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Erschienen in:

Open Access 02.10.2024 | Persönlichkeitsstörungen | CME

Was heißt schon normal? Was man in der hausärztlichen Praxis über Persönlichkeitsstörungen wissen sollte

verfasst von: Prof. Dr. med. Thomas Kühlein, Gabriel Hasan, Dr. med. Anja Deinzer, Dr. rer. biol. hum, Dipl. Psych. Andrea Silbermann

Erschienen in: Zeitschrift für Allgemeinmedizin | Ausgabe 7/2024

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Zusammenfassung

Persönlichkeitsstörungen sind häufig, bleiben oft undiagnostiziert oder verstecken sich hinter anderen psychiatrischen Diagnosen wie Angst oder Depression. Auffällige Verhaltensweisen sind emotionale Instabilität, selbstbeschädigendes Verhalten und ein schwieriger Beziehungsaufbau. Die Diagnose sollte fachärztlich und strukturiert erfolgen und den Patientinnen und Patienten mitgeteilt werden. Vor allem für die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist der Nutzen einer spezifischen Psychotherapie gesichert. Medikamentöse Therapien mit Psychopharmaka sind zu vermeiden. Am Thema der Persönlichkeitsstörungen manifestiert sich aktuell ein Wandel in der Psychiatrie. Das alte Denken in Krankheitskategorien wird zunehmend durch eine dimensionale Beschreibung psychischer Störungen abgelöst werden. Wie schnell das passieren wird und ob dieser neue Ansatz erfolgreicher sein wird als der alte, muss abgewartet werden.
Hinweise

Wissenschaftliche Leitung

Sandra Blumenthal, Berlin
Jana Husemann, Hamburg
Für M.L., B.M. und viele andere, in der Hoffnung und im Bemühen, besser zu verstehen.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Lernziele

Nach Lesen des vorliegenden Artikels wissen Sie, …
  • was eine Persönlichkeitsstörung ist und welche Formen unterschieden werden,
  • um den Unterschied zwischen kategorialer Benennung und dimensionaler Beschreibung psychiatrischer Krankheiten,
  • wie Sie Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, insbesondere vom Borderline-Typ, besser in Ihrer Praxis erkennen können,
  • warum die meisten Vorurteile gegenüber Menschen mit Persönlichkeitsstörungen falsch sind,
  • Bescheid über die wichtigsten Therapieformen für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, insbesondere vom Borderline-Typ.

Übertragung und Gegenübertragung

Wissen Sie, was ein „heart sink patient“ ist? Das sind Menschen, bei denen Ihnen, wenn sie in der Wartezimmerliste auftauchen, das Herz in die Hose rutscht [1]. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen gehören häufig dazu. Wir reagieren emotional, also menschlich, nicht professionell. Umgekehrt betrachtet, dürften einige dieser Patientinnen und Patienten ähnliche Gefühle haben, wenn sie dem „heart sink doctor“ begegnen [2]. Es passiert also etwas zwischen uns. Man nennt das Übertragung und Gegenübertragung. Wir könnten es wahrnehmen und als Chance begreifen.
Persönlichkeitsstörungen sind häufig, und die betroffenen Menschen konsultieren überproportional häufig hausärztliche Praxen, meist nicht wegen der Persönlichkeitsstörung, aber immer mit ihr. Es wird angegeben, dass sie 25 % der Patientinnen und Patienten in hausärztlichen Praxen, 50 % in psychiatrischen Ambulanzen und zwei Drittel der Insassen von Gefängnissen ausmachen [3]. Hausärztinnen und Hausärzte empfinden v. a. Menschen mit manchen Formen von Persönlichkeitsstörung als chaotisch, unzuverlässig, zeitraubend und überfordernd. Sie haben das Gefühl, selbst nicht genug über das Problem zu wissen, und fühlen sich von psychiatrischer Seite nicht genügend unterstützt. Nicht nur mit den zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch mit den organisatorischen Anforderungen des Praxisablaufs will es bei diesen Menschen nicht so recht klappen. In der hausärztlichen Praxis ist jedoch die Beziehung der tragende Kern. Nach Rainer Sachse sind Persönlichkeitsstörungen gar keine eigentlichen Störungen im Gefüge der Person, sondern Beziehungsstörungen bzw. Interaktionsstörungen aufgrund gelernter, dysfunktionaler Selbst- und Beziehungsschemata. Sein Buch „Persönlichkeitsstörungen verstehen“ ist nicht zu dick, leicht zu lesen und sehr hilfreich [4]!
Merke
Persönlichkeitsstörungen sind häufig, und die betroffenen Menschen konsultieren überproportional häufig hausärztliche Praxen.
Wir Behandlerinnen und Behandler werden als Interaktionspartner, oft ohne es rechtzeitig wahrzunehmen, zum Teil des Problems (z. B. verspreche zu viel, kümmere mich zunächst sehr, dann nicht mehr, weil Patientin oder Patient nervt, nehme Kritik persönlich und gehe in Machtkampf, mache Vorwürfe, unterstelle Incompliance etc.). In diesem Kampf wird vielfach die Diagnose nicht gestellt oder bleibt hinter Diagnosen wie Depression oder Angst verborgen [5]. Dabei würde diese Diagnose nicht nur diesen Menschen und uns einiges erklären. Eine unerkannte Persönlichkeitsstörung hinter einer anderen Diagnose bleibt unbehandelt und verschlechtert deren Prognose [6]. Die betroffenen Menschen brauchen Zeit. Unsere Kultur der Beschleunigung und Effizienz, des Wettbewerbs und des Erfolgs führt dazu, dass wir genau die nicht haben [7]. Ein besseres ärztliches Verständnis der Störung könnte die therapeutische Beziehung mit den betroffenen Menschen verbessern [8]. Zu diesem Verständnis wollen wir hier beitragen.
Merke
Menschen mit Persönlichkeitsstörungen erkennt man am besten an den eigenen Reaktionen auf ihr Verhalten.

