Skip to main content
Erschienen in: Der Nervenarzt 11/2022

Open Access 14.09.2022 | Wahnhafte Störungen | Kurzbeiträge

Musikalische Halluzinationen bei einer 92-Jährigen mit Schwerhörigkeit und sozialer Vereinsamung im Rahmen der Corona-Pandemie

verfasst von: Dr. med. Nadia Bieler, Dr. med. Kariem-Noureldin Sharaf, PD Dr. Kristina Adorjan

Erschienen in: Der Nervenarzt | Ausgabe 11/2022

download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
Hinweise
QR-Code scannen & Beitrag online lesen

Hintergrund

Auditorische Halluzinationen sind häufig im Rahmen einer psychotischen Störung anzutreffen. Weitere differenzialdiagnostische Überlegungen sind u. a. dissoziative Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, posttraumatische Belastungsstörung oder Störungen organischer Genese, z. B. neurodegenerativ (Parkinson-Demenz, Lewy-Body-Demenz, u. a.), strukturell-neurologisch (Hirnläsionen, Temporallappenepilepsie), oder aus dem HNO-Bereich Presbyakusis.
Das klassische Charles-Bonnet-Syndrom beschreibt das Auftreten von visuellen Halluzinationen bei psychopathologisch unauffälligen Personen ohne zerebrale Läsion mit neu erworbener Visusminderung. Weiteres diagnostisches Kriterium ist der Ausschluss von Delir, demenzieller Entwicklung, Verschlechterung einer affektiven Störung, wahnhaften Störungen, Intoxikationen oder weiteren neurologischen Erkrankungen [6].
Die Deafferenzierungshypothese zur Entstehung auditorischer Halluzinationen postuliert, dass die Reduktion der Reizsignale an den auditorischen Kortex zu einer Erniedrigung der Schwelle für Reizauslösung im Gehirn führt und es folglich zu einem Ungleichgewicht zwischen exzitatorischer und inhibitorischer Neuronenaktivität kommt [2]. Sowohl einfache als auch komplexe auditorische Halluzinationen wurden im Rahmen dieser Störung beschrieben [5]. Die soziale Vereinsamung, in diesem Fall exazerbiert durch die Corona-Pandemie, stellte zusätzlich eine Art „soziale Deafferenzierung“ dar und kann einen weiteren Risikofaktor für die Entwicklung von auditorischen Halluzinationen darstellen [5].

Kasuistik

Eine rüstige, 92 Jahre alte Patientin stellte sich über die psychiatrische Ambulanz mit seit ca. fünf Monaten anhaltenden, vorwiegend musikalischen Halluzinationen vor. Sie zeigte sich stark belastet und gab an, sich dadurch bedroht zu fühlen.
Die Patientin berichtet, seit einem Sturz rund um Ostern höre sie zunehmend Lieder und Musik, die vor allem nachts aufträten. Sie habe die Polizei rufen müssen, da „die Nachbarn mit der Musik nicht aufhörten“. Es seien Weihnachtslieder, zum Teil auch nationalsozialistische Lieder, die sie seit ihrer Jugend nicht mehr gehört hätte. Außerdem berichtete die Patientin von weiteren Halluzinationen i. S. von Geräuschen (Schleudern einer Waschmaschine) sowie Stimmenhören, teilweise ohne jedoch „zu verstehen, was die Stimmen zueinander sagten“. Mit Hörgeräten sei sie beidseitig seit ca. 6–8 Jahren versorgt worden.
In der MRT fanden sich bis auf mikroangiopathische Läsionen keine Auffälligkeiten. Bei der körperlichen Untersuchung zeigte sich bis auf eine beidseitige Hörstörung ein altersentsprechender Befund. Psychopathologisch war die Patientin wach und allseits scharf orientiert. Aufmerksamkeit, Konzentration und Mnestik waren intakt. Sie zeigte sich formalgedanklich geordnet, keine Hinweise auf eine wahnhafte Störung, keine inhaltlichen Denkstörungen, keine Ich-Störungen. Affektiv zeigte sie sich niedergedrückt, der Antrieb sei erhalten. Psychovegetativ Ein- und Durchschlafstörungen, Appetit regelrecht. Klinisch-neurologisch kein Hinweis auf eine demenzielle Entwicklung (Montreal Cognitive Assessment 27/30 Punkte), kein Hinweis auf eine bradykinetische Gangstörung, die Muskeleigenreflexe waren seitengleich regelrecht auslösbar.
In der HNO-ärztlichen Spiegeluntersuchung zeigte sich eine Verlegung beider Gehörgänge mit Zerumen. Auf Nachfrage gab die Patientin einen Juckreiz im rechten Gehörgang an. Initial gelang die Entfernung nur links und es zeigte sich ein reizloses Trommelfell, rechts entleerte sich am Zeruminalpropf entlang putrides und erheblich fötides Sekret. Wir begannen nach mikrobieller Abstrichdiagnostik eine kalkulierte topische Antibiotikatherapie mit Ciprofloxacin-Ohrentropfen.
Zwei Tage später gelang rechts die Entfernung eines mehr als 3 cm langen Pfropfens aus Zerumen und Wolle (Abb. 1). Ohrmikroskopisch zeigte sich nun eine entzündete Radikalhöhle. Hierbei handelt es sich um einen bei größeren, chronischen Mittelohrentzündungen durchgeführten Eingriff, bei dem die hintere Gehörgangswand entfernt und zum Mastoid hin eine größere Höhle geschaffen wird.
Bei der Kultivierung ergab sich ein Nachweis von Ciprofloxacin-sensiblem P. mirabilis. Im CT Felsenbein zeigte sich ein Z. n. Radikalhöhlenanlage und Tympanoplastik rechts, ohne Nachweis einer Gehörknöchelchenkette oder Rekonstruktion und ohne Hinweis auf knöcherne Arrosion. Linksseitig kamen die Innenohrstrukturen und das Felsenbein unauffällig zur Darstellung. Audiometrisch zeigte sich nach Abheilung der Entzündung eine erhebliche Schwerhörigkeit rechts mehr als links (Abb. 2a, b). Das Knochenleitungsaudiogramm ergab eine annähernd symmetrische Hörkurve. Passend zum ohrmikroskopischen und CT-morphologischen Befund des rechten Mittelohrs zeigte das Audiogramm eine erhebliche kombinierte Schwerhörigkeit rechts mehr als links. Das korrespondierende Sprachaudiogramm zeigte rechts ein Einsilberverstehen von 60 % bei 110 dB im Freiburger Sprachtest, links 65 % bei 95 dB und 90 % bei 110 dB.

