Hintergrund und Fragestellung
Über die letzten Jahre zeigt sich in Deutschland eine deutliche Zunahme der Kindeswohlgefährdungen. Im Jahr 2021 haben die Jugendämter bei über 59.900 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt festgestellt. Insbesondere bei körperlicher Gewalt (13 %, [
1]) ist die Haut das am häufigsten betroffene Organ mit Hämatomen, Schnittwunden, thermischen Verletzungen usw. [
2]. Das Erkennen und die differenzialdiagnostische Aufarbeitung nichtakzidenteller Blutungszeichen, insbesondere in Bezug auf das notwendige Ausmaß der Gerinnungsdiagnostik, sowie die Interpretation von Gerinnungsbefunden, stellen immer wieder eine große Herausforderung dar. Die 2018 veröffentliche und sich derzeit in Überarbeitung befindende „Kinderschutzleitlinie“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) beinhaltet Handlungsempfehlungen zum Schutz und zur Förderung von Kindern und Jugendlichen [
3]. Alle Fachkräfte aus den Bereichen des Gesundheitswesens, der Jugendhilfe und Pädagogik sollen sowohl für das Erkennen und den Umgang mit einer Kindesmisshandlung, -vernachlässigung oder einem sexuellen Missbrauch als auch für die Vermittlung von Unterstützungen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sensibilisiert und darin unterstützt werden. Eine rechtliche Grundlage bildet das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). Ziel des vorliegenden Konsensus-Statements der Ständigen Kommission Pädiatrie der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e. V. (GTH) ist es, zusätzlich zur AWMF-Leitlinie eine Handlungsempfehlung zur strukturierten, differenzialdiagnostischen Aufarbeitung bei V. a. nichtakzidentelle Blutungen und zur Interpretation von hämostaseologischen Laborbefunden zu geben.
Delphi-Konsensusverfahren
Teilnehmende
Zur Etablierung von Konsensempfehlungen wurde ein Delphi-Konsensusverfahren [
4‐
6] innerhalb der Mitglieder der Ständigen Kommission Pädiatrie der GTH durchgeführt.
Prozess
Nach einer Literaturrecherche zum Thema „Gerinnungsdiagnostik bei nichtakzidentellen Blutungen im Kindesalter“ wurden durch die Arbeitsgruppe „Kindesmisshandlung“ der Ständigen Kommission Pädiatrie insgesamt 15 Empfehlungen verfasst und zur Konsensfindung mithilfe von LimeSurvey an alle Mitglieder der Kommission verschickt. Die Mitglieder konnten auf einer Skala von 1 (ich stimme überhaupt nicht zu) bis 9 (ich stimme zu) die einzelnen Empfehlungen bewerten. Als Zustimmung wurde ein Score ≥ 7 gewertet. Eine Zustimmung ≥ 75 % gilt als Konsens, ≥ 95 % als starker Konsens. Zusätzlich wurden die Teilnehmer aufgefordert, bei fehlender Zustimmung (Score ≤ 6) einen Kommentar für die Ablehnung abzugeben.
Alle Mitglieder der Ständigen Kommission Pädiatrie (n = 124) wurden per E‑Mail angeschrieben, um an der Konsensusfindung teilzunehmen. Insgesamt haben 32 Mitglieder (25,8 %) an der Umfrage teilgenommen. Durchschnittlich wurden die Empfehlungen von 29 Teilnehmern (23,4 %, Range 28 bis 29 Teilnehmer) bewertet.