Persönlichkeit

Was ist Persönlichkeit? Persönlichkeit meint „… die Gesamtheit aller überdauernden individuellen Besonderheiten im Erleben und Verhalten eines Menschen“ [9]. Die ursprüngliche Bezeichnung war „Charakter“. Das aktuell gängigste Modell davon, wie sich eine individuelle Persönlichkeit beschreiben ließe, ist das „Big-Five-Modell“ [10]. Seine Gültigkeit ist empirisch in vielen Kulturen gut abgesichert. Es besteht aus fünf Dimensionen:
  • Neurotizismus (emotionale Labilität und Verletzlichkeit),
  • Offenheit für Erfahrungen (Aufgeschlossenheit),
  • Extraversion (Geselligkeit; Extravertiertheit),
  • Verträglichkeit (Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie) und
  • Gewissenhaftigkeit (Perfektionismus).

Persönlichkeitsstörung

Was ist eine Persönlichkeitsstörung? Eine Persönlichkeitsstörung ist eine Störung der Person in ihrer Funktion als Teil ihres sozialen Umfelds. Schwächere Ausprägungen sind der Persönlichkeitsstil oder die Persönlichkeitsakzentuierung. Die Übergänge sind fließend. Infobox 1 gibt die Beschreibung der Persönlichkeitsstörung der 11. Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) wieder [11].
Infobox 1 Persönlichkeitsstörung in der ICD-11
„Eine Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch Probleme in der Funktionsweise von Aspekten des Selbst (z. B. Identität, Selbstwert, Genauigkeit der Selbsteinschätzung, Selbststeuerung) und/oder zwischenmenschliche Störungen (z. B. die Fähigkeit, enge und für beide Seiten befriedigende Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, die Fähigkeit, die Sichtweise anderer zu verstehen und mit Konflikten in Beziehungen umzugehen), die über einen längeren Zeitraum (z. B. zwei Jahre oder länger) bestehen. Die Störung äußert sich in maladaptiven (z. B. unflexiblen oder schlecht regulierten) Mustern der Kognition, des emotionalen Erlebens, des emotionalen Ausdrucks und des Verhaltens und zeigt sich in einer Reihe von persönlichen und sozialen Situationen (d. h. sie ist nicht auf bestimmte Beziehungen oder soziale Rollen beschränkt). Die Verhaltensmuster, die die Störung charakterisieren, sind entwicklungsmäßig nicht angemessen und können nicht in erster Linie durch soziale oder kulturelle Faktoren, einschließlich sozialpolitischer Konflikte, erklärt werden. Die Störung ist mit erheblichem Stress oder einer signifikanten Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verbunden.“
Nicht erst die Persönlichkeitsstörung prädestiniert zu anderen psychischen Erkrankungen [12]. Auch bevor man von einer Störung sprechen kann, spricht man allgemein vom P‑Faktor, wobei das P zwar zunächst für „Psychopathologie“, eigentlich jedoch für die individuelle psychische Grundstruktur jedes Menschen steht. Der P‑Faktor wird als zusammenfassender Faktor verschiedener Dimensionen der Psyche verstanden und als Grundlage vieler psychopathologischer Entwicklungen gesehen [13, 14].

