Wie Umfragen zeigen, kommen in der ärztlichen Praxis häufig unspezifische Therapien und Placebos sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern zum Einsatz. Allerdings wirft dieses Vorgehen ethische Fragen auf, da es ohne ausreichende Aufklärung und informierte Zustimmung der Patientinnen und Patienten bzw. der Erziehungsberechtigten erfolgt. Bei manchen Beschwerden wirken jedoch auch offene Placebos (engl.: „open-label placebos“, OLPs), die ohne Täuschung verabreicht werden. Die bisher durchgeführten Studien mit Kindern zeigen, dass OLPs zur Symptomreduktion bei verschiedenen Erkrankungen beitragen und gesundheitsförderliches Verhalten unterstützen können. Bei den Eltern finden sich jedoch polarisierte Einstellungen bezüglich der Verwendung von OLPs. Deshalb ist eine ausreichende Informationsvermittlung über diesen neuen Placeboansatz eine grundlegende Voraussetzung, um positive Wirkungen erzielen zu können.
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Umfragen zeigen, dass viele Ärztinnen und Ärzte in ihrer klinischen Praxis Placebos und unspezifische Therapien anwenden. Eine systematische Übersichtsarbeit mit Metaanalyse von 16 Studien aus 13 Ländern [1] ergab, dass insbesondere Hausärztinnen und Hausärzte regelmäßig Placebos einsetzen – je nach Studie gaben zwischen 15 % und 89 % an, dies mindestens einmal pro Monat zu tun. Auf die Einsatzbereiche angesprochen, berichteten sie, Placebos vor allem bei unspezifischen Beschwerden oder leichten Erkrankungen zu verwenden sowie als Begleittherapie bei chronisch kranken Patientinnen und Patienten, die keine aus ihrer Sicht zufriedenstellende fachärztliche Behandlung erhalten hatten.
Was sind verdeckte Placebos?
Placebos werden in der Regel verdeckt verabreicht. Dies bedeutet, dass die Patienten und Patientinnen wirkstofffreie Tabletten oder andere inerte Maßnahmen (z. B. eine Injektion mit Kochsalzlösung) erhalten, die keine spezifische therapeutische Wirkung auf ein Symptom bzw. eine Erkrankung haben. Diese Tatsache wird ihnen jedoch verschwiegen, und es wird suggeriert, dass es sich bei dem Placebo um ein Medikament handelt. Studien zeigen, dass die Herstellung einer zuversichtlichen Erwartungshaltung bezüglich der Intervention und positive Lernerfahrungen mit vorherigen Behandlungen (z. B. Tabletteneinnahme) zentral für die Stärke des resultierenden Placeboeffektes sind.
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Neben reinen Placebos (z. B. eine Zuckerpille, die als Schmerztablette deklariert wird) gibt es auch unreine Placebos bzw. unspezifische Therapien. Hier werden aktive Wirksubstanzen eingesetzt, die jedoch in der gewählten Dosierung/Art nicht spezifisch wirken können. Ein Beispiel wäre die Vergabe eines Vitaminpräparats ohne nachgewiesenen Mangel.
Die Forschung zu verdeckten Placebos zeigt, dass sich Menschen in ihrer Placeboreaktivität unterscheiden, wobei sich bei manchen Patienten und Patientinnen deutliche Verbesserungen im Befinden bezüglich Schmerzen, Müdigkeit, Angst oder Traurigkeit nach Placebobehandlung einstellen, wobei andere als Non-Responder einzustufen sind.
Die Faktoren, die die Placebo-Reaktivität vorhersagen können, sind bisher noch nicht ausreichend geklärt
Kinder sprechen in der Regel stärker auf Placebos an als Erwachsene [2]. Diese Aussage stützt sich auf Ergebnisse klinischer Studien, in denen Placebos als Kontrollbedingung zur Überprüfung der Wirksamkeit eines aktiven Medikaments (Verum) eingesetzt wurden. Eine mögliche Erklärung für größere Placeboeffekte bei Kindern könnte in ihrer Suggestibilität liegen, die zu einer positiveren Erwartungshaltung beiträgt. Darüber hinaus spielen auch Eltern oder Betreuungspersonen eine Rolle: Schenken diese den Symptomen der Kinder mehr Aufmerksamkeit oder verändern ihr eigenes Verhalten, weil sie von der Effektivität einer Behandlung überzeugt sind, kann dies wiederum positive Verhaltensänderungen bei den Kindern auslösen – ein Phänomen, das als „placebo by proxy“ bezeichnet wird. Generell ist zu berücksichtigen, dass die Erwartungen von Patienten und Patientinnen gegenüber einer Therapie nicht nur auf eigenen Erfahrungen und Hoffnungen basieren, sondern in einem sozialen Kontext entstehen, in dem Bezugspersonen (z. B. Eltern) aktiv auf Symptomveränderungen reagieren.
