1 Einleitung
Der Rettungsdienst in Deutschland sieht sich mit großen Herausforderungen konfrontiert. Fachkräftemangel, Einflüsse des demografischen und gesellschaftlichen Wandels und abnehmende Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung bei zeitgleich hoher Erwartung erschweren die primäre Aufgabe der Notfallrettung [
4]. Nur durch zielgerichteten Einsatz der Ressourcen und eine Einbeziehung aller beteiligten Berufsgruppen kann einer vermeintlichen Unterversorgung der Bevölkerung begegnet werden [
1].
Der Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege hat in seinem Gutachten von 2018 „Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung“ mit Blick auf die Notfallversorgung festgestellt: „Viele Hinweise legen nahe, dass die Versorgung nicht bedarfsgerecht erfolgt. Ambulant gut behandelbare Patienten nehmen vermehrt direkt den Rettungsdienst und die Kliniken in Anspruch und blockieren so mit vergleichsweise harmlosen Beschwerden spezialisierte Behandlungskapazitäten“ [
44].
Die Empfehlungen der Regierungskommission machen deutlich, dass eine stärkere Fokussierung von Notarzteinsätzen notwendig ist, die zeitgleich mit gestiegenen Qualifikationsanforderungen der Notärzte einhergeht und zusätzlich qualifizierten Notfallsanitätern eine zielgerichtete und fallabschließende Patientenversorgung ermöglicht [
41].
Bereits vor mehr als 20 Jahren erforderten weit weniger als 20 % der Notarzteinsätze tatsächlich eine notärztliche Intervention [
43], dieser geringe Anteil blieb bis in die heutige Zeit weitgehend stabil [
40]. Interessanterweise schätzen selbst notärztliche Kollegen, dass sie nur in 11 % der Einsätze erforderlich sind [
3]. Dementgegen steht eine noch immer hohe Notarztnachforderungsquote durch Rettungsfachpersonal, die beispielsweise in Bayern und Baden-Württemberg relativ konstant bei 23 % liegt [
30,
51].
Zweifellos gab es immer den schwer kranken oder verletzten Patienten, der von der Erstversorgung durch einen erfahrenen Notarzt profitiert, und es wird ihn auch immer geben [
56]. Metaanalysen belegten den Vorteil einer notärztlichen Behandlung [
6,
33]. Es bleibt offen, ob hier kognitive Eigenschaften (Wissen etc.) oder manuelle Fertigkeiten (oder beides) im Vordergrund stehen. Auch die verbesserte „Teampower“, also der Effekt von „mehr Händen“ [
36,
37] könnte eine Rolle spielen. Bei hochstandardisierten Prozessen mit nur wenig ärztlichem Entscheidungsspielraum, wie beispielsweise bei der Reanimation, zeigen andere Studien, allerdings in anderen Ländern, d. h. in einem anderen Setting, keinen relevanten Unterschied zwischen der Versorgung mit oder ohne Notarzt [
3].
Zudem ist es schwierig, anhand eines durch Laien übermittelten Meldebilds sicher zu entscheiden, ob die primäre Disposition eines Notarztes gerechtfertigt ist oder nicht. Auch automatisierte Notrufabfragesysteme konnten noch zu keiner entscheidenden Verbesserung führen. Die Rolle der künstlichen Intelligenz wird derzeit evaluiert [
18]. Im Zweifel erfolgt die Notarztdisposition daher auch heute noch eher großzügig, vielleicht auch aus Furcht vor juristischen Konsequenzen. Dieses liberale Dispositionsverhalten, zusammen mit einer immer schlechter werdenden Besetzungsquote der Notarztstandorte v. a. in der Fläche, überfordert zunehmend die rettungsdienstlichen Strukturen. Leider hat „der nächste“ Patient im Rettungsdienst nach wie vor keine Lobby und muss auch im vital bedrohlichen Notfall immer wieder lange Wartezeiten in Kauf nehmen, wenn das eigentlich für ihn zuständige Rettungsmittel mit einem „Low-Code“-Fall belegt ist [
54].
Es scheint an der Zeit, das System „Rettungsdienst“ weiterzuentwickeln: Nur durch die offensiv-taktische Beachtung moderner Managementprinzipien, wie der Ressourceneffizienz bei eingesetztem Material und Personal, der (berufs‑)lebenslangen Förderung und Bindung der Mitarbeitenden und der Einbindung spezialisierter und erfahrener (Not‑)Ärzte in der Versorgung definierter Verletzungs- oder Erkrankungsmuster, wird es möglich sein, eine hochqualitative Notfallpatientenversorgung in Deutschland langfristig und nachhaltig sicherzustellen.