Klassifikationssysteme

Welche Persönlichkeitsstörungen werden in den Klassifikationssystemen unterschieden? Im Gegensatz zur Vielfalt der Diagnosen in der ICD-10 gibt es in der ICD-11 nur noch eine einzige Diagnose: die der Persönlichkeitsstörung; diese dafür in den Ausprägungsgraden: leicht, mittel und schwer. Dem untergeordnet gibt es typische Persönlichkeitsmuster. Diese lauten:
  • Negative Affektivität bei Persönlichkeitsstörung oder -problematik
  • Distanziertheit bei Persönlichkeitsstörung oder schwieriger Persönlichkeit
  • Dissozialität bei Persönlichkeitsstörung oder schwieriger Persönlichkeit
  • Enthemmung bei Persönlichkeitsstörung oder schwieriger Persönlichkeit
  • Anankasmus bei Persönlichkeitsstörung oder schwieriger Persönlichkeit
  • Borderline-Muster.
Und schon sind wir mitten in einem spannenden Streit, der seit einigen Jahren in der Welt der psychiatrischen Klassifikationen stattfindet. Es geht um die Frage, ob es psychiatrische Krankheiten in Form der Benennung durch die heute gebräuchlichen Kategorien in Zukunft überhaupt noch geben sollte oder ob eine dimensionale Beschreibung psychischer Störungen nicht angemessener wäre, und zwar möglicherweise weit über die Persönlichkeitsstörungen hinaus [15]. Mit „dimensionaler Beschreibung“ ist im Wesentlichen eine individuelle Beschreibung anhand der im Abschnitt Persönlichkeit genannten Dimensionen der Psyche gemeint. Der Streit wurde und wird sowohl in den Arbeitsgruppen des US-amerikanischen Klassifikationssystems psychiatrischer Krankheiten (DSM-5) wie auch der WHO (ICD-11) ausgetragen [16, 17]. Er zeigt, wie sehr psychiatrische Klassifikationen soziale Konstrukte und Ergebnisse sozialer Aushandlungsprozesse sind. Zachar und Kendel beschrieben diese Prozesse sehr lesenswert anhand eines Vergleichs der „Entfernung des Pluto aus der der Klasse der Planeten mit der Entfernung der Homosexualität aus der Klasse psychiatrischer Störungen“ [18].
Merke
In den psychiatrischen Klassifikationen findet ein Umbruch statt, weg von kategorialen Krankheitsbenennungen, hin zu dimensionalen Krankheitsbeschreibungen.
Die Psychiatrie scheint zu erkennen, dass ihre alten Krankheitskategorien nicht so recht mit der Wirklichkeit zusammenpassen. Weder lassen sie sich eindeutig vom Gesunden noch untereinander abgrenzen [19]. Um das Jahr 2000 begann deshalb eine Krise der zeitgenössischen Psychiatrie [20]. Die Forschung hatte es weder geschafft, die neurophysiologischen Ursachen psychiatrischer Krankheiten ans Tageslicht zu bringen, noch daraus befriedigende Therapiekonzepte zu entwickeln. Aber Krisen erzeugen Druck zur Veränderung, und so begann die Veränderung zunächst im Bereich der Diagnosen und Klassifikationssysteme. Während im DSM‑5 der Versuch, das alte kategoriale durch ein dimensionales Modell zu ersetzen, noch vertagt wurde, gelang dieser Umbruch in der ICD-11 deutlicher [21]. Noch ist die ICD-11 nicht eingeführt, und bis sie es ist, gelten weiterhin die ICD-10 und ihre traditionellen Kategorien (Tab. 1).
Tab. 1
Persönlichkeitsstörungen in der ICD-10
ICD-Codierung
Art der Persönlichkeitsstörung
F60.
Spezifische Persönlichkeitsstörungen
F60.0
Paranoide Persönlichkeitsstörung
F60.1
Schizoide Persönlichkeitsstörung
F60.2
Dissoziale Persönlichkeitsstörung
F60.3
Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
F60.30
Impulsiver Typ
F60.31
Borderline-Typ
F60.4
Histrionische Persönlichkeitsstörung
F60.5
Anankastische [zwanghafte] Persönlichkeitsstörung
F60.6
Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung
F60.7
Abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung
F60.8
Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen
Inkl.: Persönlichkeit(sstörung): exzentrisch
Persönlichkeit(sstörung): haltlos
Persönlichkeit(sstörung): narzisstisch
Persönlichkeit(sstörung): passiv-aggressiv
Persönlichkeit(sstörung): psychoneurotisch
Persönlichkeit(sstörung): unreif
F60.9
Persönlichkeitsstörung, nicht näher bezeichnet