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Was sind offene Placebos?
Placebos ohne das Wissen und die informierte Zustimmung der Patientinnen und Patienten zu verschreiben, wirft ethische Fragen in Bezug auf Ehrlichkeit, Selbstbestimmung und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient auf. Als Alternative können sog. offene Placebos (engl.: „open-label placebos“, OLPs) verwendet werden, die transparent verabreicht werden. Eine in der Forschung häufig eingesetzte Erklärung des OLP-Konzeptes bezieht sich auf vier zentrale Punkte: (a) „Der Placeboeffekt ist groß, (b) der Körper kann automatisch auf die Einnahme von Placebopillen reagieren – ähnlich wie Pawlows Hunde, die beim Hören einer Glocke speichelten, (c) eine positive Einstellung ist hilfreich, aber nicht notwendig, und (d) die regelmäßige Einnahme der Pillen ist entscheidend“ ([3, S. 2], deutsche Übersetzung). Für die Wirkung von OLPs ist es somit zentral, dass Patienten und Patientinnen eine Erklärung dafür gegeben wird, warum offene Placebos wirken. Ist ein solches Rational plausibel und nachvollziehbar, können unterschiedliche Symptome und Erkrankungen positiv beeinflusst werden, wie chronische Rückenschmerzen, krebsbedingte Fatigue, Reizdarmsyndrom und Hitzewallungen in den Wechseljahren, wie eine Metaanalyse zeigt [4]. Auch im nichtklinischen Bereich mit gesunden Erwachsenen haben OLPs zur Verbesserung des Befindens geführt (u. a. Reduktion von Angst und Stressempfinden). Die Effektstärken sind dabei klein bis mittel.
Bei Kindern sind die Effekte von OLPs noch wenig untersucht. Bislang wurden lediglich drei klinische Studien dazu durchgeführt [5‐7]. Diese fokussierten auf Diagnosen wie Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und gastrointestinale Störungen (funktionelle Bauchschmerzen, Reizdarmsyndrom). Die OLP-Behandlung führte zu einer Reduktion der Medikamenteneinnahme (Stimulanzien bzw. Spasmolytika) und zu einer Verringerung der berichteten Symptome. Darüber hinaus empfand die Mehrheit der Behandelten die Placebos als hilfreich, und es wurden keine negativen Effekte berichtet.
Offene Placebos zur Beeinflussung von Appetit und Gewicht
Placebos können Appetit und die damit assoziierte Nahrungsaufnahme bei Erwachsenen verringern, unabhängig davon, ob sie mit oder ohne Täuschung verabreicht werden. Allerdings ist die Wirkung bei offenen im Vergleich zu verdeckten Placebos geringer und kurzlebiger [8].
Die Wirkung von OLPs auf den Appetit bei Kindern und Jugendlichen wurde bisher nur in einer Studie untersucht [9]. Dabei betrachteten die Teilnehmenden, die in zwei Altersgruppen unterteilt waren (Jugendliche: 16 bis 18 Jahre und Kinder: 8 bis 12 Jahre) Bilder mit unterschiedlichen Nahrungsmitteln, u. a. Süßigkeiten wie Eis und Schokolade. Nach jedem Bild wurden sie gefragt, wie gerne sie das betrachtete Nahrungsmittel essen würden. Als offenes Placebo diente ein Pumpspray mit blau eingefärbtem Wasser zur oralen Einnahme. Auf der Sprühflasche fand sich ein Etikett mit der Aufschrift „Placebo – für weniger Appetit“. Die Teilnehmenden wurden per Zufall einer von zwei Gruppen zugeteilt, die vor der Bildbetrachtung das OLP (drei Pumpstöße) oder kein OLP erhielten. Außerdem wurde eine kurze Information zu Placebos und deren Wirkung gegeben mit Darstellung wissenschaftlicher Befunde. Es zeigte sich, dass das OLP bei Kindern effektiv den berichteten Appetit reduzierte (Abb. 1), während dieser Effekt bei Jugendlichen ausblieb. Letztere äußerten sich skeptisch gegenüber dem Konzept offener Placebos und gaben an, deren Wirksamkeit setze ihrer Ansicht nach Täuschung voraus.