2 Die zentrale Rolle der Leitstelle und der gezielten Ressourcensteuerung
Wie in den Empfehlungen der Regierungskommission beschrieben und in der täglichen Arbeit im Rettungsdienst zu beobachten, kommt der Leitstelle bei der Steuerung der Reaktionsmöglichkeiten der Notfallversorgung eine zentrale Rolle zu. Neben den klassischen notärztlich oder mit Notfallsanitäter besetzten Rettungsmitteln müssen die Reaktionsmöglichkeiten der Leitstelle um den Einsatz von (Notfall‑)KTW, Gemeindenotfallsanitätern, KV-Ärzten, sozialpsychiatrischen Diensten, spezialisierter ambulanter Palliativversorgung, Notfallpflegedienst und die Vergabe von Terminen in Notfallpraxen sowie zukünftig verstärkt um telemedizinische Systeme o. Ä. erweitert werden. Diese Vorgehensweise hat bereits der Sachverständigenrat der Gesundheitsversorgung 2018 empfohlen [
44].
Zusätzlich muss das System durch Ersthelfer-Apps gestärkt werden, da dadurch insbesondere bei der Reanimation das therapiefreie Intervall verkürzt werden kann [
53].
Nicht jeder Hilfesuchende muss notwendigerweise innerhalb von wenigen Minuten mit Sonderrechten erreicht werden, nicht jeder Patient muss ins Krankenhaus und nicht immer ist die Notfallrettung (RTW mit oder ohne Notarzt) der richtige Ansprechpartner. Mit gezielter Disposition geeigneter Ressourcen lässt sich dem Fachkräftemangel begegnen, das System entlasten und die Mitarbeiterzufriedenheit verbessern.
Aktuell muss der Hilfesuchende selbst beurteilen, wie dringlich das medizinische Problem ist, dazu fehlt jedoch in vielen Fällen die notwendige Gesundheitskompetenz [
28,
50]. Das Versorgungssystem muss diese individuellen Einschätzungen soweit möglich objektivieren und adäquate Reaktionsmöglichkeiten bereithalten. Um diese Beurteilung in professionelle Hände zu geben, muss die Leitstelle als Gatekeeper im Sinne einer Verteilungs- und Steuerungsfunktion fungieren können. Um das zu erreichen, müssen die Notrufnummern 112 und 116117 eng vernetzt und eine digitale Übergabe der Datensätze möglich sein. Außerdem sollte die Notrufabfrage standardisiert erfolgen. Eine erforderliche ärztliche Behandlung muss nicht immer in der gleichen Dringlichkeit erfolgen und auch nicht ausschließlich notärztlich sein; vielmehr kann sie auch aus dem – ggf. verpflichtend disponierten – ambulanten Sektor bzw. den o. g. Unterstützungsstrukturen wahrgenommen werden. Wenn durch die aktuelle gesetzliche Grundlage der Hausbesuchsdienst der KV nicht verpflichtend durch die Leitstellen disponiert werden kann bzw. die Entscheidung über einen Hausbesuch beim jeweiligen KV-Arzt liegt, muss das System anhand transparenter Qualitätskriterien evaluiert und angepasst werden. Die Substitution fehlender Ressourcen in einem Bereich darf nicht regelhaft zur Belastung anderer Bereiche führen. Dies gilt beispielsweise auch für die Durchführung von Krankentransporten durch hochqualifizierte RTW, wenn im Krankentransportsektor Fahrzeuge oder Personal fehlen [
11]. Dies beeinträchtigt die Wirtschaftlichkeit und die Mitarbeiterzufriedenheit als auch die Verfügbarkeit für den „echten“ Notfall [
30]. In diesem Zuge sollte die Notwendigkeit eines RTW-Indikationskatalogs dringend geprüft werden.
Um die Abfrage- und Dispositionsprozesse der Leitstellen kontinuierlich verbessern und an die zu disponierenden Ressourcen gezielt anpassen zu können, müssen Rückmeldungen von den initial eingesetzten Einsatzkräften und Ergebnisse zum Zeitpunkt des Fallabschlusses systematisch erhoben und berücksichtigt werden. Hierdurch kann sowohl die Einschätzung und Disposition in der Leitstelle als auch die Ergebnisqualität kontinuierlich verbessert werden [
35]. Um diese Aufgaben qualifiziert durchführen zu können, muss der Leitstellendisponent eine gesonderte, einheitliche Ausbildung erhalten, was die Forderung nach einem definierten Berufsbild rechtfertigt.
