Hintergrund
Regelmäßige Auslandsaufenthalte sind für ältere Menschen mit Migrationserfahrung eine Möglichkeit, den Kontakt zu Kindern und Enkelkindern vor Ort und zu Freund*innen und Verwandten im Herkunftsland aufrechtzuerhalten [
1,
2]. Ein noch unbekannter Anteil der türkeistämmigen Bevölkerung Deutschlands lebt im Rentenalter abwechselnd in Deutschland und in der Türkei [
1,
3].
Dieser transnationale Lebensstil, nachfolgend als Pendelmigration bezeichnet, dürfte aufgrund der Größe der Bevölkerungsgruppe zahlenmäßig relevant sein. Insgesamt haben ca. 27 % der Personen in der Gesamtbevölkerung Deutschlands einen Migrationshintergrund (die Person selbst oder mindestens ein Elternteil hatte zum Zeitpunkt der Geburt keine deutsche Staatsangehörigkeit). Unter den Menschen mit Migrationshintergrund ab 65 Jahren stammen 10 % aus der Türkei [
4].
Viele der älteren türkeistämmigen Migrant*innen in Deutschland sind ehemalige Arbeitsmigrant*innen, die im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen gesundheitlich stärker belastet sind [
5]. Chronisch erkrankte Pendelmigrant*innen sind darauf angewiesen, in 2 unterschiedlichen Staaten medizinische und medikamentöse Versorgung nutzen zu können [
6]. Für die Türkeiaufenthalte älterer Pendelmigrant*innen liegen Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in der Versorgung vor, die gesundheitliche Komplikationen mit sich bringen können [
6,
7]. Zusätzlich bestehen für Deutschland einzelne Hinweise auf Versorgungsbarrieren der Zielgruppe u. a. im Zusammenhang mit Othering [
8,
9].
Welche Bedürfnisse bezüglich der Gesundheitsversorgung für türkeistämmige ältere Pendelmigrant*innen in Deutschland und der Türkei bestehen, wurde daher im qualitativen Projektzweig des Projekts „Transnationale medikamentöse Versorgung älterer, türkeistämmiger PendelmigrantInnen“ gefördert durch das Landeszentrum Gesundheit NRW untersucht. Ziel dieses Projektzweigs war es, aktuelle Barrieren und Diskontinuitäten und konkrete wie strukturelle Bedürfnisse der Zielgruppe bezüglich ihrer medikamentösen und medizinischen Versorgung zu identifizieren.
Methodik
Die Bedürfnisse von Pendelmigrant*innen hinsichtlich ihrer Gesundheitsversorgung in Deutschland und der Türkei, mögliche Barrieren bei der Versorgung sowie Wünsche zum Abbau von Barrieren wurden in leitfadengestützten Interviews (nach Wahl türkisch oder deutsch) erfragt. Nach Vorliegen eines positiven Ethikvotums für das Projekt wurden Interviewpartner*innen über ein Schneeballsystem und Schlüsselpersonen aus verschiedenen lokalen Communities durch türkischsprachige Projektmitarbeitende erreicht. Einschlusskriterien waren das Vorliegen mindestens einer chronischen Erkrankung mit Dauermedikation, Erfahrungen mit Pendelmigration und ein Alter von mindestens 60 Jahren (Ausnahmefall Frührente). Wie bei der Gruppe der Gesundheitsversorger*innen (s. unten) wurden Teilnehmende aus verschiedenen räumlichen Strukturen in Nordrhein-Westfalen (mehrere Großstädte, eine Mittelstadt und eine Kleinstadt) aufgenommen. Die Rekrutierung erfolgte mit besonderem Augenmerk auf die Rekrutierung auch von männlichen Interviewpartnern. Die Interviews wurden sämtlich in Präsenz, in der Regel in der Häuslichkeit der Interviewten, von einer türkisch- und deutschsprachigen Mitarbeiterin ohne Begleitung durchgeführt.
Ergänzend wurden Interviews mit 8 anhand des Verzeichnisses der kassenärztlichen Vereinigung telefonisch rekrutierten Hausärzt*innen und Praxismitarbeiter*innen geführt. Die Auswahl zur Rekrutierung erfolgte dabei anhand der räumlichen Struktur, um die auch bei den Pendelmigrant*innen angestrebte Variation von Ortsgrößen und Regionen zu erreichen. Des Weiteren wurde eine annähernd ausgewogene Geschlechterverteilung angestrebt. Wir haben gezielt sowohl alleine als auch gemeinschaftlich praktizierende Ärzt*innen adressiert. Sprachkenntnisse von Ärzt*innen oder Praxismitarbeitenden spielten bei der Rekrutierung keine Rolle. Die Durchführung der Interviews durch jeweils eine*n wissenschaftliche*n Mitarbeitende*n erfolgte mehrheitlich in den Praxisräumen, in 2 Fällen wurden Interviews im Freien bevorzugt.
