Aufgaben im Infektionsschutz
In allen befragten Ämtern waren die KJGD-Teams mit pandemiebezogenen (ressortfremden) Aufgaben betraut (Tab.
1). In die Kontaktpersonennachverfolgung wurden ausnahmslos alle KJGDs eingebunden, desgleichen in die telefonische individuelle Beratung von Indexpersonen, Kontaktpersonen und Menschen in Quarantäne. Sozialmedizinische Assistentinnen haben vielfach die Hotline übernommen.
Tab. 1
Aufgaben des Infektionsschutzes, die vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD) während der COVID-19-Pandemie übernommen wurden. Befragungsergebnisse aus 11 Kommunen in Nordrhein-Westfalen
1 | X | X | X | X | X | X | Einsatz in mobilen Testteams Koordination der Labore |
2 | X | 0 | X | (X) | X | X | Übernahme nichtärztlicher Aufgaben, z. B. Anfordern von Schülerlisten |
3 | (X) | 0 | (X) | 0 | (X) | X | Alle Berufsgruppen des KJGD komplett eingebunden |
4 | X | X | X | 0 | X | (X) | Ärztliche individuelle Beratung von Kontaktpers. und Quarantänisierten (Tagebuch) |
5 | X | 0 | X | X | X | (X) | Entlassmanagement aus stationärer Behandlung |
6 | X | 0 | X | X | X | (X) | Schulung des Unterstützungspersonals |
7 | X | X | X | X | (X) | (X) | Weiterbeschäftigung ärztlichen Personals über Ruhestand hinaus |
8 | X | (x) | X | 0 | (X) | (X) | Seit Frühjahr fast kompletter Einsatz des Teams im Infektionsschutz; Beratung zu Hygienekonzepten in Kitas und Schulen |
9 | X | 0 | X | X | X | (X) | Übernahme aller Fälle in Kitas und Schulen; Einrichtungsberatung in diesem Kontext |
10 | X | 0 | X | (X) | X | (X) | Terminvergabe für Abstrichzentren Untersuchungen bei „Maskenverweigerern“ |
11 | X | 0 | X | X | (X) | 0 | Übernahme der Gesundheitsamtsleitung während Pandemie |
Das Robert Koch-Institut (RKI) hat das Vorgehen in der Fallverfolgung in einem Flussschema dargestellt und geschätzte Zeitaufwände für die einzelnen Schritte angegeben. Demnach sei mit ca. 55 min für Informationsaufnahme und Ermittlung im Kontext des ersten Fallkontakts, 8 min für die Fallverfolgung pro Tag und ca. 25 min für die Kontaktpersonenverfolgung pro Kontakt zu rechnen. Da mittlerweile die Zahl der Kontaktpersonen häufig sogar im dreistelligen Bereich liegt, lässt sich die zeitliche Beanspruchung abschätzen. Als wesentlich erwies sich nach Auskunft der Befragten die Notwendigkeit, eine ärztliche Ansprechperson für Erkrankte vorzuhalten.
Operative Unterstützung erfolgte in der personellen Besetzung von festen oder mobilen kommunalen Testzentren, aber auch koordinierend in deren Aufbau, im Kontakt mit den Laboren, bei Schulungen des Einsatzpersonals und Weiterem. Mehrere KJGD-Leitungen waren fester Bestandteil des Krisenstabs oder anderer kommunaler Steuerungsgremien und haben in der Pandemiesituation die stellvertretende oder kommissarische Gesundheitsamtsleitung übernommen.
Bezogen auf Gemeinschaftseinrichtungen wie Kita und Schule, aber auch Nachmittagsbetreuung waren die Ärzte beratend tätig, um das Management von Index- oder Kontaktpersonen konform mit den RKI-Empfehlungen abzustimmen. Hier wurde das Ziel verfolgt, vertretbare Lösungen zu finden, um umfangreiche Schließungen zu vermeiden; dazu waren häufig sehr zeitaufwändige und anspruchsvolle Ermittlungen zu Zeitpunkt, Dauer und Art der Kontakte erforderlich.