3 Akademisierung von Notfallsanitätern: Chancen zur Schließung von Versorgungslücken und Attraktivitätssteigerung im Rettungsdienst
Notfallsanitäter sind bereits heute umfassend ausgebildet [
25]. Ihr curriculares Wissen ist weniger breit und tief als das des Arztes nach einem Medizinstudium (1920 vs. 5500 h strukturierter Unterricht), aber die Berufsausbildung erfolgt v. a. handlungsorientiert, die gelehrten Skills dienen dem akuten Gefahrenmanagement, der präklinischen Lebensrettung und der Abwehr schwerer gesundheitlicher Schäden [
8,
19,
27,
38]. Im Rahmen der „2c-Delegation“ durch verantwortliche Ärzte können genau vordefinierte Zustandsbilder vollumfänglich abgearbeitet und so notärztliche Ressourcen geschont werden [
45]. Die begrenzte Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde für die „2a-Maßnahmen“ (§ 2a NotSanG) sorgt mittlerweile auch außerhalb der Delegation für Rechtssicherheit. Auch der Notfallsanitäter kann im Laufe seines Berufslebens viel Erfahrung mit akuten Notfällen sammeln, aber sein „klinischer Blick“ dürfte gegenüber dem des in gesamter Breite klinisch erfahrenen Arztes unvollständig bleiben, allerdings auch weil der Fokus und die Erfahrung – aufgrund der Zielformulierungen des NotSanG – vorrangig auf die Gefahrenabwehr, die Lebensrettung sowie die Abwehr schwerer gesundheitlicher Schäden ausgerichtet sind [
15].
Trotz einer anhaltend hohen Nachfrage nach der Berufsausbildung zum Notfallsanitäter gelingt es derzeit nur unvollständig, die Mitarbeitenden langfristig im Rettungsdienst zu binden, wobei führend zu viele Bagatelleinsätze, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten und zu wenige Befugnisse ausschlaggebend sind [
22]. Dabei trifft der generelle Personalmangel im Rettungsdienst auf steigende Einsatzzahlen [
26]. Tatsächlich unterscheidet sich aufgrund der föderalistischen Regelung des Rettungsdiensts trotz klarer Formulierungen des NotSanG das Tätigkeitsprofil aktiver Notfallsanitäter regional teils stark. Auf der anderen Seite ist aus interner Qualitätssicherung großer Rettungsdienste bekannt, dass die Befugnisse nicht von allen Notfallsanitätern ausgeschöpft werden.
Unter Berücksichtigung der Neunten Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission zur Reform der Notfall- und Akutversorgung und Empfehlung zur Akademisierung von Notfallsanitätern ergeben sich folgende Möglichkeiten und Notwendigkeiten für deren Einsatz in der Patientenversorgung:
1.
Die bereits bestehende Versorgungslücke durch Hausärzte und KV-Notdienste [
17]
2.
Eine mögliche Versorgungslücke in der rettungsdienstlichen Versorgung durch Notärzte, wenn tatsächlich eine Fokussierung der notärztlichen Tätigkeit auf real lebensrettende und komplex-invasive Patientenversorgung stattfindet und damit die Schwelle für eine Notarztindikation deutlich ansteigt
Akademisch qualifizierte Sanitäter haben sich international bereits als kompetente Bestandteile des Versorgungssystems bewährt [
52]. Der Blick in andere bereits (teil-)akademisierte Heilberufe wie die Pflege zeigt eine höhere Berufszufriedenheit, höhere Patientensicherheit und reduzierte Sterblichkeit im Vergleich zu nicht akademisierten Pflegekräften [
1,
2,
21,
39]. Dieser Schritt könnte auch für Deutschland ein Vorbild sein, auch wenn die Gesundheitssysteme anderer Länder nur schwer mit dem deutschen System zu vergleichen sind.
Für die unter 1. beschriebene Versorgungslücke sogenannter „Low-Code“-Einsätze („general/primary response“ [Krise]) gibt es bereits funktionierende Projekte und Qualifizierungsangebote wie beispielsweise den Gemeindenotfallsanitäter oder das Rettungseinsatzfahrzeug, welche unnötige RTW-Einsätze reduzieren und eine bedarfsgerechte Versorgung oder Zuweisung von sogenannten „Low-Code“-Einsätzen ermöglichen sollen [
49]. Diese Qualifizierungen könnten Inhalt eines
Bachelor-Notfallsanitäters sein, welcher an Hochschulen qualifiziert wird. Erste Beispiele dazu finden sich z. B. in Bayern [
55].
