Der aufrechte Gang des Homo sapiens hat sich zwar durchaus bewährt in den vergangenen Jahrhunderttausenden. Er ist aber mit dem einen oder anderen Nachteil behaftet. Unter anderem mit der Tatsache, dass, wer sich von der liegenden in die aufrechte Körperhaltung begibt, dafür sorgt, dass sich entlang der Schwerkraft eine deutliche Menge Blut Richtung Erdmittelpunkt bewegt (Orthostase).
Wir sprechen von etwa einem halben Liter: Eben noch intrathorakal, droht es nun, im Unterkörper zu versacken. Um das zu verhindern, braucht es ein fein justiertes System der Gegenregulation. Es sorgt dafür, dass sich unter anderem die peripheren Blutgefäße verengen, die Herzfrequenz ansteigt und vermehrt venöses Blut in die obere Körperhälfte zurückfließt – komplexe Vorgänge, an denen außer dem Gefäßsystem unter anderem Barorezeptoren, Hirnstamm und vegetatives Nervensystem beteiligt sind.
Damit besteht Störpotenzial an verschiedenen Stellen, weshalb manche Kollegen drei, vier und manche sechs Formen der orthostatischen Hypotonie (OH) unterscheiden.
Die dahinterstehenden Pathophysiologien werden nicht unbedingt vollständig verstanden, was wiederum auf eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen hindeutet, um nicht das Wort vom diagnostischen und therapeutischen Nihilismus zu bemühen: „Ist harmlos!“ – „Kann man mit leben.“ Und (Achtung! Subtext): „Betrifft überwiegend Frauen.“
Was ist orthostatische Hypotonie?
Orthostatische Hypotonie (OH) beschreibt einen übermäßigen Abfall des Blutdrucks im Stehen:
- systolischer Blutdruck: Abfall um >20 mmHg (auf meist <90–100 mmHg)
- diastolischer Blutdruck: Abfall um >10 mmHg.
- Die Herzfrequenz steigt bei der autonom-neurogenen OH nicht oder kaum an (um nicht mehr als 10/min). Infolgedessen kommt es zu Symptomen der zerebralen Minderperfusion und/oder einer deutlichen Leistungsminderung.
- Als normal bei Lageänderung vom Liegen zum Stehen wird ein Blutdruckabfall von 5–10 mmHg und ein Herzfrequenzanstieg von etwa 20/min angesehen.
Was manch einer über die OH glaubt
Viele Annahmen über die OH sind also nicht ganz falsch, vor allem aber nicht ganz richtig. Ein paar Beispiele:
- (Angebliche) Harmlosigkeit: OH kann zu Schwindel, Ohnmachten, Stürzen und Frakturen führen mit unter Umständen fatalen Folgen, besonders bei Senioren. Die verbreitete OH bei arteriellem Bluthochdruck gilt als unabhängiger Risikofaktor für Mortalität und kardiovaskuläre Komorbidität, wie US-amerikanische Autoren kürzlich bestätigt haben: Menschen mit OH entwickeln vergleichsweise häufiger eine Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, koronare Herzkrankheit oder bekommen einen Herzinfarkt (Hypertension 2024; 81:e16-e30).
- „Kann man mit leben“: Abgesehen von Symptomen wie Schwindel, Sehstörungen, Kopf- und Nackenschmerzen sowie Übelkeit kann eine OH mit kognitivem Abbau und Demenz, Depression und Gebrechlichkeit assoziiert sein – inwiefern ein kausaler Zusammenhang zwischen OH und diesen Folgen besteht (Gewebehypoperfusion?), ist Gegenstand von Diskussionen.
- Geschlechterverhältnis: Es sind vor allem junge, schlanke Frauen, die von konstitutioneller Hypotonie betroffen sind. Das Bradbury-Eggleston-Syndrom (Pure Autonomic Failure, PAF), eine abnorme Akkumulation von α-Synuclein in autonomen Nervenzellen mit konsekutiver Funktionsstörung dieser Zellen und Verlust peripherer sympathischer Neurone, betrifft überwiegend Männer jenseits des 40. Lebensjahres; die OH im Zusammenhang mit einer multiplen Systematrophie (MSA) und Degeneration des zentralen Nervensystems ebenfalls. Nicht zu vergessen sind Synkopen bei Kindern und Jugendlichen: Sie sind zu 70 bis 80 Prozent auf eine abnormale Reflexregulation oder auf eine Dysfunktion des autonomen Nervensystems zurückzuführen, berichten chinesische Kinderkardiologen (World J Pediatr 2024;20:983-1002).