Alle Teilnehmenden wurden vorab über die Teilnahmebedingungen und Datenschutzbestimmungen aufgeklärt. Nach der Durchführung von 25 Interviews mit Pendelmigrant*innen wurde in den Voranalysen hinsichtlich des Forschungsinteresses eine theoretische Sättigung deutlich, sodass die Rekrutierung eingestellt wurde. Die Interviews wurden auf Tonband aufgezeichnet, händisch transkribiert und ins Deutsche übersetzt, sodass bei uneindeutigen Aussagen in der deutschen Übersetzung Abgleiche mit dem Originalwortlaut möglich waren (Codierung und Abstraktion der Interviews durch Tandems mit jeweils mindestens einer türkischsprachigen Person). Die Auswertung erfolgte ohne Analysesoftware. In einer strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring [
10] wurden auf Basis des Interviewleitfadens mit einem deduktiven und induktiven Vorgehen 6 Kategorien (für die Pendelmigrant*innen s. Ergebnisse zzgl. Pendelkontext) gebildet.
Ergebnisse
Es wurden Interviews mit 25 türkeistämmigen chronisch erkrankten Pendelmigrant*innen geführt (s. Tab.
1). Mit einer Ausnahme (Hausfrau) waren alle Teilnehmer*innen berentet. Zudem beteiligten sich 6 Hausärzt*innen und 2 Praxisangestellte an der Studie.
Tab. 1
Soziodemografische Daten der Interviewteilnehmer*innen
Geschlecht |
weiblich | 16 | 4 |
männlich | 9 | 4 |
Alter (gruppiert) |
45–54 | – | 3 |
55–64 | 4 | 4 |
65–74 | 14 | 1 |
75–84 | 7 | – |
Region |
Kleinstadt | 2 | 1 |
Mittelstadt | 5 | 3 |
Großstadt | 18 | 4 |
Höchster Schulabschluss |
Kein Abschluss | 13 | – |
Grundschule | 9 | – |
Realschule | 1 | – |
(Fach‑)Abitur | 2 | – |
Pendeldauer in Monaten (Anzahl Befragter)a | „Range“ 2–24; Modus ≈ 6 ≤ 3 Monate (2) 4–6 Monate (11) ≥ 7 Monate (6) | – |
Tätigkeit |
Hausärzt*in | – | 6 |
Praxismitarbeiter*in | 2 |
Gesundheitszustand
Die Mehrheit der interviewten Pendelmigrant*innen ist multimorbide. Das Erkrankungsspektrum der Zielgruppe gleicht den befragten Gesundheitsversorger*innen zufolge denen der Allgemeinbevölkerung. Das Pendeln wirkt sich je nach Grunderkrankung unterschiedlich auf die körperliche Gesundheit aus. Bei multimorbiden Patient*innen mit Typ-II-Diabetes beschreiben die Ärzt*innen den Gesundheitszustand nach der Rückkehr als problematisch. Dem psychischen Gesundheitszustand hingegen sei das Pendeln zuträglich: „Ich empfehle [den Pendelmigrant*innen] sogar, dass sie mal wieder in die Türkei fliegen sollten.“ (EP06).
Versorgungssituation
Die hausärztliche Versorgung der Zielgruppe in Deutschland kann von Sprachbarrieren beeinträchtigt sein. Manche Pendelmigrant*innen und Gesundheitsversorger*innen berichteten, sich trotz Sprachbarrieren gut verständigen zu können. Andere Pendelmigrant*innen erlebten die fehlende Autonomie als belastend:
„Ich gehe zum Arzt, der Arzt sagt etwas, manches verstehe ich nicht, dann habe ich Zweifel, ob das stimmt. Den Arzt frage ich dann, gut, nicht gut? Ich frage also, ist das gut oder schlecht? Was sagen Sie meinen Kindern, frage ich.“1 (PM07). Die Ärzt*innen äußerten Zweifel an der Qualität familialer Übersetzungen. Unerwähnter Analphabetismus kann eine zusätzliche Versorgungsbarriere darstellen. Zeitmangel in der hausärztlichen Versorgung wurde von Pendelmigrant*innen und Versorger*innen als Schwierigkeit genannt.