Da nicht zu erwarten ist, dass alle Notfallsanitäter eine akademische Laufbahn einschlagen werden, bietet sich der Blick in andere Länder an, die gute Erfahrungen mit einem modularen Aufbau haben. Initial wird die Ausbildung absolviert und erst nach dem Erwerb entsprechender Berufserfahrung kann ein weiterführendes Studium begonnen werden, evtl. auch durch ein Auswahlverfahren selektiert [
52].
Für die unter 2. beschriebene Versorgungslücke sogenannter „High-Code“-Einsätze („emergency response“ [Notfall]) liegt die Lösung nicht darin, das Versorgungsspektrum aufzudehnen, sondern darin, die aktuell angedachten Möglichkeiten vollumfänglich auszuschöpfen. Die vorhandene Befugnis vorausgesetzt, gibt es derzeit keine validen Daten, warum dies nicht der Fall ist – möglich wäre eine Unsicherheit in Maßnahmen und dem System, was sich perspektivisch durch einen wachsenden Anteil der 3‑jährig ausgebildeten Notfallsanitäter ändern könnte, allerdings auch durch eine umfassendere Qualifizierung am Patienten und fortführende Trainings. Da invasive diagnostische und therapeutische Maßnahmen und Interventionen nicht ausschließlich im Rahmen der präklinischen Notfallversorgung erlernt und behalten werden können, wäre klinische Ausbildung für eine hohe Qualität unabdingbar, sodass hier ein weiterführendes Masterstudium an einer medizinischen Fakultät denkbar wäre.
Es ist nicht anzunehmen, dass der studierte Notfallsanitäter wie bisher seinen Dienst einzig auf dem Rettungswagen verrichtet. Wie der konkrete Arbeitseinsatz dann aussieht, welches Einsatzmittel ihn bei welcher Indikation zum Patienten bringt und wie wiederum die Interaktion mit Notärzten aussieht, wird Gegenstand weiterer Gestaltungsprozesse sein. Denkbar wäre, dass für die Patientenversorgung akademisierte Notfallsanitäter bei gegebener Indikation allein oder zusätzlich zu einem Rettungswagen anfahren und ansonsten Tätigkeiten wie Ausbildung, Qualitätssicherung etc. nachgehen.
Die Akademisierung von Notfallsanitätern in der Patientenversorgung könnte dazu beitragen, zukünftig Versorgungslücken zu schließen und das Berufsbild gleichzeitig attraktiver und mit Perspektiven weiterzuentwickeln. Dadurch könnte es zudem gelingen, qualifiziertes Personal im Rettungsdienst zu halten.
4 Zukunft des Notarztdiensts: Anpassung der Kompetenzen und Integration des Telenotarztes im Rettungsdienst
Die Rolle des Notarztes muss in einem sich verändernden gesellschaftlichen, gesundheitspolitischen und rettungsdienstlichen Umfeld komplett überdacht und angepasst werden. War man vor 85 Jahren noch davon überzeugt, allein das Medizinstudium qualifiziere zur Hilfe im Notfall [
32], geht es im deutschen Rettungsdienst heute um echte Handlungskompetenz. Hier schneiden Ärzte mittlerweile nicht mehr automatisch besser ab als ihre gut ausgebildeten und trainierten nichtärztlichen Partner. Trotzdem suggerieren die Curricula ärztlicher Weiterbildung und die Gesetzgebung nach wie vor unbeirrt, zwei Jahre ärztlicher Berufserfahrung und ein 80-stündiger Vorbereitungskurs reiche aus, um sich als „Notarzt“ an die Spitze der rettungsdienstlichen Eskalationsstrategie zu setzen. Entsprechend uneinheitlich ist bis heute die tatsächliche Qualifikation des am Notfallort eintreffenden Arztes [
5,
29,
42]: An manchen Standorten, insbesondere auf Luftrettungsmitteln, ist der Notarztdienst Facharztaufgabe, andere wiederum interpretieren die Notarztrolle weiterhin als „(…) Warteposition für junge, unerfahrene Mitarbeiter (…)“, um Erfahrung zu sammeln, in aller Regel ohne Back-up. Dies wird weder lerntheoretischen Erkenntnissen noch den Anforderungen eines echten Notarzteinsatzes gerecht. [
23,
24].