Diagnose

Die neu aufgetretenen auditorischen Halluzinationen bei einer zuvor psychisch gesunden 92-jährigen Patientin deuteten auf eine organische Genese hin. Nach Ausschluss weiterer Differenzialdiagnosen (wahnhafter Störung, demenzieller Entwicklung, struktureller Hirnläsionen u. a.) und Sichtung aller Befunde stellten wir die Diagnose eines auditorischen Charles-Bonnet-Syndroms.
Eine ursächliche Therapie erfolgte mit Entfernung des Fremdkörpers und antibiotischer Behandlung im rechten Gehörgang, zur Symptomlinderung setzten wir ein niederpotentes Neuroleptikum (Pipamperon mit 40 mg zur Nacht) an. Bei Entlassung ca. 6 Wochen später gab die Patientin eine deutliche Reduktion der Intensität der auditorischen Halluzinationen an. Die Musik sei „weiter weg und leiser geworden“, der Schlaf habe sich deutlich gebessert. Ca. 6 Monate nach Entlassung zeigte sich die Patientin auf Nachfrage beschwerdefrei.

Diskussion

Musikalische Halluzinationen stellen ein häufiges Phänomen bei Menschen höheren Alters dar. Risikofaktoren für ein auditorisches Charles-Bonnet-Syndrom sind ein weibliches Geschlecht, Schwerhörigkeit, Alter über 60 Jahre und soziale Isolation [3].
Die Inzidenz auditorischer Halluzinationen bei Schwerhörigkeit ist relativ hoch, bei einer Studie mit 829 Probanden betrug sie 16 % und korrelierte mit dem Grad der Schwerhörigkeit [4]. Verschiedene Behandlungsoptionen stehen zur Verfügung, wenn möglich soll jedoch eine kausale Behandlung erfolgen. In der Gruppe der Hyp- bzw. Presbyakusis-Patienten können eine Aufklärung zur Ätiologie der Krankheit, eine Optimierung der Hörgerätversorgung sowie der Einsatz externer auditorischer Stimuli (i. S. eines Maskings ähnlich der Behandlung eines Tinnitus) eine Erleichterung bringen [1].

Fazit für die Praxis

Eine gründliche organische Abklärung insbesondere des Hörorgans ist bei neu aufgetretenen auditorischen Halluzinationen zwingend zu empfehlen.