Ursachen

Wodurch kommt es zu Persönlichkeitsstörungen? Die Ätiologie der Persönlichkeitsstörungen ist wahrscheinlich multifaktoriell. Es gibt genetische Faktoren, die mit einer entsprechenden Vulnerabilität einhergehen. Hinzu kommen psychosoziale Faktoren und Traumata in der Kindheit, wie emotionaler, physischer oder sexueller Missbrauch und Vernachlässigung [22]. Die Patientinnen und Patienten haben oft extrem schwierige Kindheiten hinter sich. Eine besondere Rolle scheint die Bindungsfähigkeit zu spielen, die sich unter den schwierigen Bedingungen, unter denen die betroffenen Menschen meist aufwachsen müssen, nicht richtig entwickelt.

Gefühle der Betroffenen

Wie fühlt es sich an, eine Persönlichkeitsstörung zu haben? Die Frage ist v. a. für die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) erforscht. Es sind Gefühle von Entfremdung, Unsicherheit, Unangemessenheit, Misstrauen, Enttäuschung, Wertlosigkeit und der Wunsch, einfach weg zu sein. Die Gleichzeitigkeit von Leere und Wut verbindet sich mit extremen emotionalen Reaktionen [23]. Oft kommt es zu Phasen von Dissoziationen (Zonen), also Auskopplungen der Wahrnehmung und Kontrolle [24]. In diesen Zonen scheint die Selbstverletzung eine Möglichkeit zu sein, sich selbst wieder zu fühlen, anhand des Fließens von Blut zu sehen, dass man doch noch am Leben ist. Ganz falsch ist das Vorurteil, das Ritzen geschehe, um Aufmerksamkeit zu erregen und um sich wichtig zu machen.
Merke
Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sind meist einsam, wünschen sich aber, wie alle anderen auch, harmonische Beziehungen.
All das führt zu Gedächtnis- und Denkproblemen, Problemen der Selbstfürsorge und damit zu Schwierigkeiten in Arbeit oder Schule sowie finanziellen und rechtlichen Problemen. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen leiden meist sehr unter Einsamkeit [25].