„Was soll ich sagen, ich nehme mir die Zeit, die ich brauche oder die [die Patient*innen] brauchen, aber ich kriege es halt nicht bezahlt.“ (EP07). Für einzelne haus- und fachärztliche Praxen wurde durch die Pendelmigrant*innen fehlende Wertschätzung einschließlich vorurteilsbasierter Diskriminierung als Barriere thematisiert.
Die Versorgung in der Türkei ist für manche Interviewpartner*innen ohne zusätzliche Barrieren zugänglich und wird für Kontrolluntersuchungen, Behandlungen, Zweitmeinungen oder die Aufklärung über Erkrankungen ohne Sprachbarrieren beansprucht. Andere Pendelmigrant*innen berichteten von Schwierigkeiten, vor der Abreise die notwendigen Bescheinigungen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) zu erhalten. Auch die Registrierung vor Ort bei der türkischen Sozialversicherungsanstalt (SGK) nach der Einreise, um in der Türkei Leistungen der GKV in Anspruch nehmen zu können, kann kompliziert werden, wenn z. B. regionale Niederlassungen schwer erreichbar sind oder die Registrierung in Versorgungsangeboten nicht sofort einsehbar ist: „Sie meinten: ‚Sie werden im System nicht aufgelistet. […] Kommen Sie am Montag wieder.‘ Ich sagte: ‚Hier, ich habe Schmerzen am Herzen. Werdet ihr euch erst dann darum kümmern, wenn ich tot bin?‘ Der lachte.“ (PM11). Die unübersichtliche Erstattungsfähigkeit von Leistungen, die Probleme, Versorgungsangebote in Vertragspartnerschaft mit den GKV zu erreichen, die Angewiesenheit auf Begleitung sowie Erfahrungen mit wenig sorgfältigen Behandler*innen können nach Angabe der Interviewpartner*innen zu einer vollständigen Vermeidung der Versorgung in der Türkei führen.
Medikation
Polymedikation ist bei den interviewten Pendelmigrant*innen verbreitet. Nur 2 Interviewte kannten alle Präparatenamen, Indikation und Dosierung ihrer Medikamente. Die Mehrheit der Befragten orientiert sich am Aussehen der Tabletten. Die Medikationscompliance der Zielgruppe gleicht laut Gesundheitsversorger*innen der der Allgemeinbevölkerung und ist personenabhängig. Diskontinuitäten bei der Einnahme (eigenständiges Absetzen, Dosisänderungen, Verwechselung) beschrieben Pendelmigrant*innen vorrangig bei fehlenden Informationen zur Medikation und deren Wirkung. „Ich sagte: ‚Das Medikament hilft mir nicht‘, ich sagte: ‚Der Blutdruck sei gesunken, ich habe [es] nicht eingenommen‘. […] Du, sagte [benachbarter Arzt], hättest fast einen Herzinfarkt gehabt.“ (PM21). In der Türkei können Pendelmigrant*innen und Gesundheitsversorger*innen zufolge Änderungen des Tagesablaufs oder eine subjektive Zustandsverbesserung zu Diskontinuitäten führen. Weitere Schwierigkeiten können aus unsicherer regionaler Verfügbarkeit von Medikamenten und Präparatwechseln für die Pendelmigrant*innen erwachsen: „Wenn ich es in der Türkei zu kaufen versuche, finde ich nicht dasselbe, ich muss dann ein anders dosiertes [Medikament] nehmen […].“ (PM04). Des Weiteren können die fehlende ärztliche Kenntnis der Erkrankungsgeschichte in Notfällen oder die ausbleibende Neuanpassung der Medikation nach Notfällen zu Komplikationen führen: „[Die Pendelmigrant*innen] gehen ja nur hin in der Akutphase und in der Akutphase kriegen sie neue Medikamente, aber die nehmen ja noch zig andere Medikamente […].“ (EP05).
Meiden Pendelmigrant*innen das türkische Versorgungssystem, bleiben Kontrolluntersuchungen aus. Ohne Medikation aus Deutschland wird in diesen Fällen die Dosis vor oder während der Reise verringert, um Medikamente einzusparen, oder die Medikation fehlt gänzlich. „[Die Pendelmigrant*innen] haben die Tabletten dann gestreckt, also dann hatte er eine 100ter-Packung für Blutdruck […] und die hat nicht gereicht und dann hat er nur ’ne halbe [Tablette] genommen oder so.“ (EP04). Die Verordnung von Medikamenten für einen längeren Türkeiaufenthalt ist aus Sicht interviewter Ärzt*innen medizinisch vertretbar, wenn die Pendelmigrant*innen der Praxis lange bekannt sind und notwendige Neueinstellungen in der Türkei vorgenommen werden. In anderen Fällen wird die Ärzt*innen-Patient*innen-Beziehung als beeinträchtigt beschrieben, wenn für Patient*innen nicht nachvollziehbar ist, dass Ärzt*innen die Praxis oder GKV nicht belasten möchten oder die Verordnung wegen möglicher Fehldosierungen nicht verantworten können. Für Ärzt*innen können daraus ethische Konflikte erwachsen, wenn sie annehmen müssen, dass die Patient*innen dann gar nicht medikamentös versorgt sind.
