierte spezifische Therapie der spontanen spinalen Ischämie zur Verfügung. Es existieren Fallsammlungen, die nahelegen, dass eine systemische Lysetherapie in Einzelfällen sicher angewendet werden kann [16]. In der Aortenchirurgie wird oft, z. T. auch in prophylaktischer Absicht, eine transiente Liquordrainage angelegt, um den durch die Operation erhöhten Liquordruck zu senken und damit indirekt den spinalen Perfusionsdruck zu erhöhen [17, 18]. Allerdings bleibt dieses Therapieverfahren aufgrund der limitierten Evidenz umstritten [19, 20].
Auch wenn es keine systematischen Untersuchungen zur Prognose dieser seltenen Erkrankung gibt, verbessert sich der Zustand der Betroffenen im Vergleich zum Aufnahmebefund meist signifikant [4]. In einer norwegischen Fallsammlung gaben bis zu 2/3 bei einer telefonischen Nachbefragung an, wieder laufen zu können [21]. Dennoch kommt es bei einem relevanten Anteil der Fälle allenfalls zu einer partiellen Besserung, v. a. wenn initial ein (sub-)totales Querschnittssyndrom vorlag [4]. Insbesondere Betroffene mit einer Läsion des mittleren Thorakalmarks (T4–T8) scheinen eine schlechtere Prognose aufzuweisen [7].
Fazit für die Praxis
Die spinale Ischämie ist eine seltene Erkrankung, aber eine wichtige Differenzialdiagnose hyperakuter spinaler Syndrome. Eine umgehende Diagnosesicherung und Ursachensuche sind daher immanent wichtig und bestimmen den weiteren Verlauf.
Je nach Läsionsort kann eine spinale Ischämie auch ein eher peripher neurologisches Bild mit Reflexverlust und fehlenden Pyramidenbahnzeichen hervorrufen.
Die dezidierte Darstellung der Aorta ist ein essenzieller Bestandteil der Notfalldiagnostik, insbesondere vor einem Heilversuch mittels systemischer Lysetherapie. Ein seitengleicher Blutdruck und allseits vorhandene Pulse schließen eine Aortenverletzung nicht aus.
Die Prognose spinaler Ischämien ist besser als ihr Ruf. Der klinische Befund bessert sich oft deutlich im Verlauf.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
G.A. Brandt und H. Stetefeld geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
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