Perspektive Telenotarzt
Die Einrichtung eines sog. „Telenotarztes“ findet auch in Deutschland berechtigterweise zunehmend Beachtung [
32]. Hierbei fungiert ein langjährig erfahrener Fach- und Notarzt als fernmündlicher Berater sowohl für Notfallsanitäter als auch für den Notarzt vor Ort, der Fachlichkeit und klinische Erfahrung einbringen und auf elektronischem Wege auf das gesamte weltweit verfügbare Wissen (z. B. Leitlinien, Nachschlagewerke) zugreifen kann. Bezüglich der Skills ist er auf die Kompetenzen des Teams vor Ort angewiesen, er kann sich technisch bedingt ausschließlich audiovisuell und nur innerhalb eines begrenzten Ausschnitts in der Einsatzrealität orientieren. Seine Möglichkeiten, die Situation in ihrer Gesamtheit zu erfassen (Emotionen, Angehörige, Geruch, häusliches Umfeld etc.), sind damit ebenso begrenzt wie seine Möglichkeiten, den „klinischen Blick“ einzusetzen. Auch in unübersichtlichen und/oder hochdynamischen Situationen (Verkehrsunfall, Kindernotfall mit vitaler Bedrohung etc.) stößt das System „Telenotarzt“ an seine (technischen) Grenzen [
10,
48]. Trotz dieser Einschränkungen hat die Telenotarzteinführung u. a. zur Qualitätssteigerung in der Versorgung und zur Verbesserung der Verfügbarkeit des Präsenznotarztes geführt [
10].
Perspektive Präsenznotarzt
Die zunehmende Etablierung des Systems „Telenotarzt“ in Deutschland lässt eine Änderung der Dispositionsstrategie und damit auch der Struktur des Präsenznotarztsystems erwarten: Steht flächendeckend ein Notfallsanitätersystem mit ausreichenden Skills zur Stabilisierung der Vitalfunktionen zur Verfügung, das ohne Zeitverzögerung durch telenotärztliche Expertise ergänzt werden kann [
48], wird dieses Team wohl künftig häufiger den Notarzt vor Ort ersetzen und entsprechende Zustandsbilder final abarbeiten können. Die Tätigkeit des Präsenznotarztes könnte sich somit zunehmend auf diejenigen Fälle beschränken, bei denen wirklich flexible, schnell abrufbare notärztliche Handlungskompetenz erforderlich ist. Infrage kommen z. B. Situationen wie
-
akut lebensbedrohliche ABCD-Probleme mit (potenziell) hoher Dynamik (z. B. Reanimation, Anaphylaxie, Epiglottitis),
-
seltene Zustandsbilder (z. B. hypothermer Patient),
-
MANV/E,
-
schwerer Verkehrsunfall/Polytrauma,
-
vital bedrohlicher Kindernotfall
-
Geburt,
-
repositionspflichtige Fraktur/Luxation (Analgesie, Reposition),
-
lebensbedrohliche Herzrhythmusstörung,
-
Intoxikation mit Bewusstlosigkeit und/oder Ateminsuffizienz und
-
unklare Situationen, die einen „klinischen Blick“ fordern.
Es ist zu erwarten, dass das Präsenznotarztsystem der Zukunft von weniger, eher zentral gelegenen Standorten aus bedient werden wird. Seine Zugriffszeit wird sich verlängern, aber die dann am Notfallort eintreffende notärztliche Qualität wird eine deutlich höhere sein (müssen) als die heute zum Teil curricular geforderte. Ein erster unerlässlicher Schritt in die richtige Richtung wäre die Angleichung der heterogenen Forderungen und Voraussetzungen der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin. Hierzu zählen die Abschaffung der immer noch vorhandenen Fachkunde Rettungsdienst und bundeseinheitliche Voraussetzungen und Vorgaben für den Erwerb der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin [
23].
Zu fordern wären dann, neben der curricularen Abbildung und ausreichend breitem Handlungswissen inkl. CRM- und Führungsthemen, auch sicher abrufbare Skills wie (Kompetenzstufen, siehe Tab.
1; [
12], jeweils in Klammern)
-
Versorgung kritisch kranker Kinder (II),
-
Atemwegsmanagement inkl. Narkosedurchführung (III),
-
Gefäßzugang (peripher, intraossär) (IV),
-
Gelenkreposition (III),
-
Thoraxdrainage (III),
-
Notkoniotomie (III) und
-
sonographische Notfalldiagnostik (eFAST) (III).