Vermutlich etwa zehn Prozent der über 60-Jährigen betroffen
Wer sich nun fragt, wie häufig OH in der Bevölkerung vorkommt, wird allenfalls vage Antworten finden. Im klinischen Alltag fallen nur jene auf, die symptomatisch werden oder ein OH-bedingtes Ereignis erleben. In Studien mit standardisierten Untersuchungsprotokollen aber seien vielfach Erwachsene mit asymptomatischer OH identifiziert worden, berichten Dr. Stephen Juraschek von der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts, und Koautoren (Hypertension 2024; 81:e16-e30 ).
Die tatsächliche Häufigkeit von OH in der Gesamtbevölkerung ist daher unsicher. Nach Schätzungen sind etwa zehn Prozent der über 60-Jährigen und bis zu 30 Prozent der über 65-Jährigen betroffen sowie etwa jeder zehnte Hypertonie-Patient. Bei Letzteren kann es sich auch um eine Pseudo-OH handeln: Bei hohen Ausgangsblutdruckwerten im Liegen fällt der Blutdruck nach dem Aufstehen so stark ab, dass formal eine OH besteht, prozentual gesehen ist der Blutdruckabfall aber nicht stärker als bei jemandem mit normalem Ruhedruck.
Festzuhalten ist, dass es sich bei OH um kein eigenständiges Krankheitsbild handelt, sondern dass sie als Befund aufgefasst wird, hinter dem meist internistische und/oder neurologische Erkrankungen stecken oder auch medikamentöse Nebenwirkungen. Häufig wird es sich um Mischformen handeln. Der Augsburger Kardiologe Professor Wolfgang von Scheidt teilt im Lehrbuch „Klinische Kardiologie“ (Springer-Verlag, 9. Aufl. 2023 ) die OH zunächst grob in eine sympathikotone und eine neurogen-autonome (asympathikotone) Form ein.
Sympathikotone Form
Ursache der sympathikotonen OH ist die unzureichende venöse und/ oder arterielle Vasokonstriktion bei relativer Hypovolämie. In diese Gruppe fallen junge schlanke Menschen mit konstitutioneller Hypotonie, überwiegend Frauen.
„Die genaue Pathogenese ist ungeklärt, jedoch sicherlich heterogen“, schreibt von Scheidt. Womöglich bestehe eine partielle sympathische Denervation der Nieren und der unteren Extremitäten, was die Regulation des peripheren Gefäßwiderstands beeinträchtigt. Als weitere mögliche Ursache nennt der Kardiologe eine gestörte Noradrenalin-Wiederaufnahme infolge einer Mutation im Noradrenalin-Transportgen.
Eine Sonderform der sympathikotonen OH ist POTS (postural orthostatic tachycardia syndrome): Innerhalb der ersten zehn Minuten nach Aufstehen steigt die Herzfrequenz um mehr als 30 Schläge pro Minute an (>120 Schläge/min), ohne dass ein relevanter Blutdruckabfall eintritt. „Allerdings können reaktiv vasovagale Reflexsynkopen auftreten“, so Scheidt. Die Betroffenen klagen über Benommenheit, Schwäche, Palpitationen und Sehstörungen. Zu 80 Prozent sind Frauen betroffen. POTS wird durch immunologische Trigger ausgelöst, etwa wegen eines Virusinfekts, bei Schwangerschaft oder in Stresssituationen.
Die Tachykardie ist häufig begleitet von Leistungsschwäche, chronischer Fatigue, Kopfschmerzen, Konzentrations- und Schlafstörungen, Blässe, Muskelschwäche und Muskelschmerzen, aber auch Übelkeit und gastrointestinalen Motilitätsstörungen. Die POTS-Pathogenese ist ungeklärt, es scheine verschiedene pathophysiologische Formen zu geben, so Scheidt.
Neurogen-autonome Form
Die neurogen-autonomen Formen der orthostatischen Hypotonie haben ihre Ursache in Erkrankungen des autonomen Nervensystems mit oder ohne zentralnervöse Beteiligung oder des peripheren somatischen Nervensystems. Der Blutdruck fällt im Stehen sehr rasch ab (<3 min), ohne dass die Herzfrequenz ansteigt – so die klassische Spielart des Phänomens. Es gibt auch eine verzögerte Variante mit langsam progredientem Blutdruckabfall über bis zu 30 Minuten ohne adäquaten Herzfrequenzanstieg.
Als klassische Formen der autonom-neurogenen OH gelten das Bradbury-Eggleston-Syndrom sowie die Formen der multiplen Systematrophie (MSA). Im praktischen Alltag stecken jedoch viel häufiger ein Morbus Parkinson, eine Multiple Sklerose, eine zerebrovaskuläre Insuffizienz oder andere zerebrale Krankheiten dahinter.
