Krebstherapie in Kriegszeiten

Die Versorgung von Personen mit Krebs hat in einem Krieg nicht die höchste Priorität. Ukrainische Onkologinnen und Onkologen begegnen dem mit Evakuierungen, vereinfachten Chemotherapien sowie Verzicht auf Diagnostik und Screening. Als am 24. Februar die ersten Bomben und Raketen fallen, stellt dies auch die Welt der Onkologen am Nationalen Krebszentrum in Kiew auf den Kopf und verlangt von vielen Ärzte schwierige Entscheidungen. In einem Beitrag der Zeitschrift „Lancet Oncology“ berichten Dr. Oleksandr Stakhovskyi und Dr. Viacheslav Kopetskyi wie das Zentrum dennoch versucht, zumindest eine ambulante onkologische Grundversorgung aufrechtzuerhalten. Das Nationale Krebszentrum in Kiew gilt als Referenzzentrum für die Krebsdiagnostik und -therapie in der Ukraine. Mit dem Beginn des russischen Überfalls ist jede Onkologin und jeder Onkologe zunächst vor die Entscheidung gestellt, zu fliehen, zu kämpfen oder weiterzuarbeiten. Fliehen ist zumindest für die männlichen Ärzte keine Option, sie müssen im Land bleiben, aber viele von ihnen sind zunächst damit beschäftigt, ihre Familien in Sicherheit zu bringen – in den Westen der Ukraine oder in benachbarte europäische Länder. In dieser Phase liegt es an den jüngeren Ärztinnen und Ärzten, die noch keine Familie haben, die Versorgung im Zentrum zu gewährleisten, berichten die Onkologen. Einige der Jüngeren entscheiden sich, zu den Waffen zu greifen und das Militär im Kampf gegen die Angreifer zu unterstützen. „Zu töten, und wenn es der Feind ist, ist jedoch nichts für jeden, vor allem nicht für Ärzte, die den Eid geschworen haben, menschliches Leben zu beschützen“, heißt es in dem Bericht. Verzweifelte Telefonanrufe von Patienten Als der russische Angriff auf Kiew ins Stocken gerät und die Angehörigen in Sicherheit sind, kehren daher viele Ärzte wieder ins Zentrum zurück, zumal die Patienten sie in verzweifelten Telefonanrufen bedrängen. Einigen Ärzten sei zudem klargeworden, dass sie als Onkologen auf dem Schlachtfeld wenig hilfreich sind, dort seien andere medizinische Kenntnisse gefragt. Die verbliebenen Frauen und Männer versuchen daher die Versorgung am Krebszentrum neu auf die Beine zu stellen. Aufgrund der prekären Sicherheitslage organisiert das Personal zunächst die Evakuierung der stationären Patienten in Kliniken im Ausland oder in den Westen der Ukraine. Jeder Transfer erfordert unzählige Telefonate, Papierarbeit und muss von Fall zu Fall entschieden werden. Vor allem krebskranke Kinder werden rasch aus Kiew herausgebracht, als hilfreich erweist sich hier die Zusammenarbeit mit internationalen Krebsgesellschaften. Die Behandlungsräume legt die Klinikleitung aufgrund der Luftangriffe in die unteren Geschosse, gearbeitet wird in Schichten über drei bis vier Tage – das Personal schläft in dieser Zeit in der Klinik, um lange und gefährliche Wege zu vermeiden. Aufwändige und ressourcenintensive Operationen, die intensivmedizinische Betreuung oder einen langen stationären Aufenthalt erfordern, sind nicht mehr möglich – solche Patienten werden in die Westukraine verwiesen, ähnliches gilt für Bestrahlungen – hier ist die schwankende Stromversorgung ein Problem. Die Behandlung wird fast nur noch ambulant angeboten: Supportive Therapien, Chemotherapien und Blutanalysen sind aber weiterhin möglich. Chemotherapien werden jedoch oft so modifiziert, dass weniger Besuche im Zentrum nötig sind, weniger Nebenwirkungen auftreten und weniger Monitoring erforderlich ist. Zudem setzen die Ärzte auf vielseitig einsetzbare Chemotherapeutika, auch das vereinfacht die Behandlung in Notzeiten. Immerhin, so berichten Stakhovskyi und Kopetskyi, seien die meisten relevanten Medikamente noch verfügbar. Die Nachbetreuung erfolgt oft in Telefonkonferenzen, ebenfalls, um den Patienten die gefährliche Anreise zu ersparen. Kriegsverletzte statt Krebskranker Neue Krebspatienten nimmt das Zentrum jedoch nicht mehr auf, hier fehle es an ausreichenden Ressourcen für eine adäquate Diagnostik. Patienten mit Krebsverdacht werden daher ebenfalls an Zentren in weniger umkämpften Gebieten verwiesen. Um diese zu entlasten, sollten in geschützten Zonen am besten neue Diagnostik- und Screeningzentren implementiert werden – Screeningprogramme wurden in Kiew ebenfalls auf Eis gelegt. Stakhovskyi und Kopetskyi wissen jedoch, dass sich solche improvisierten Zentren nur schwer errichten lassen, nicht zuletzt, weil dafür qualifiziertes Personal fehlt: In anderen Regionen ziehen es ebenfalls nicht wenige Ärztinnen und Ärzte vor, zu fliehen oder zu kämpfen, zudem fordern die Kämpfe auch ihren Tribut unter Ärzten. Mit dem Krieg hat sich der Charakter der Krebsklinik noch auf eine andere Weise verändert. Statt Krebskranker kommen nun immer mehr Patienten ohne Krebs: verletzte Soldaten und aus zerschossenen Häusern gerettete Zivilisten.

Springer Medizin

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