Wahrscheinlichmachen der Diagnose

Wie lässt sich eine (Borderline‑)Persönlichkeitsstörung wahrscheinlich machen? Weil es eine neu erschienene S3-Leitlinie „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ für den praktischen, konkreten Umgang mit Patientinnen und Patienten mit BPS gibt, beziehen wir uns hier v. a. auf die BPS [26]. Es ist schade, dass die Leitlinie nur auf diesen einen Subtyp fokussiert. Die Leitlinie rät zu einer hausärztlichen Überweisung zur fachgerechten Abklärung einer BPS bei Menschen mit mindestens einem der folgenden Charakteristika:
  • Wiederholtes suizidales oder selbstverletzendes/selbstschädigendes Verhalten
  • Erhebliche emotionale Instabilität
  • Gleichzeitiges Vorliegen mehrerer psychischer Störungsbilder
  • Kein befriedigender Behandlungserfolg hinsichtlich vorliegender psychischer Symptome durch bisher durchgeführten Therapien
  • Sehr beeinträchtigtes psychosoziales Funktionsniveau
Dies gilt bereits bei Jugendlichen ab 12 Jahren. Zur Objektivierung des Verdachts lassen sich geeignete Screening-Fragebögen einsetzen, von denen die Borderline-Symptom-Liste mit 23 Items (BSL-23) mit einer Bearbeitungsdauer von 10 min und ihrer Eignung auch für Verlaufskontrollen für die hausärztliche Praxis am geeignetsten sein könnte. Bei Verdacht einfach den Screening-Fragebogen aus der Schublade zu holen, scheint jedoch inadäquat. Ohne eine tragfähige Beziehung und ein einfühlsames Gespräch dürften die meisten Menschen auf den Verdacht einer Persönlichkeitsstörung irritiert und gekränkt reagieren. Annehmbarer wäre zunächst, eine „emotionale Hypersensitivität“ oder „Regulationsstörung der Emotionen“ anzubieten. Für das „Wahrscheinlichmachen“ der Diagnose verweisen wir auch auf Infobox 2 im nächsten Abschnitt.
Merke
In der hausärztlichen Praxis sollte nur der Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung gestellt werden. Die Diagnosesicherung gehört in spezialisierte Hände.
Die Diagnosestellung gehört in psychiatrisch- oder psychosomatisch fachärztliche oder psychologisch psychotherapeutische Hand. Sie ist zusammen mit der Abklärung der oft erheblichen psychischen und somatischen Komorbidität im ambulanten Bereich gut möglich, kann aber auch im Rahmen eines stationären oder tagesklinischen Aufenthalts stattfinden. Zur eigentlichen Diagnosestellung sollten am besten halbstrukturierte, validierte Interviews durchgeführt werden. Es wird geraten, die Diagnose offen mitzuteilen und zu erklären.