Kompetenzstufe I | Kennen | Kennt Maßnahmen und Anwendungen |
Kompetenzstufe II | Können | Kann Maßnahmen unter einfachen Bedingungen anwenden |
Kompetenzstufe III | Beherrschen | Kann Maßnahmen situationsgerecht anwenden |
Kompetenzstufe IV | Experte | Kann Maßnahmen auch unter schwierigen Einsatzbedingungen anwenden |
Natürlich muss zu gegebener Zeit auch der Notarztindikationskatalog kritisch hinterfragt und mit einem Gesamtkatalog, der alle drei Eskalationsstufen der Notfallrettung (Notfallsanitäter/Telenotarzt/Präsenznotarzt) abbildet, abgestimmt werden [
18]. Der aktuell überarbeitete Notarztindikationskatalog berücksichtigt jedoch nicht die Ausführung heilkundlicher Maßnahmen durch Notfallsanitäter, was aus systemischer Perspektive zu einer einseitigen Belastung im Rettungsdienst führt.
Inwieweit einzelne präsenznotärztliche Kernkompetenzbereiche an Spezialistensysteme wie „Kindernotarzt“, „Medical Intervention Car (MIC)“ oder einen zusätzlich nachforderbaren „Senior EMS Physician“ ausgelagert werden können oder sollten, kann an dieser Stelle nicht abschließend diskutiert werden [
9,
47]. Man muss sich jedoch stets vor Augen führen, dass die Rettungsdienstgesetze der Länder eine
flächendeckende Versorgung der Bevölkerung fordern. Ob uns solche grundsätzlich hochinteressanten Systeme, die aber wohl doch wieder v. a. in Ballungsräumen zur Verfügung gestellt werden können, bei dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe unterstützen können, erscheint fraglich und kann nicht als Basis dienen.
Wichtig ist aus lerntheoretischer Sicht, dass es sich bei den künftig geforderten notärztlichen Kompetenzen nicht v. a. um oberflächlich angelerntes, sog. „träges“ Wissen handelt, sondern um „ärztliche Skripte höherer Ordnung“, die erst im Anschluss an einen systematischen Wissensaufbau durch Buch oder Unterricht durch Wissenstransfer und -umbau im Rahmen klinischer Berufserfahrung entstehen und als echte Kompetenzen aufrechterhalten werden können [
13,
14]. In der Klinik entsteht dieser Wissensumbau über Jahre während der Facharztausbildung, bei Wissenslücken oder fehlender Handlungskompetenz in realen klinischen Situationen unterstützt der Fach- bzw. Oberarzt. Ein solcher fehlt aber im Rettungsdienst, der Notarzt ist heute draußen ärztlich auf sich allein gestellt. Eine „Notarzt-Oberarzt-Funktion“ als fachliches Back-up bzw. „Sparringspartner“ könnte kurzfristig allenfalls über das Telenotarztsystem realisiert werden. Man sollte sich aber davor hüten, den Telenotarzt als Begründung dafür zu missbrauchen, beim Präsenznotarztdienst weiterhin Expertise einzusparen [
31]. Um die Finanzierung präsenzärztlicher Expertise im Rettungsdienst langfristig fachlich zu rechtfertigen, ist es wohl unumgänglich, dem Beispiel der deutschen Luftrettung zu folgen und auch als bodengebundene Notärzte künftig grundsätzlich mehrjährig erfahrene Ärzte, idealerweise Fachärzte, aus akutmedizinischen Fachdisziplinen einzusetzen, die parallel zum Notarztdienst weiterhin klinisch tätig sind und bleiben müssen.
5 Effiziente Struktur, interprofessionelle Zusammenarbeit und standardisierte, digitale Dokumentation als Schlüssel für die Zukunft des Rettungsdiensts
Um das Gesamtsystem des deutschen Rettungsdiensts zukunftsfähig zu machen, müssen die einzelnen Komponenten sinnvoll disponiert werden, reibungslos ineinandergreifen und sich ergänzen. Eine klare Zuordnung von Kompetenzen und Aufgaben ist die Grundlage eines effektiven und effizienten Systems [
44]. Hier wird vor allem die Leitstelle eine herausragende Rolle spielen. Sie muss deutlich mehr als heute in alle Überlegungen und Diskussionen mit einbezogen werden.
Dies beginnt bereits bei den o. g. Erweiterungen der Reaktionsmöglichkeiten der Leitstelle mit komplementären Strukturen, um eine sinnvolle und zielgerichtete Ressourcennutzung zu erreichen. Des Weiteren muss klar definiert werden, für welche Situationen und Maßnahmen ein Notarzt, ob in Präsenz oder als Telenotarzt, hinzugezogen werden muss.