Abb. 1
Durchschnittliche Appetitbewertungen für Nahrungsmittelbilder in der Open-Label-Placebo-Gruppe (OLP) und Kontrollgruppe (ohne OLP) von Kindern (8–12 Jahre) und Jugendlichen (16–18 Jahre); Skala von 0–100 (großer Appetit); Fehlerbalken stellen 95 % Konfidenzintervalle dar. ***p < 0,001
Rückmeldungen bezüglich der Einstellung zu OLPs wurden auch in verschiedenen Studien mit Erwachsenen erfragt. So zeigte eine Studie von Haas et al. [10], dass Laien größere Erfolgserwartungen bezüglich verdeckter im Vergleich zu offenen Placebos hatten und überraschenderweise die Anwendung von Placebos mit Täuschung als akzeptabler einstuften.
Eine weitere Umfrage [11], adressiert an die Allgemeinbevölkerung, stellte die Frage: „Würden Sie eine Placebo-Pille einnehmen oder ihrem Kind geben?“ Hier wurde deutlich, dass OLPs polarisieren. Ein Drittel der Eltern lehnte diese Art der Behandlung strikt ab und hielt eine Wirkung für nicht plausibel, während ein weiteres Drittel OLPs sehr positiv gegenüberstand und angab, diese bei sich selbst sowie bei den eigenen Kindern ausprobieren zu wollen (die übrigen Teilnehmenden waren unentschieden). Eine Folgebefragung machte deutlich, dass Personen mit einer positiven Einstellung gegenüber ganzheitlicher und komplementärmedizinischer Behandlung (im Vergleich zur Schulmedizin) eher OLPs als Therapieoption akzeptieren.
Einsatzmöglichkeiten von OLPs bei Kindern
Die Anwendung offener Placebos konnte zur Linderung von Symptomen bei Kindern mit Diagnosen wie ADHS und gastrointestinalen Störungen beitragen. Dabei ist zu bedenken, dass die Behandelten zusätzlich eine pharmakologische Therapie mit Stimulanzien bzw. Spasmolytika erhielten. Durch die begleitende Gabe von OLPs konnte die Medikamentendosis reduziert werden. Diese durch OLPs ermöglichte Dosisreduktion stellt eine vielversprechende Perspektive für den therapeutischen Einsatz von OLPs dar.
Zum anderen können Placebo-Behandlungen die Adhärenz sowie Motivation von Patientinnen und Patienten fördern. Verschiedene Studien zeigen, dass OLPs dazu beitragen, therapeutische Maßnahmen häufiger umzusetzen. Dazu zählen beispielsweise die regelmäßige Durchführung therapeutischer Hausaufgaben im Rahmen einer Psychotherapie bei Patientinnen mit der Diagnose Depression sowie eine verbesserte Compliance bei wiederholtem Entspannungstraining [12]. Eine Studie mit Kindergartenkindern ergab, dass OLPs die Motivation zur körperlichen Aktivität steigern können [13]. Offene Placebos sind somit zur Förderung gesundheitsbezogenen Verhaltens einsetzbar.
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Fazit
Der Placeboeffekt lässt sich auch nutzen, ohne Patienten/Patientinnen und Erziehungsberechtigte zu täuschen. Eine ausreichende Aufklärung bezüglich des Konzeptes ist jedoch notwendig, um positive Wirkungen zu erzielen. Diese beziehen sich insbesondere auf die Möglichkeit zur Reduktion von Medikamentendosen sowie der Verbesserung der Adhärenz gegenüber therapeutischen Maßnahmen. Außerdem können OLPs dazu genutzt werden, die Aufmerksamkeit auf Symptome zu lenken und durch gezielte Selbstbeobachtung die Selbstregulation der Patienten und Patientinnen zu unterstützen.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
A. Schienle gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die von der Autorin durchgeführten und beschriebenen Studien wurde von der Ethikkommission der Universität Graz geprüft und befürwortet.
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Stopper M, Wabnegger A, Schienle A (2024) Placebo effects on the enjoyment of physical activity and performance among kindergarten children: a randomized controlled trial. Eur J Investig Health Psychol Educ 14(8):2435–2444. https://doi.org/10.3390/ejihpe14080161CrossRefPubMedPubMedCentral
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