Therapie

Wie wird eine Persönlichkeitsstörung behandelt? Das Vorurteil, Persönlichkeitsstörungen seien nicht behandelbar, stimmt so nicht. Die Therapie besteht in einer störungsspezifischen Psychotherapie. Für die BPS scheint die Evidenz ausreichend klar: Menschen mit BPS sollten eine BPS-spezifische Psychotherapie erhalten. Wenn der primäre Fokus auf der Reduktion schwerwiegenden selbstverletzenden Verhaltens (inklusive Suizidalität) liegt, sollte dialektische behaviorale Therapie (DBT) oder mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) angeboten werden, deren Wirksamkeit evidenzbasiert sind. DBT wurde von der US-amerikanischen Psychotherapeutin Marsha M. Linehan entwickelt. Sie hatte als Jugendliche selbst die Diagnose der BPS erhalten. In einem sehr lesenswerten Interview erzählte sie 2011 in der New York Times, wie sie es geschafft hat, ihr Leben in den Griff zu bekommen, Psychotherapeutin zu werden und eine spezifische Therapie für Patientinnen und Patienten, wie sie selbst es einmal war, zu entwickeln [27]. Die DBT enthält Strategien der Verhaltens-, der kognitiven sowie der unterstützenden Psychotherapie. Sie besteht aus begleitenden wöchentlichen individuellen und Gruppentherapiesitzungen über mindestens ein Jahr. Die individuelle DBT wendet direktive, problemorientierte Techniken an, die mit unterstützenden Techniken wie Reflexion, Empathie und Akzeptanz kombiniert werden. Die Verhaltensziele in der DBT werden entsprechend ihrer Wichtigkeit priorisiert. Der Problemfokus wird entsprechend dem Verhalten des Patienten seit der letzten Sitzung angepasst. Dafür muss dieses Verhalten zusammen mit dem Patienten ausführlich erarbeitet und beschrieben werden. Kam es zu parasuizidalem Verhalten, ist dieses das Thema bei der nächsten Sitzung. Wurden Absprachen verletzt, ist dieses Verhalten das Thema usw. In den Sitzungen lehren und bestärken die Therapeutinnen und Therapeuten eine Anpassung des Verhaltens v. a., wenn eine Verletzung von Absprachen innerhalb der therapeutischen Beziehung stattfindet. Die Leitlinie priorisiert sehr eindeutig ambulante Formen der Psychotherapie. Längere unspezifische stationäre Aufenthalte ohne strukturierte störungsspezifische Angebote sollen laut Leitlinie vermieden werden.
Begleitend zur eigentlichen Therapie werden für schwere Fälle therapeutische Wohngruppen als stabile Rahmen sowie Psychoedukation und Gruppentherapien zur Förderung des Krankheitsverständnisses, des Umgangs mit der Erkrankung und der Krankheitsbewältigung empfohlen. Auch Interventionen mit Familienangehörigen und anderen Bezugspersonen können erwogen werden. Wer DBT regional anbietet, lässt sich entweder über die lokalen Psychiaterinnen und Psychiater oder über den Dachverband DBT e. V. (https://​www.​dachverband-dbt.​de/​downloads/​links) herausfinden. Erfahrungsgemäß bestehen die größten Schwierigkeiten darin, die Patientinnen und Patienten zu einer solchen Therapie zu bewegen bzw. ihre Motivation aufrechtzuerhalten. Es ist für die betroffenen Menschen zunächst kaum verstehbar, dass ihre Beziehungsprobleme ihre Ursache in ihrem eigenen Verhalten haben. Bevor man sie damit konfrontiert, ist es wichtig, zunächst eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen (Beziehungskredit) [4]. Interaktionelle Schwierigkeiten sollten dabei erwartet werden, ohne dann zu einer Entwertung zu führen. Der hausärztliche Versuch, z. B. an die DBT zu überweisen, wird patientenseitig leicht als Ablehnung erfahren, die Verlustängste und dysfunktionales Interaktionsverhalten auslösen kann [8]. Es ist oft schwer, schnell einen geeigneten Therapieplatz zu finden. Gelingt dies, sollten sich Hausarzt oder Hausärztin nicht etwa aus der Betreuung zurückziehen. Sie sollten weiter parallel regelmäßige Termine vereinbaren, sodass die betroffenen Menschen keinen „Grund“ brauchen, um kommen zu dürfen.
Merke
Auch nach Überweisung an Psychiatrie oder Psychotherapie sollten regelmäßige hausärztliche Kontakte vereinbart werden.
Ein offener regelmäßiger Kontakt und Austausch mit dem mitbehandelnden Psychotherapeuten oder der Psychiaterin wäre wünschenswert. Eine Bearbeitung der Fälle, z. B. im Rahmen von Balint-Gruppen, kann hilfreich und entlastend sein.
Merke
Psychotrope Medikamente sind für Menschen mit Persönlichkeitsstörung auf Dauer weitgehend sinnlos und sollten vermieden werden.
Sehr klar ist, dass eine medikamentöse Therapie weitgehend sinnlos ist und laut Leitlinie nicht primär erfolgen sollte. Manchmal kann sie kurzfristig, z. B. in Krisen oder im Rahmen der Komorbidität, sinnvoll sein. Wichtig ist, eine psychotrope Polypharmazie zu vermeiden. Die betroffenen Menschen konsultieren meist mehrere Praxen parallel, was das Problem der Polypharmazie verschärft. Ein Doktor-Shopping sollte thematisiert und möglichst eingeschränkt werden. Die Verordnung von Psychopharmaka sollte nach Möglichkeit begrenzt oder beendet werden. Es erscheint wichtig, gegenüber den betroffenen Menschen offen und proaktiv mit der Diagnose umzugehen. In Infobox 2 geben Dubovsky und Kiefer zehn nützliche Hinweise zum Umgang mit BPS in der hausärztlichen Praxis [8].
Infobox 2 Zehn nützliche Hinweise zum Umgang mit BPS in der hausärztlichen Praxis nach Dubovsky und Kiefer [8]
1.
Lernen Sie die häufigsten klinischen Erscheinungsformen und Ursachen unerwünschten Verhaltens von BPS-Patientinnen und -Patienten besser verstehen.
 
2.
Erkennen Sie die Gefühle ihrer Patientinnen und Patienten an, indem Sie die vermuteten Emotionen benennen, wie z. B. Verlustangst, Wut oder Scham, bevor Sie die „Tatsachen“ der aktuellen Situation ansprechen und den Stress anerkennen, in dem sich die Patientin oder der Patient gerade befindet.
 
3.
Vermeiden Sie, auf provokatives Verhalten zu reagieren.
 
4.
Vereinbaren Sie regelmäßige, zeitlich klar begrenzte Termine, die unabhängig davon sind, ob die Patientin oder der Patient krank ist.
 
5.
Setzen Sie schon zu Beginn der therapeutischen Beziehung klare Grenzen, und reagieren Sie nicht auf Versuche, außerhalb dieser Grenzen zu interagieren, außer in klaren Notfällen.
 