Interessenkonflikt

N. Bieler, K.‑N. Sharaf und K. Adorjan geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Unsere Produktempfehlungen

Der Nervenarzt

Print-Titel

Aktuelles Fachwissen aus Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und PsychosomatikThemenschwerpunkt mit praxisnahen BeiträgenCME-Fortbildung in jedem Heft 12 Hefte pro Jahr Normalpreis 344,70 € We ...

e.Med Interdisziplinär

Kombi-Abonnement

Für Ihren Erfolg in Klinik und Praxis - Die beste Hilfe in Ihrem Arbeitsalltag

Mit e.Med Interdisziplinär erhalten Sie Zugang zu allen CME-Fortbildungen und Fachzeitschriften auf SpringerMedizin.de.

e.Dent – Das Online-Abo der Zahnmedizin

Online-Abonnement

Mit e.Dent erhalten Sie Zugang zu allen zahnmedizinischen Fortbildungen und unseren zahnmedizinischen und ausgesuchten medizinischen Zeitschriften.

Weitere Produktempfehlungen anzeigen
Literatur
3.
Zurück zum Zitat Evers S, Ellger T (2004) The clinical spectrum of musical hallucinations. J Neurol Sci 227:55–65CrossRefPubMed Evers S, Ellger T (2004) The clinical spectrum of musical hallucinations. J Neurol Sci 227:55–65CrossRefPubMed
4.
Zurück zum Zitat Linszen MMJ, van Zanten GA, Teunisse RJ et al (2019) Auditory hallucinations in adults with hearing impairment: a large prevalence study. Psychol Med 49:132–139CrossRefPubMed Linszen MMJ, van Zanten GA, Teunisse RJ et al (2019) Auditory hallucinations in adults with hearing impairment: a large prevalence study. Psychol Med 49:132–139CrossRefPubMed
5.
Zurück zum Zitat Marschall TM, Brederoo SG, Ćurčić-Blake B, Sommer IEC (2020) Deafferentation as a cause of hallucinations. Curr Opin Psychiatry 33:206–211CrossRefPubMed Marschall TM, Brederoo SG, Ćurčić-Blake B, Sommer IEC (2020) Deafferentation as a cause of hallucinations. Curr Opin Psychiatry 33:206–211CrossRefPubMed
7.
Zurück zum Zitat Bernard F, Quante A (2011) Akustische Halluzinationen und Pseudohalluzinationen bei erworbener Schwerhörigkeit: Antipsychotische Behandlung. HNO 59:519–521CrossRefPubMed Bernard F, Quante A (2011) Akustische Halluzinationen und Pseudohalluzinationen bei erworbener Schwerhörigkeit: Antipsychotische Behandlung. HNO 59:519–521CrossRefPubMed
8.
Zurück zum Zitat Golden EC, Josephs KA (2015) Minds on replay: musical hallucinations and their relationship to neurological disease. Brain 138:3793–3802CrossRefPubMed Golden EC, Josephs KA (2015) Minds on replay: musical hallucinations and their relationship to neurological disease. Brain 138:3793–3802CrossRefPubMed
9.
Zurück zum Zitat Jardri R, Hugdahl K, Hughes M et al (2016) Are hallucinations due to an imbalance between excitatory and inhibitory influences on the brain? Schizophr Bull 42:1124–1134CrossRefPubMedPubMedCentral Jardri R, Hugdahl K, Hughes M et al (2016) Are hallucinations due to an imbalance between excitatory and inhibitory influences on the brain? Schizophr Bull 42:1124–1134CrossRefPubMedPubMedCentral
10.
Zurück zum Zitat Laroi F, Sommer IE, Blom JD et al (2012) The characteristic features of auditory verbal hallucinations in clinical and nonclinical groups: state-of-the-art overview and future directions. Schizophr Bull 38:724–733CrossRefPubMedPubMedCentral Laroi F, Sommer IE, Blom JD et al (2012) The characteristic features of auditory verbal hallucinations in clinical and nonclinical groups: state-of-the-art overview and future directions. Schizophr Bull 38:724–733CrossRefPubMedPubMedCentral
Metadaten
Titel
Musikalische Halluzinationen bei einer 92-Jährigen mit Schwerhörigkeit und sozialer Vereinsamung im Rahmen der Corona-Pandemie
verfasst von
Dr. med. Nadia Bieler
Dr. med. Kariem-Noureldin Sharaf
PD Dr. Kristina Adorjan
Publikationsdatum
14.09.2022
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Der Nervenarzt / Ausgabe 11/2022
Print ISSN: 0028-2804
Elektronische ISSN: 1433-0407
DOI
https://doi.org/10.1007/s00115-022-01379-y

Weitere Artikel der Ausgabe 11/2022

Der Nervenarzt 11/2022 Zur Ausgabe