ADHS: Bald neue Definitionskriterien auch im ICD-11?

Bei der Kodierung der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) gelten in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern derzeit noch die im ICD-10 vorgegebenen Kriterien. Gleichwohl beobachtet der Mainzer Kinderpsychiater Prof. Dr. Michael Huss bereits die Tendenz, den im DSM-5 niedergeschriebenen und seit 2015 auch in deutscher Übersetzung verfügbaren Kriterien zu folgen. Diese Tendenz hat offenbar gute Gründe: Auf dem Pädiatrie-Udpate-Seminar 2016 begrüßte Huss die bei der ADHS vorgenommenen Änderungen etwa bezüglich Komorbiditäten und neuen Altersgrenzen. Mit der aus wissenschaftlicher Hinsicht sinnvollen Anhebung der Altersgrenze für das erstmalige Auftreten von beeinträchtigenden Symptomen von sieben auf zwölf Jahre ergeben sich für Kinder- und Jugendpsychiater in der Praxis allerdings nun erhebliche differentialdiagnostische Herausforderungen – etwa dann, wenn es um die Abgrenzung gegenüber später einsetzenden Verhaltensauffälligkeiten beispielsweise aus dem affektiven Bereich geht. Mit dem Einsetzen der Pubertät steigt die Inzidenz von Depressionen und Dysthymien, welche ihrerseits in aller Regel auch mit Konzentrationsproblemen und Störungen der Exekutivfunktionen einhergehen. Von Huss ausdrücklich begrüßt wurde auch die Tatsache, dass die neuen DSM-5-Kriterien nun auch dem Autismusspektrum zuzuordnende Störungen als Komorbidität zulassen, sieht der Mainzer Jugendpsychiater doch einen diesbezüglich hohen Überschneidungsbereich. Dies schaffe auch therapeutisch sinnvolle neue Optionen für kombinierte Therapieansätze und ermögliche zudem die Berücksichtigung schwächerer Ausprägungsmuster (autistoide Muster). Mehrarbeit verschaffen die neuen DSM-5-Kriterien den im ADHS-Umfeld tätigen Ärzten insofern, als nach Maßgabe des „multi-informant approach“ nun zwingend die Abfrage von zwei unabhängigen Informationsquellen gefordert wird – beispielsweise Schule und Elternhaus. „Brillantes Nutzen-Risiko-Verhältnis der Stimulanzientherapie“ Von hartnäckigen Kritikern nach wie vor als eine Art „chemischer Plattmacher“ verteufelt, verfügt die von Huss als medikamentöse First-Line-Therapie propagierte Behandlung mit Stimulanzien tatsächlich über ein „brillantes Nutzen-Risiko-Verhältnis.“ Die Tatsache, dass sich die Diagnose einer ADHS – nicht anders als bei anderen psychischen Störungen – nicht objektivieren lasse, stehe dem nicht in geringster Weise entgegen. Wann man mit einer solchen Therapie beginnt, ist keine Frage der klinischen Symptome, sondern ausschließlich eine Frage des Funktionsniveaus. „Das Funktionsniveau entscheidet, ob man Medikamente gibt oder nicht.“ Droht dem Kind der Rauswurf aus der Schule, stehen die Eltern kurz vor der Trennung oder wird das Kind sozial geschnitten und zu keinem Geburtstag mehr eingeladen, lohne es sich allemal, über eine medikamentöse Therapie nachzudenken. Erweist sich eine initiale Stimulanzientherapie – sei es in retardierter oder unretardierter Form – als unzureichend wirksam, stehen nach deutschem Zulassungsstatus Amphetamine als Second-Line-Produkte zur Verfügung (international sind diese auch in der Erstlinientherapie erlaubt). Reicht auch das nicht, käme der Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Atomoxetin und seit Februar 2016 auch der im Frontalhirn neuromodulatorisch wirksame alpha-2A-Agonist Guanfacin in Betracht. Letzterer besitzt nach Angaben von Huss den Vorteil, auch nach einer Vorbehandlung mit Methylphenidat (MPH) noch über sein volles Wirkpotenzial zu verfügen. Atomoxetin dagegen wirke nach MPH-Vorbehandlung nicht mehr so stark. Allerdings sei Guanfacin dafür hinsichtlich des Nebenwirkungsspektrums nicht ganz unproblematisch. Gerade zu Therapiebeginn mache Ärzten wie Patienten das sog. SSF (Somnolence, Sedation, Fatigue)-Cluster zu schaffen. × e.Med-Abonnenten erhalten bis zu € 125,- Rabatt Suchtentwicklung nicht belegt Immer wieder wird für eine Stimulanzientherapie mit Amphetaminen und auch mit Methylphenidat ein Sucht-erzeugender Effekt in den Raum gestellt. Ergebnisse einer von Huss vorgestellten Metaanalyse, welche eben dieser Frage auf den Grund gegangen ist, geben diesbezüglich Entwarnung [1]. Es fanden sich demnach weder Sucht-fördernde noch Sucht-protektive Effekte. Im Falle einer Suchterkrankung als komorbider Störung ist die Indikation für eine Stimulanzientherapie im Einzelfall kritisch zu prüfen. Dass eine Nicht-Behandlung bei ADHS-Patienten fatale Folgen haben kann, darauf weisen von Huss vorgestellte Registerdaten aus Schweden hin [2]. So ergab die Auswertung von Datensätzen bei über 25000 ADHS-Patienten, dass in Phasen der medikamentösen Behandlung – ob mit Stimulans oder Non-Stimulans – die Kriminalitätsrate deutlich sinkt (32% bei Frauen und 41% bei Männern). Literatur [1] Humphreys KL et al. JAMA Psychiatry 2013;70:740-749. [2] Lichtenstein P et al. N Engl J Med 2012;367:2006-2014.

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