6.
Machen Sie die offene Kommunikation mit allen Behandlern zur Bedingung Ihrer Betreuung.
 
7.
Vermeiden Sie Polypharmazie und die Verschreibung großer Packungen potenziell toxischer Medikamente (einschließlich trizyklischer Antidepressiva, herzwirksamer Medikamente, und Benzodiazepine).
 
8.
Vermeiden Sie potenziell suchterzeugende Medikamente wie Benzodiazepine, Opiate, oder andere verschreibungsfähige Betäubungsmittel. Informieren Sie Ihre Patientin oder Ihren Patienten darüber frühzeitig in der therapeutischen Beziehung, sodass sie Ihre Grenzen kennen.
 
9.
Setzen Sie harte Grenzen für manipulatives Verhalten, aber vermeiden Sie dabei jedes wertende Verhalten.
 
10.
Belohnen Sie schwieriges Verhalten nicht mit mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung. Geben Sie Aufmerksamkeit auf Basis regelmäßiger Termine, statt spontan auf das Verhalten zu reagieren.
 

Prognose

Sind Persönlichkeitsstörungen heilbar? Den Persönlichkeitsstörungen haftet der Ruf der Unheilbarkeit an. Das stimmt so nicht. Dieses Vorurteil ist der Grund für Diskriminierung und Unterversorgung dieser Menschen. Ja, es ist schwer, Persönlichkeiten bzw. deren Verhalten zu ändern. Aber man kann lernen, mit den Schwierigkeiten der eigenen Persönlichkeit und mit denen der anderen besser umzugehen. Viele unserer Verhaltensweisen folgen Mustern, deren wir uns selbst gar nicht bewusst sind. Ein Bewusstsein für diese Muster zu entwickeln, ist der erste Schritt der Verbesserung des Verhältnisses auf beiden Seiten der Beziehung.
Für die BPS gibt die Leitlinie an, dass unter spezifischer Psychotherapie etwa ein Drittel nach einem Jahr eine Remission erreicht hat. Ein weiteres Drittel braucht zwei Jahre, der Rest länger. Remission bedeutet jedoch nicht, dass die betroffenen Menschen alle Sorgen los sind, sondern lediglich, dass Suizidalität und Selbstverletzungen stark abgenommen haben. Das Älterwerden wirkt sich ebenfalls günstig aus. Immer mehr erreichen immer längere Zeiten von Remissionen bezüglich ihrer Symptome. Die Rate der erfolgreichen Suizide nimmt hingegen nicht ab. Ein völlig falsches Vorurteil ist: „Die ritzen ja nur und bringen sich nicht um“. Etwa die Hälfte der Menschen unter 35, die sich erfolgreich das Leben nehmen, haben eine Persönlichkeitsstörung [28]. Insgesamt ergeben diese Befunde dennoch zumindest eine vorsichtig positive Prognose.
Fallbeispiel
Sybille W. ist 27 Jahre alt und stark übergewichtig. Sie kommt wegen Rückenschmerzen in die hausärztliche Praxis. Schon beim ersten Termin kommt sie deutlich zu spät und hat ihre Versicherungskarte vergessen. Die Anamnese gestaltet sich schwierig, da die Patientin verschlossen wirkt und auch die Schilderung der Beschwerden eher inkohärent und schwer nachvollziehbar erscheint. Psychomotorisch ist sie angespannt, schlecht gelaunt und misstrauisch, aber auch bedürftig und mit hohem (emotionalem) Leidensdruck behaftet. Weitere Konsultationen verlaufen ähnlich. Eine vorsichtige psychische Exploration ergibt Schlafstörungen, Ängste und die Kriterien einer mittelgradigen depressiven Episode. Bei genauerem Nachfragen erzählt sie von ihrer als bedrohlich empfundenen Psychiatrieerfahrung und auch von einer hohen (körperlichen) Anspannung, Essanfällen oder der impulsiven Tendenz, sich selbst zu bestrafen, sowie von einem früheren Suizidversuch. Über viele Kontakte gelingt es langsam, eine Beziehung zu ihr aufzubauen, in deren Schutz sie auch von ihrer extrem schwierigen Kindheit und Jugend erzählt.

