„Gedankenübertragung“ ans Rückenmark lässt Gelähmten wieder gehen

Ein Querschnittsgelähmter kann Kraft seiner Gedanken und epiduraler Stimulation für kurze Zeit wieder relativ normal gehen: Möglich machen dies kortikale Implantate, die mit einem Stimulator am Rückenmark verbunden sind. Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels. Einige Schritte mit einem Rollator gehen klappt ganz gut, auch vorsichtiges Treppensteigen ist möglich. Dafür, dass Gert-Jan Oskam über zehn Jahre einen Rollstuhl benötigt hat, ein großer Erfolg. Ein Team um den Neuroforscher Professor Grégoire Courtine von der École Polytechnique Fédérale de Lausanne sorgt wieder einmal für Schlagzeilen: Erneut ist es den Forschenden gelungen, die epidurale Stimulation des Rückenmarks zu verbessern. Oskam kann jetzt wieder willkürlich seine Beinmuskulatur bedienen. Dafür sorgen zwei epidurale Implantate im Gehirn sowie ein Computer, der aus den kortikalen Signalen die richtigen Schlüsse zieht und Elektroden am Rückenmark steuert. Methode nicht für alle Querschnittsgelähmten geeignet Die neue digitale Hirn-Rückenmark-Schnittstelle (Brain Spine Interface, BSI) basiert auf einem zuvor schon erprobten System der Forschenden aus Lausanne: Über epidural angebrachte Elektroden bespielen sie einzelne Hinterwurzeln im Rückenmark mit räumlich-zeitlichen Aktivierungsmustern, wie sie etwa beim Gehen üblich sind. Solche Muster haben die Forschenden bei gesunden Probanden per EMG abgeleitet, verfeinert und individuell auf die Patienten abgestimmt. Damit erreichen sie die noch vorhandenen Motoneuronen im Rückenmark. So soll im Rückenmark unterhalb der Läsion wieder ein Aktivierungsmuster entstehen, wie dies beim normalen Gehen üblich ist. Das klappt auch dann noch, wenn die Betroffenen komplett gelähmt sind und keinerlei sensorische oder motorische Restfunktion jenseits der Rückenmarksläsion aufweisen, konnte das Team um Courtine in einer Publikation aus dem vergangenen Jahr zeigen (siehe Bericht). Allerdings müssen noch einige motorische Fasern existieren, welche die Rückenmarksläsion überbrücken und sensomotorische Netzwerke jenseits der Läsion aufrecht erhalten, selbst wenn sie für eine motorische Funktion zu schwach sind – man spricht hier von einer diskompletten Lähmung. Die noch vorhandene Aktivität der willkürlich steuerbaren Netzwerke soll durch die Elektrostimulation auf ein Erregungsniveau gehoben werden, das wieder eine selbstständige Bewegung ermöglicht. Da viele Querschnittsgelähmte nicht mehr über genügend überbrückende motorische Fasern verfügen, ist eine solche Behandlung nur für einen gewissen Teil der Betroffenen eine Option. Der 40-jährige Gert-Jan Oskam hatte nach einem Motorradunfall zehn Jahre zuvor noch genügend läsionsüberbrückende Nervenfasern und war bereits für die erste Versuchsreihe ausgewählt worden. Mit dem ersten spinalen epiduralen Stimulator hatte er drei Jahre lang trainiert und konnte auch wieder eine gewisse Gehfähigkeit erlangen, erzielte schließlich aber keine weiteren Verbesserungen mehr. Die Ärztinnen und Ärzte um Courtine gingen davon aus, dass eine willkürliche Steuerung des Stimulators über die BSI präzisere und besser angepasste Gehbewegungen erlaubt als die bisherige Kontrolle über tragbare Bewegungssensoren. Diese initiieren und modulieren über residuale oder kompensatorische Bewegungen die Gehprogramme – dabei werden weitgehend vorprogrammierte, roboterhafte Bewegungsabläufe induziert. Das BSI soll nun ein besseres Feintuning und somit natürlichere Bewegungen ermöglichen. Für den Versuch implantierten die Neuroforscher dem Mann beidseitig je ein Implantat mit 64 Elektroden über dem sensomotorischen Kortex. Dazu schnitten sie ihm zwei Schädelstücke heraus und pflanzten an deren Stelle jeweils eine Titanbox mit einem Durchmesser von 5 cm und dem Elektrodenarray ein. Die Elektroden haben direkten Kontakt mit der Dura mater. Über den Boxen trägt Oskam eine Art Kopfhörer, welche die Elektroden zum einen mit Induktionsstrom versorgen, zum anderen die abgeleiteten kortikalen Signale per Funk an einen Computer senden. Dieser dekodiert die Signale und sendet drahtlos Stimulationsbefehle an einen implantierten Impulsgeber, sofern er Hinweise auf eine geplante Willkürbewegung im Kortex erkennt. Verwendet wird ein Impulsgeber, wie er auch in der tiefen Hirnstimulation zur Anwendung kommt. Dieser ist per Draht mit einem 16-Elektroden-Array verbunden, das zuvor schon epidural über dem lumbosakralen Rückenmark implantiert worden war. Natürlichere Bewegungen Nach einer kurzen Kalibrierungsphase war der Mann bereits in der ersten Trainingssitzung in der Lage, im Liegen die Beugung an Hüft-, Knie und Sprunggelenk relativ präzise zu kontrollieren, indem er willentliche Bewegungen versuchte und dadurch entsprechende motorische Signale im Kortex erzeugte. In weiteren Trainingssitzungen wurden die Bewegungsabläufe feinjustiert. Oskam kann damit nun willentlich gehen, anhalten und stehenbleiben, ohne dass es zu Fehlbewegungen kommt. Das geht zwar recht langsam und sieht etwas holprig aus, ist für den Mann aber dennoch ein Fortschritt: „Zuvor hat die Stimulation mich kontrolliert, nun steuere ich die Stimulation mit meinen Gedanken“, so Oskam gegenüber der Zeitschrift „Nature“. „Das fühlt sich natürlicher an als mit den Beinsensoren zuvor“, erläutert er in einem Video zur Publikation. Darüber hinaus hat das Verfahren weitere Vorteile: „Ich kann größere Schritte machen, zu jeder Zeit anhalten und weitergehen, wann immer ich will. Das war so zuvor nicht möglich.“ Nach einem Jahr Training mit dem BSI kann er auch wieder ohne fremde Hilfe und ohne das System einige Schritte mit Krücken gehen. Inzwischen hat der Mann einen Rollator mit integriertem Computer bekommen und bedient damit das BSI komplett selbständig. Dazu muss er aber erst die gewünschte Aktivität einstellen und das System etwa fünf Minuten kalibrieren. So ganz einfach ist der Umgang mit dem BSI also noch nicht. Das Wichtigste in Kürze Frage: Wie gut können Querschnittsgelähmte ihre Bewegungen über eine Gehirn-Rückenmark-Schnittstelle steuern? Antwort: In einem ersten Versuch ließen sich damit Gehbewegungen wieder willkürlich kontrollieren. Das Feintuning funktioniert besser als bei einer Steuerung per Bewegungssensoren. Bedeutung: Eine solche Schnittstelle kann das selbstständige Gehen von bestimmten Personen mit Querschnittslähmung weiter verbessern. Einschränkung: Bisher nur bei einer Person erprobt.

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