Notärzte werden ausgebildet, um lebensrettende Patientenbehandlungen bereits am Notfallort unter zwei Voraussetzungen durchzuführen: Die Behandlungsdringlichkeit duldet erstens keinen Aufschub bis zur Versorgung in einer ambulanten oder stationären Gesundheitseinrichtung. Zweitens sind spezielle notärztliche Kompetenzen und Fertigkeiten für den Behandlungserfolg ausschlaggebend. Dazu stützt sich der Notarzt gleichermaßen auf ein umfangreiches medizinisches Wissen, handwerkliche Fertigkeiten und klinische Erfahrung.
Der gut ausgebildete Notfallsanitäter sollte umfassende Freigaben für die von ihm erlernten Tätigkeiten haben und diese am Patienten auch zur Anwendung bringen. Dass dies in einigen Bereichen bereits gut umgesetzt und eine sichere Behandlungsoption für den Patienten ist, wurde bereits oben ausführlich beschrieben.
Notfallmedizin ist interprofessionelle Teamarbeit, in der Notärzte und Rettungsfachpersonal mit dem gemeinsamen Ziel bestmöglicher Patientenversorgung eng kooperieren. Nur in Kenntnis und Akzeptanz der gegenseitigen Kompetenzen werden gut ausgebildete Notärzte gemeinsam mit dem Rettungsfachpersonal den entscheidenden Zugewinn für das Behandlungsergebnis der Patienten erzielen. Hierfür sind auch gemeinsame Fort- und Weiterbildungen ein wichtiger Baustein. Für beide Berufsgruppen muss eine Fortbildungspflicht bestehen und zumindest anteilig sollten dabei gemeinsame Trainings und Übungsszenarien einen festen Platz haben [
23].
Die Zusammenarbeit im täglichen Arbeitsalltag kann durch gemeinsame Teambriefings zum Dienstbeginn gefördert werden, im Einsatz selbst kann die Kenntnis und Anwendung gemeinsamer Checklisten einen positiven Einfluss auf die Patientensicherheit haben.
Um den Lerneffekt aus Einsätzen zu erhöhen, wäre eine standardisierte Rückmeldung der Krankenhäuser an die Präklinik zum weiteren Verlauf wünschenswert. Das ist jedoch aktuell aus datenschutzrechtlichen Gründen oft nicht umsetzbar und geschieht allenfalls über informelle Kontakte. Eine datenschutzkonforme Lösung ist derzeit noch nicht in Sicht, sollte aber dringend angegangen werden.
Auch Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung müssen im Rettungswesen der Zukunft eine zentrale Rolle einnehmen. Der Einsatz der Notärzte und des Rettungsfachpersonals muss dabei bundesweit nach einheitlichen Qualitätsindikatoren erfolgen und überprüft werden. Die Versorgungsqualität muss gemessen, ausgewertet und an die Anwender gespiegelt werden. Dies wird nur durch den Ausbau der Digitalisierung und Lösung der Schnittstellenproblematiken gelingen.
Eine weitere Herausforderung stellen die Krankenhausschließungen dar, die bereits eine relevante Ausdünnung der Kliniklandschaft zur Folge hatten. Wenn Rettungsmittel längere Strecken zu einer geeigneten Klinik zurücklegen müssen, sind sie länger gebunden und fehlen in ihren eigentlichen Einzugsgebieten [
46]. In den Notaufnahmen wiederum nimmt das Patientenaufkommen so zu, dass Szenarien wie in England zu befürchten sind, wo teilweise erhebliche Wartezeiten entstehen, bis die Patienten aus den Rettungswagen übernommen werden können. Auch dadurch wird die Verfügbarkeit der Rettungsmittel eingeschränkt, was in England bereits einen direkten Einfluss auf die zeitgerechte Versorgung von Notfallpatienten hat [
16].
Änderungen im Gesamtsystem müssen auf ihre Auswirkungen auf die Ergebnisqualität, nicht zuletzt auch im Hinblick auf weitere Entwicklungsmöglichkeiten, engmaschig betrachtet werden.