Empfehlungen
Ein starker Konsens (≥ 95 %ige Zustimmung) wurde bei folgenden 8 Fragestellungen erreicht:
Ein Konsens (≥ 75 %ige Zustimmung) wurde in 6 Fragestellungen erreicht:
Kein Konsens (< 75 %) wurde in einer Fragestellung erreicht:
Diskussion
Das Erkennen und die differenzialdiagnostische Aufarbeitung einer mutmaßlichen Kindeswohlgefährdung stellen die involvierte Gruppe von Betreuern und Ärzten immer wieder vor große Herausforderungen. Einerseits führt die Kindeswohlgefährdung zu einem hohen Risiko für Morbidität und auch erhöhter Mortalität, andererseits sind falsche Anschuldigen mit einer extremen psychischen Belastung und traumatischen Erfahrungen für Eltern und Familien verbunden. Zwar existieren Leitlinien [
3] und Empfehlungen [
7‐
9] zum diagnostischen Vorgehen bei klinischen Blutungsmanifestationen, wie Hämatomen, zerebralen oder retinalen Blutungen. Dennoch ist die Interpretation von Gerinnungsbefunden leicht unterhalb der Referenzbereiche, wie sie beim Vorliegen milder hämorrhagischer Störungen möglich sind, im Einzelfall oft schwierig und gelingt nur bei interdisziplinärer Abstimmung unter Einbeziehung verschiedener Fachgebiete im Kinderschutzteam, wozu dann auch ein Hämostaseologe gehören sollte.
Die konsentierten Empfehlungen der Ständigen Kommission Pädiatrie der GTH sollen als Hilfestellung bei der Abklärung einer möglichen Gerinnungsstörung und der Befundinterpretation dienen sowie gutachterliche Stellungnahmen erleichtern. Mit Ausnahme einer Empfehlung konnten Konsense bis starke Konsense erzielt werden. Lediglich die Empfehlung „Beim Vorliegen eindeutiger misshandlungsbedingter Begleitverletzungen ist individuell zu entscheiden, ob eine erweiterte Gerinnungsdiagnostik sinnvoll ist“ konnte keinen Konsens erzielen. Dies hat aus unserer Sicht a. e. forensische Gründe, denn selbst bei eindeutiger Misshandlungssituation sollte nicht auf eine erweiterte Gerinnungsdiagnostik verzichtet werden, um auch das Vorliegen einer zusätzlichen Blutungsneigung zu erfassen. Dies kann ggf. für die Beurteilung des Ausmaßes der misshandlungsbedingten Blutung von Bedeutung sein.
Die Abklärung sollte gemäß den in der S3-Leitlinie dargestellten Algorithmen und je nach Möglichkeiten vor Ort bzw. nach Probenversand oder Vorstellung des Patienten in einer pädiatrischen Gerinnungsambulanz erfolgen.
Entscheidend bei der Interpretation von Befunden ist sicherlich der Konsens darüber, dass milde erworbene oder angeborene Gerinnungsstörungen weder spontan noch im Rahmen von Bagatelltraumata zu bedrohlichen Blutungen, wie z. B. einer Hirnblutung, führen, aber auch, dass die schütteltraumatypischen retinalen Blutungen kein Symptom von angeborenen oder erworbenen Gerinnungsstörungen sind.
Fazit für die Praxis
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Die Erhebung einer standardisierten Eigen- und Familienanamnese sowie eine Stufendiagnostik, die alle potenziellen Gerinnungsstörungen erfasst, stellen die Säulen der Abklärung nichtakzidenteller Blutungssymptome dar.
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Die Möglichkeiten der genetischen Gerinnungsdiagnostik sollten frühzeitig in Erwägung gezogen werden, insbesondere wenn eine anderweitige gerinnungsdiagnostische Abklärung nicht möglich ist.
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Milde Blutungsneigungen sind nicht ursächlich für spontane oder schwere Blutungen im Rahmen von Bagatelltraumata.
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Retinale Blutungen sind kein Symptom einer Gerinnungsstörung, sondern eines Schütteltraumas.
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Bei der Abklärung der unklaren, misshandlungsverdächtigen Blutungsneigung sollte differenzialdiagnostisch nicht nur an das Vorliegen einer Gerinnungsstörung, sondern auch an eine Stoffwechselstörung und Gefäßerkrankung gedacht werden.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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