Bedürfnisse, Erwartungen und Verbesserungsvorschläge
Pendelmigrant*innen und Gesundheitsversorger*innen betonen das Bedürfnis nach mehr Zeit für Konsultationen insbesondere bei Übersetzungsbedarf. Pendelmigrant*innen erwarten einen wertschätzenden Umgang. Sie sprechen Unzufriedenheit oder Unverständnis teilweise nicht von sich aus an. Ausreichend Zeit, ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Ärzt*innen und die Einbindung Angehöriger in die Versorgung erleichtern das Ansprechen und die medikamentöse Versorgung. Bezüglich der Versorgung für einen längeren Türkeiaufenthalt äußern Pendelmigrant*innen und Versorger*innen das Bedürfnis nach transparenten, möglichst unbürokratischen Prozessen (z. B. bei Kostenerstattungen, Informationstransfer) ohne finanzielle Zusatzbelastungen. Gesundheitsversorger*innen äußern den Wunsch nach mehrsprachigem, frei zugänglichem Informationsmaterial zu Erkrankungen und zur Gesundheitsversorgung in der Türkei. Zur Versorgungsplanung in der Türkei sind Gesundheitsversorger*innen darauf angewiesen, dass Pendelmigrant*innen sie frühzeitig über Reisepläne informieren und Kontrolluntersuchungen abgestimmt werden können. Die Pendelmigrant*innen äußern das Bedürfnis nach einer sichergestellten medikamentösen Versorgung während des gesamten Türkeiaufenthalts ohne die Erfordernis, die eigene Krankengeschichte in der Türkei wiederholt wiedergeben zu müssen. Sie thematisierten die Notwendigkeit, auch bei einer Verweildauer von über 6 Monaten [
11] die Gesundheitsversorgung in der Türkei ohne zusätzliche bürokratische Hürden in Anspruch nehmen zu können:
„Vielleicht bleibe ich länger als 6 Monate, vielleicht werde ich krank, ich schaffe es nicht zurückzukommen, das gibt es ja auch.“ (PM17).
Diskussion
Medikamentöse Diskontinuitäten bei den türkeistämmigen Pendelmigrant*innen sind zumindest teilweise auf fehlende Kenntnisse zu Erkrankungen und Medikation zurückzuführen (z. B. Verwechselungen von Medikamenten oder eigenständige Dosisveränderungen). Informationsdefizite erschweren die Planung und die Inanspruchnahme der Versorgung in der Türkei. In der hausärztlichen Vergütung müssen angemessene Zeitfenster berücksichtigt und adäquat honoriert werden, um eine ausreichende Aufklärung der Pendelmigrant*innen auch bei Sprachbarrieren und Analphabetismus zu ermöglichen. Sprachbarrieren können sich für Pendelmigrant*innen und Ärzt*innen auch auf die schriftliche Kommunikation erstrecken (z. B. Formulare, Befunde [
12]). Die Einrichtung eines festen Pools von Dolmetscher*innen für Konsultationen und Schriftverkehr könnte hier zu mehr Versorgungssicherheit beitragen. Ein wesentlicher Aspekt bei der adäquaten Aufklärung und medikamentösen Einstellung kann das aktive Abfragen von Nebenwirkungen und Diskontinuitäten sein. Die aktive Einbindung der Zielgruppe sowie die Möglichkeit der eigenständigen Information reduzieren einer niederländischen Untersuchung zufolge unerfüllte Informationsbedürfnisse [
13]. Unterstützend wären bei der Aufklärung die in den Interviews thematisierte Entwicklung von bildgestützten mehrsprachigen und für Hausärzt*innen kostenfreien Informationsmaterialen [
13‐
15]. Die ärztliche Kommunikation mit den Pendelmigrant*innen bedarf zudem der notwendigen Diversitätssensibilität, um Informationen zielgruppengerecht und wertschätzend vermitteln zu können [
8,
16,
17].