Beratende Aufgaben in Kitas und Schulen
Aus den Antworten auf die zweite Frage nach spezifischen Beratungsaufgaben in Schulen und Kitas ging hervor, dass diese Leistungen vom KJGD durchweg einen großen Raum einnahmen. Vielfach wurden Fragen der Ortshygiene komplett vom Infektionsschutzressort auf den KJGD übertragen, da dieser durch seine betriebsmedizinische Tätigkeit zumeist über langjährige Kenntnisse der Settings und verlässliche Kooperationsstrukturen verfügt. Es galt, Hygienekonzepte, basierend auf den bestehenden Rahmenhygieneplänen, um erregerspezifische Aspekte ortskonform zu erweitern bzw. Anpassungen vorzunehmen; hierbei zeigte sich ein erheblicher Beratungs- und Abstimmungsbedarf. Bezogen auf ein einzelnes Amt wird das Ausmaß der Beratungsleistungen vorstellbar, wenn man die Anzahl der Schulen in NRW mit derzeit 2793 Grundschulen und fast ebenso vielen Schulen anderer Schultypen in Betracht zieht, die sich auf die Zuständigkeit von 53 Gesundheitsämtern verteilt.
Hinzu kommt das – für den KJGD alltägliche – Erfordernis, mit zahlreichen Adressaten und Berufsgruppen in unterschiedlichsten Funktionen und Rollen zielorientiert zusammenzuwirken. Beispiele sind Schul- und Kitaträger, Erzieher, Kitaalltagshelfer, Lehrer, Integrationshelfer, Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen, Schulbegleiter, Schulküchenpersonal, Hausmeister, Fahrer des Schülerspezialverkehrs, Personal des Offenen Ganztags, Unterstützungspersonal in Kitas, Tagesmütter, ehrenamtliche Helfer u. v. a. m.
Mit Fortschreiten der SARS-CoV-2-Ausbreitung wurden Aufgaben der Fallverfolgung und des Ausbruchsmanagements zunehmend auf alle Berufsgruppen und Mitarbeiter der KJGD übertragen; so kamen auch (zahn-)medizinische Fachangestellte, sozialmedizinische Assistenten und Zahnärzte zum Einsatz.
Die nachfolgende Aufstellung informiert exemplarisch über pandemiebezogene Beratungsinhalte:
Auswirkungen der Pandemie auf originäre Aufgaben
Die dritte Frage zielte darauf ab, welche originären KJGD-Aufgaben während der Pandemie ganz oder teilweise entfallen mussten; die Antworten sind in Tab.
2 dargestellt. Erläuternd ist zu ergänzen, dass im Bereich des Gutachtenwesens sowohl die Fragestellungen fokussiert und oft auch zugunsten neuer Problematiken verschoben werden mussten (z. B. Stellungnahmen nach Aktenlage, Basisscreening Hören/Sehen/Impfstatus anstelle von standardisierten Schuleingangsuntersuchungen (SEU) etc.).
Tab. 2
Wahrnehmung originärer Aufgaben durch den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD) während der COVID-19-Pandemie. Befragungsergebnisse aus 11 Kommunen in Nordrhein-Westfalen
Betriebsmedizinische Aufgaben in Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder und Jugendliche | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 |
Gutachterliche Tätigkeit | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) |
Schuleingangsuntersuchungen (SEU) | 0 | (X) | (X) | (X) | 0 | 0 | (X) | 0 | (X) | (X) | (X) |
Kontext sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf (AO - SF) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | X |
Beratung von Kitas und Schulen | X | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | (X) | 0 | (X) | 0 |
Gesundheitsberichterstattung, Epidemiologie | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 |
Zielgruppen- und bedarfsorientierte Untersuchungen | 0 | 0 | 0 | (X) | (X) | (X) | (X) | (X) | 0 | X | X |
Kooperation Kinderschutz und Frühe Hilfen | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | (X) | 0 | (X) | (X) | X | (X) |
Ausbruchsmanagement in Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder (außer COVID-19) | (X) | (X) | (X) | 0 | X | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 |
Maßnahmen zum Schließen von Impflücken | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 |
Beratung der Kommune/Gesundheitsplanung mit Sozialraumbezug | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 |
Neue Fragestellungen waren z. B. Untersuchungen von „Maskenverweigerern“ mit nicht aussagekräftigen Freistellungsattesten sowie Anträge auf Befreiung vom Präsenzunterricht. Im Hinblick auf eine möglichst weitgehende Integration wurde eine Vielzahl von Kindern vorgestellt, welche sich mit der pandemiebedingten Situation aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen nur schwer arrangieren konnten und für die gemeinsam nach geeigneten Rahmenbedingungen gesucht wurde, sowie Kinder, für die Unterstützungs- und Leistungsanträge auf den Weg gebracht werden mussten.