Ausblick

Menschen mit Persönlichkeitsstörungen erfahren viel Ablehnung, auch in hausärztlichen Praxen. Sie wünschen sich jedoch Anerkennung und Zuwendung. Der US-amerikanische Arzt Francis W. Peabody schrieb 1927: „… das Geheimnis in der Versorgung von Patienten ist es, sich um sie zu kümmern“. Die Zuwendung, oft entgegen dem eigenen Reflex der Ablehnung, und das „Sichkümmern“ sind für den Umgang mit diesen Menschen wesentlich.
Die Betreuung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen ist in besonderem Maße eine Aufgabe für das gesamte Praxisteam. Wir hoffen, dass wir diesen Artikel so geschrieben haben, dass er auch für interessierte medizinische Fachangestellte zugänglich und hilfreich sein kann. Sowohl „Menschen mit Persönlichkeitsstörungen in der Praxis“ einmal grundsätzlich zum Thema interner Fortbildung zu machen, als auch in diesem Rahmen gemeinsam einzelne Patientinnen und Patienten vorzustellen und zu besprechen, könnte dem Praxisteam wie auch diesen Patientinnen und Patienten im Umgang miteinander helfen.

Fazit für die Praxis

  • Persönlichkeitsstörungen manifestieren sich im sozialen Austausch – und zwar auf beiden Seiten der Beziehung.
  • Als Generalistinnen und Generalisten liegt unsere Stärke in der langen Beziehung zu unseren Patientinnen und Patienten sowie idealerweise in einem biopsychosozialen Ansatz im Umgang mit den Schwierigkeiten des Lebens.
  • Gerade Menschen mit Persönlichkeitsstörungen benötigen deshalb, neben der Psychotherapie, Zuwendung und eine vertrauensvolle langfristige hausärztliche Beziehung, Unterstützung und Begleitung.
  • Die Betreuung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen ist in besonderem Maße eine Aufgabe für das gesamte Praxisteam.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

Gemäß den Richtlinien des Springer Medizin Verlags werden Autoren und Wissenschaftliche Leitung im Rahmen der Manuskripterstellung und Manuskriptfreigabe aufgefordert, eine vollständige Erklärung zu ihren finanziellen und nichtfinanziellen Interessen abzugeben.

Autoren

T. Kühlein: A. Finanzielle Interessen: Fortbildungsvorträge für den Bayerischen Hausärzteverband, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeinmedizin. – B. Nichtfinanzielle Interessen: Facharzt und Professor für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Erlangen. Leiter des Allgemeinmedizinischen Instituts Universität Erlangen sowie ärztlicher Direktor des MVZ-Eckental | Mitgliedschaften: Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Bayerischer Hausärztinnen und Hausärzteverband, „Mein Essen zahl ich selbst“ (MEZIs), Greenpeace Deutschland, Amnesty International.
G. Hasan: A. Finanzielle Interessen: G. Hasan gibt an, dass kein finanzieller Interessenkonflikt besteht. – B. Nichtfinanzielle Interessen: Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der Psychiatrischen Notfallambulanz sowie im psychiatrischen Konsildienst der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie im Zentrum für Altersmedizin am Klinikum Nürnberg | Mitgliedschaft: DGPPN.
A. Deinzer: A. Finanzielle Interessen: A. Deinzer gibt an, dass kein finanzieller Interessenkonflikt besteht. – B. Nichtfinanzielle Interessen: Niedergelassene Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Privatpraxis in Nürnberg | Fachärztin für Allgemeinmedizin | Mitgliedschaft: DGPM (Deutsche Gesellschaft für psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie).
A. Silbermann: A. Finanzielle Interessen: A. Silbermann gibt an, dass kein finanzieller Interessenkonflikt besteht. – B. Nichtfinanzielle Interessen: Psychologische Psychotherapeutin in der Psychosomatischen Abteilung des Klinikum Nürnberg Nord | Paracelsus Medizinische Privatuniversität.

Wissenschaftliche Leitung

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Literatur
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Metadaten
Titel
Was heißt schon normal? Was man in der hausärztlichen Praxis über Persönlichkeitsstörungen wissen sollte
verfasst von
Prof. Dr. med. Thomas Kühlein
Gabriel Hasan
Dr. med. Anja Deinzer
Dr. rer. biol. hum, Dipl. Psych. Andrea Silbermann
Publikationsdatum
02.10.2024