Handlungsbedarf besteht ebenfalls hinsichtlich der Barrieren, die aus der derzeitigen Struktur der transnationalen Versorgung erwachsen. Die sichere Versorgung von Pendelmigrant*innen in der Türkei setzt voraus, dass die Pendelmigrant*innen sich bei der SGK anmelden und sicher durch deutsche GKV erstattungsfähige Versorgungsangebote finden können [
11]. Zu solchen Leistungen in regionaler Nähe und zu Kostenerstattungsverfahren sollten Informationen niedrigschwelliger als bisher zugänglich gemacht werden, um zu verhindern, dass Pendelmigrant*innen die Versorgung in der Türkei grundsätzlich meiden.
In welchen Fällen (z. B. stabil eingestellte Patient*innen, seltene Medikation) eine von der Budgetierung ausgenommene Verordnung in Deutschland möglich ist, sollte ebenfalls diskutiert werden. Zu einer kontinuierlichen medikamentösen Versorgung sollte außerdem die Verlängerung der Aufenthaltsdauer ohne Wohnortswechsel in Anpassung an den individuellen Bedarf der Pendelmigrant*innen ermöglicht werden.
Limitationen
Da die Patient*innenzielgruppe hinsichtlich ihrer individuellen Ressourcen eine große Heterogenität aufweist, können die beschriebenen Barrieren nicht auf alle türkeistämmigen Pendelmigrant*innen übertragen werden. Weil die Datenerhebung vor der COVID-19-Pandemie und dem Ukraine-Krieg abgeschlossen wurde, werden die Auswirkungen damit verbundener Lieferengpässe und anderer zusätzlicher Barrieren nicht in den Ergebnissen abgebildet.
Stärken
Das Projekt hat eine qualitative Datenbasis geschaffen, in der die Perspektive der Pendelmigrant*innen um die Perspektive aus der hausärztlichen Versorgung ergänzt werden konnte. Sowohl bei Pendelmigrant*innen als auch Versorger*innen werden sehr unterschiedliche Perspektiven auf Pendelmigration erfasst. Die Daten zeigen die Komplexität der Versorgungsstrukturen und der Entstehung von Barrieren deutlich auf. Sie unterstreichen den Stellenwert, den die hausärztliche Versorgung in Deutschland auch für die Gesundheitsversorgung der Zielgruppe in der Türkei hat.
Schlussfolgerung
Um älteren, türkeistämmigen Migrant*innen eine verlässliche medikamentöse und ärztliche Versorgung zu gewährleisten, ist nicht nur der Abbau der bekannten sprachlichen und kulturellen Barrieren erforderlich [
9,
18]. Vielmehr müssen Hausärzt*innen ältere chronisch kranke Migrant*innen gezielt nach Pendelmigration fragen. Darüber hinaus sind Anpassungen auf der sozialrechtlichen Ebene sowie eine systematische Verbesserung der Kommunikationsstrukturen mit dem Gesundheitssektor in der Türkei erforderlich. Anpassungen, die eine diversitätssensiblere Versorgung und transnationale Lebensweisen erleichtern, kommen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels vielen Patient*innen in der heterogenen Bevölkerung Deutschlands zugute.
Fazit für die Praxis
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Ältere türkeistämmige Pendelmigrant*innen sind aufgrund struktureller und kommunikationsbezogener Barrieren dem Risiko von Diskontinuitäten in ihrer medikamentösen und medizinischen Versorgung ausgesetzt.
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Barrieren wie die inadäquaten zeitlichen und finanziellen Ressourcen für die hausärztliche Versorgung der Zielgruppe bedürfen dringend struktureller Anpassungen. Auf kommunikationsbezogene Barrieren können Hausärzt*innen und Praxismitarbeitende erheblichen Einfluss nehmen.
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Informationsdefizite können die Versorgung türkeistämmiger Pendelmigrant*innen sowohl in Deutschland als auch in der Türkei behindern. Da die Zielgruppe Unsicherheiten zum Teil nicht von allein thematisiert, empfiehlt sich die aktive hausärztliche Abfrage von medikationsbezogenen Schwierigkeiten.
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Hausärzt*innen sollten ältere Patient*innen mit Migrationshintergrund gezielt nach Pendelvorhaben befragen, damit versorgungsbezogene Anforderungen an die Reise frühzeitig und gemeinsam besprochen werden können.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Die Durchführung der Studie wurde von der Ethikkommission der Universität Bielefeld für ethisch unbedenklich erklärt (Nr. 2017-195). Die Interviewpartner*innen wurden vor der Interviewteilnahme umfassend aufgeklärt und haben in die Teilnahme eingewilligt.
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