Schließlich besteht an der Schnittstelle zwischen Rettungsdienst und zentraler Notaufnahme (ZNA) in Deutschland ein erheblicher Optimierungsbedarf: Aufgrund der hohen Heterogenität der rettungsdienstlichen Organisationsstrukturen in den einzelnen Bundesländern wird nicht einheitlich und flächendeckend digital dokumentiert. Vielerorts werden daher handschriftlich geführte Einsatzprotokolle verwendet, die möglicherweise schwer lesbar oder wegen fehlender Plausibilitätsprüfung lückenhaft sind. Darüber hinaus erfolgt die Voranmeldung von Notfallpatienten häufig telefonisch, Informationen werden dabei nicht selten unvollständig oder fehlerhaft übermittelt. Alarmierungs‑/Anmeldesysteme, wie z. B. IVENA oder rescuetrack, kommen zwar zur Anwendung, übermitteln aber lediglich Basisdaten der Disposition (Eintreffzeit, Alter, Geschlecht, Diagnosegruppe). Aufgrund fehlender digitaler Dokumentation und/oder Interoperabilität der digitalen Systeme ist schließlich auch eine bidirektionale Kommunikation sowie eine Echtzeitdatenübertragung aus der Präklinik in vielen Rettungsdienstbereichen nicht möglich. Daher erfolgt eine Übergabe der Patienten in der jeweiligen ZNA, wobei erhebliche Zeit- und Informationsverluste resultieren können [
20,
34].
Diese Fragmentierung der Kommunikations- und Informationsstrukturen in der Rettungskette erschwert somit eine effiziente Zusammenarbeit zwischen den Sektoren und beeinträchtigt das Qualitäts- und Risikomanagement in der Notfallversorgung. Mit Einführung einer standardisierten, digitalen Dokumentation im interoperablen Sinne einer sog. digitalen Rettungskette kann diese Problematik umfassend gelöst werden [
3]:
Ein einheitlicher Dokumentationsstandard für alle Sektoren der Notfallversorgung, wie er bereits in der Neunten Stellungnahme der Regierungskommission gefordert wurde [
41], ermöglicht eine ressourcenschonende effektive Nutzung von Daten im Kontext der Notfallversorgung für die Qualitätssicherung und -verbesserung sowie für die Erhöhung der Patientensicherheit. Interoperabilität gewährleistet dabei die Nutzung von Daten über verschiedene IT-Systeme und Gesundheitseinrichtungen hinweg. Diese wird durch die Verwendung von einheitlichen Kommunikationsstandards, wie beispielsweise von HL7 (Health Level 7) vorgegeben, erreicht.
Grundlage für die digitale Rettungskette ist daher ein einheitlicher, interoperabler Datenstandard, der in den jeweiligen Notfallinformationssystemen während der Akut- und Notfallversorgung routinemäßig erhoben wird. Hierfür hat die Sektion Notfalldokumentation der DIVI bereits einen Notfalldatensatz erarbeitet, der u. a. ein Notfalleinsatz- und ein Notaufnahmeprotokoll umfasst. Die erhobenen Daten in den angeschlossenen Notaufnahmen können in der Infrastruktur des sog. AKTIN-Notaufnahmeregisters neben der Nutzung im Versorgungskontext datenschutzkonform auch bereits für Qualitätsmanagement, Public Health Surveillance und Versorgungsforschung genutzt werden [
7]. Daher sind die Grundlagen für die Implementierung der digitalen Rettungskette im Sinne der Einführung einer standardisierten, einheitlichen digitalen Dokumentation vorhanden; die Schaffung der Rahmenbedingungen und Bereitstellung der notwendigen finanziellen Ressourcen sind für die dringliche Umsetzung der Notfallreform auch im Rettungsdienst unabdingbar.
6 Zusammenfassung
Die präklinische Notfallmedizin muss umfassend reformiert werden, um den zukünftigen Anforderungen standhalten zu können und um Herausforderungen wie Fachkräftemangel, demografischem Wandel und abnehmender Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu begegnen.
Eine Verbesserung der Effizienz und Wirksamkeit des Rettungsdiensts ist entscheidend, was durch klare Einsatzindikationen, Reduktion von Fehleinsätzen und optimierte Personalausstattung sowie die Implementierung einer einheitlichen, standardisierten digitalen Dokumentation im interoperablen Format erreicht werden kann. Die Etablierung übergreifender Qualitätsstandards und die Unterstützung der Leitstellen durch telemedizinische Lösungen sollen die interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern und die Versorgungsqualität sicherstellen. Notfallsanitäter sollen verstärkt Aufgaben übernehmen, die keine ärztliche Anwesenheit erfordern, während der umfassend ausgebildete Präsenznotarzt für komplexe Notfälle weiterhin unverzichtbar bleibt.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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