Schuleingangsuntersuchungen erfolgten im Umfang zwischen 10 % und ca. 80 % (z. T. als Screening, nicht den Landesstandards entsprechend). Allerdings wurden bei Kindern, bei denen gesundheitliche Beeinträchtigungen bekannt und/oder bei denen sonderpädagogische Förderbedarfe absehbar waren, fast ausnahmslos schulärztliche Gutachten im Rahmen der Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung durchgeführt.
Aktuelle und langfristige Wünsche der KJGD-Leitungen
Die vierte Frage zielte auf die drängendsten aktuellen Probleme der KJGD-Leitungen ab.
Einhellig wurde von allen Befragten der dringende Wunsch geäußert, wieder zur eigentlichen Rolle im System der öffentlichen Kindergesundheit und damit zum KJGD-Kernaufgabenspektrum zurückkehren zu können. Expertise, Erfahrung und Neigung sind hier in besonderer Weise vorhanden. Dabei wurde auch das Erfordernis gesehen, den Bereich Infektionsschutz mit eigenen, klar zugeordneten Fach- und Unterstützungskräften weiter und nachhaltig auszubauen.
Die Rückkehr zum originären Aufgabenbereich wurde nicht nur an erster Stelle genannt, weil das Arbeiten im vertrauten Bereich persönlich als besonders erfüllend erlebt wird; es wurde ein dem Bedürfnis entsprechender Bedarf reklamiert, da für die Kinder, Jugendlichen und Familien Nachteile zu befürchten seien, wenn diese Tätigkeiten auch mittel- bis langfristig entfielen. Konkret wurde in den ergänzenden telefonischen Interviews auf die Notwendigkeit hingewiesen, z. B. Impflückenschließungsprogramme und Schulsprechstunden in Brennpunktschulen wiederaufzunehmen.
Es wurde aus der Außensicht berichtet, dass Schulen die vertiefte gutachtenbezogene schulärztliche Tätigkeit vornehmlich für Kinder mit sonderpädagogischem oder gesundheitsbezogenem Unterstützungsbedarf vermissen würden; Jugendämter reklamierten für weniger, aber gravierende Kinderschutzfälle die bewährte Kooperation, und Kitas hätten gern wieder auf die KJGD-Expertise bei Kindern mit verschiedensten Entwicklungsauffälligkeiten zurückgreifen wollen. Um Folgeschäden zu vermeiden, müsse man genau diesen Jahrgang besonders im Blick behalten und sei in besonderer Sorge um psychische Langzeitfolgen der Pandemie.
In der Sorge um das Fortbestehen der Attraktivität des Ressorts KJGD, sollte er denn längerfristig fachfremde Aufgaben übernehmen müssen, wünschte man sich Erfolg bei der Suche nach Fachkräftenachwuchs, befördert durch entsprechende Finanzierungsregelungen.
Wertschätzende Anerkennung des umfänglichen, flexiblen und engagierten „selbstlosen“ Einsatzes während der Pandemie wäre willkommen – anstatt der aktuellen Sorge, dass vorübergehend weniger prioritäre Aufgaben ganz aus dem Blickfeld geraten und qualitativ oder existenziell gefährdet sind.