Als Ursachen der autonom-neurogenen OH kommen periphere autonome und sensomotorische Neuropathien wie bei Diabetes hinzu. „Eine orthostatische Hypotonie beim Diabetiker muss als prognostisch sehr ernst gewertet werden“, warnt Scheidt in erwähntem Lehrbuch und verweist auf weitere Manifestationen der Polyneuropathie als Spätmanifestation der Stoffwechselerkrankung.
Nicht mit einer autonomen Dysfunktion verwechselt werden dürfe das Versagen des Baroreflexes, betont der Kardiologe. Dabei handele es sich um „extreme, gleichsinnige Blutdruck- und Herzfrequenzschwankungen.“ Sie sind Folge ungedämpfter, efferenter sympathischer Aktivität des autonomen Nervensystems wie sie etwa nach beidseitiger Strahlentherapie am Hals oder nach Neck Dissektion bei Pharynxkarzinomen sowie bei Hirnstammläsionen beobachtet werden.
Kommt es besonders nach kohlenhydratreichen Mahlzeiten zum Blutdruckabfall mit entsprechenden Symptomen, dürfte dagegen eine postprandiale Hypotonie vorliegen. Sie tritt dann auf, wenn die im Splanchnikusgebiet induzierte Vasodilatation nicht adäquat kompensatorisch vom Sympathikus beantwortet wird.
So stellen Sie die Diagnose
Anamnese:
- Welche individuellen Beeinträchtigungen bestehen im Alltag?
- Bestehen internistische Grunderkrankungen, die mit Hypotonie einhergehen können, wie Herzerkrankungen, endokrinologische Erkrankungen, Postinfektionssyndrom, Gründe für intravasalen Volumenmangel etc.?
- Bestehen neurologische Grunderkrankungen, etwa Morbus Parkinson, autonome Polyneuropathie, Zustand nach Schlaganfall?
- Medikamentenanamnese: Diuretika, periphere Vasodilatatoren, L-Dopa/Dopamin-Agonisten, Phenothiazine, Psychopharmaka, Sildenafil kann bei autonomer Dysfunktion zu starken Blutdruckabfällen führen.
Diagnostik:
- Schellong-Test: Zunächst werden im Liegen drei Mal über fünf bis zehn Minuten Blutdruck und Puls gemessen, danach im Stehen jede Minute über bis zu zehn Minuten sowie erneut drei Mal im Liegen in einminütigen Abständen.
- Kipptisch-Test: erforderlich bei verzögert auftretender orthostatischer Hypotonie (OH)
- Umfassende neurologische Diagnostik bei Verdacht auf autonom-neurogene OH
Therapie? Meist geht es um das Vermeiden von Stürzen
Nur selten ist bei orthostatischer Hypotonie (OH) eine spezifische Therapie angezeigt. An erster Stelle stehen, unabhängig von der Ursache, zunächst die Aufklärung und Beratung zu einfachen physikalischen Maßnahmen: morgens langsam Aufstehen, heiße Umgebungen vermeiden. „Sofern keine Hypertonie vorliegt, sollte zu einer Flüssigkeitszufuhr von mindestens zwei bis drei Liter pro Tag sowie einer NaCl-Supplementierung von 10g täglich geraten werden“, schreibt Professor Wolfgang von Scheidt aus Augsburg im Buch „Klinische Kardiologie“ (Springer-Verlag, 9. Aufl. 2023 ) mit Verweis auf eine Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) (Eur Heart J 2018; 39:1883-1948 ). Treten akut Symptome der OH auf, könne dem durch das schnelle Trinken von kaltem Wasser entgegengewirkt werden, ebenso bei postprandialer Hypotonie.
Änderung der Körperposition
Geraten wird bei drohender Ohnmacht außerdem zum Überkreuzen und Aneinanderpressen der Beine im Stehen („Cocktail-Party-Stellung“) oder zum Hinhocken – für ältere und kognitiv eingeschränkte Menschen sind das allerdings eher ungeeignete Tipps. Ein ähnlicher Effekt wird dem Jendrassik-Handgriff (gegensinniger Unterarmzug bei verschränkten Händen) zugeschrieben, zudem dem Vornüberbeugen oder dem Hochstellen eines Fußes auf einen Stuhl.
Die Oberkörper-Hochlagerung während der Nachtruhe bewirkt eine Abnahme der nächtlichen Natrium- und Urinausscheidung und damit eine Flüssigkeitsretention. Weiterhin mindern individuell angepasste Kompressionsstrümpfe das Versacken venösen Blutes in den Beinen. Auch Abdominalbandagen sollen den venösen Rückfluss verbessern.
Bei postprandialer Hypotonie kann es hilfreich sein, die Nahrungsaufnahme auf mehrere kleine Mahlzeiten pro Tag zu verteilen. Außerdem ist bei OH stets ein Training der Gefäßregulation durch körperliche Bewegung, Wechselduschen und/ oder Bürstenmassagen empfehlenswert.
Arzneimittel im Blick behalten
Bei medikamentöser Ursache der OH (Neuroleptika, Antidepressiva, Dopamin-Agonisten, Diuretika, Antihypertensiva) können Dosisreduktionen oder das Absetzen/Umstellen von Medikamenten angezeigt sein, bei ausgeprägter Hypertonie im Liegen werden Antihypertensiva zur Nacht gegeben. Eine Arbeitsgruppe der American Heart Association (AHA) hat Anfang 2024 darauf aufmerksam gemacht, dass gerade bei Hochdruckpatienten der Zusammenhang zwischen Hochdruck, medikamentöser Therapie und OH komplex ist.
Meist liege eine Kombination von autonomer Dysfunktion, Volumenmangel oder auch Medikamenten-Nebenwirkungen vor. Die therapeutische Herausforderung bestehe dann darin, „das eine zu behandeln, ohne das andere maßgeblich zu verschlechtern“ (Hypertension 2024; 81:e16-e30 ).
Daher ist es wichtig, die Ursache der OH zu ermitteln, um zu vermeiden, dass Maßnahmen wie das Zurückfahren der antihypertensiven Therapie dazu führen, dass sich die bestehende Hypertonie verschlechtert.
Eine Hypertonie im Stehen hat sich in einer Auswertung der ARIC-Studie als prognostisch ungünstiger erwiesen als eine Hypotension im Stehen, und zwar unabhängig davon, ob eine OH besteht oder nicht (Hypertension 2023; 80: 2437-2446 ). Erstlinien-Antihypertensiva, so die AHA-Arbeitsgruppe, verschlimmern bei essenzieller Hypertonie eine bestehende OH nicht. Eher sollten Alpha- oder Betablocker sowie zentral wirksame Sympatholytika abgesetzt oder reduziert werden.
Antihypertensiva sortiert nach ihrem Risiko für eine orthostatische Hypotonie (aufsteigend)
- Alpha-1-Blocker
- Zentrale alpha-Agonisten / Antisympathotonika
- Periphere Alpha-Agonisten
- Vasodilatierende Betablocker
- Betablocker
- Direkte Vasodilatatoren
- Nitrate
- Phosphodiesterase-Inhibitoren
- Nicht-Dihydropyridin-Calciumkanalblocker
- Schleifendiuretika
- Dihydropyridin-Calciumkanalblocker
- Thiazid-Diuretika
- Kaliumsparendes Diuretikum
- Aldosteronantagonist
- ACE-Hemmer
- AT1-Rezeptorantagonisten
Quelle: Hypertension 2024;81:e16-e30
Ergänzend medikamentöse Optionen einsetzen
Was medikamentöse Optionen bei OH angeht, wird bei autonom-neurogenen Formen der OH nach wie vor ergänzend zu den Allgemeinmaßnahmen Midodrin empfohlen, ein peripher wirksamer Alpha-2-Agonist. Als mögliche Alternativen nennt von Scheidt in seinem Buchbeitrag die Sympathomimetika Norfenefrin, Oxilofrin, den kombinierten Alpha- und Betarezeptor-Agonisten Etilefrin sowie Droxidopa (Dihydroxyphenylserin), ein oral verfügbarer Noradrenalinvorläufer.
Mit dem Mineralokortikoid Fludrocortison soll sich ebenfalls das zirkulierende Blutvolumen und der Blutdruck erhöhen lassen. Vorteil bei geriatrischen Patienten mit Multimedikation: Es muss nur einmal täglich eingenommen werden.
Aus einem Cochrane-Review geht jedoch hervor, dass erwünschte wie unerwünschte Wirkungen (Hypokaliämie, Knöchelödeme, Hypertonie im Liegen) bei Menschen mit OH und Diabetes oder Morbus Parkinson unsicher sind, es mangele an Langzeitdaten (Cochrane Database Syst Rev 2021; 5(5):CD012868 ).
In den amerikanischen und europäischen Leitlinien aus 2017 und 2018 wird Fludrocortison mit Evidenzlevel C (Expertenkonsens) aufgeführt. In Deutschland ist die Substanz nur zur Kurzzeittherapie zugelassen, in der Regel also für maximal zwei Monate (DGNeurologie 2023; 6:353-355 ). Prinzipiell gilt: Nach jeder Therapieumstellung sollten vor allem ältere Patientinnen und Patienten sorgfältig überwacht werden.
Quelle: Ärzte Zeitung