Hinführung zum Thema
Hintergrund und Fragestellung
Methode
Stichprobe
Erhebungsmethode
Auswertungsmethode
Ergebnisse
Ausprägung von „moral distress“
Kategorie | Ankerbeispiele | n | |
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MD gering | Eine geringe Ausprägung liegt vor, wenn a) kein MD erlebt wurde (Intensität fällt dann weg) oder b) MD selten und mit geringer Intensität erlebt wurde | „Das ist aber, glaube ich, auch viel Einstellungssache. Das hat ja auch mit Stressresistenz zu tun. Wie sehr man sich in etwas hineinsteigert. Bei mir ist es so, wenn ich in der Arbeit bin, dann bin ich in der Arbeit, und ich nehme das dann nicht mit nach Hause. … Wenn es wirklich eine stark belastende Situation ist, dann spreche ich mit meiner Frau darüber, die kommt aus dem gleichen Bereich. Ja, das schon. Kommt aber eher selten vor. Ansonsten bleibt das in der Arbeit.“ (I18, Abs. 12, 14; Berufserfahrung 11 Jahre, alle im Pflegeheim) | 5 |
MD mäßig | Eine mittlere Ausprägung liegt vor bei a) hoher Frequenz und geringer Intensität, b) bei mäßiger Intensität und geringer Frequenz, oder c) wenn keine eindeutige Zuordnung zu gering oder hoch möglich war (ggf. widersprüchliche Aussagen über das Interview hinweg) | „Ich würde sagen, es kommt monatlich vor. Ich sage, es kommt immer mehr vor. Es wird ja immer mehr vom Krankenhaus in das Pflegeheim verlagert. Es wird in Zukunft sicher mehr kommen. … Ich versuche, es nicht mit nach Hause zu nehmen, aber es gibt sicher Situationen, die man mit nach Hause nimmt und dann mit sich selbst versucht, zu lösen und zu reflektieren. Man hinterfragt, warum man das so gemacht hat. Aber das kommt eher selten vor.“ (I14, Abs. 18, 29; Berufserfahrung 4,5 Jahre, alle im Pflegeheim) | 11 |
MD hoch | Eine hohe Ausprägung liegt vor a) bei mäßiger bzw. hoher Frequenz und hoher Intensität, oder b) wenn ein Berufsausstieg oder -wechsel tatsächlich erwogen wurde, aufgrund von MD | „Ja, im Prinzip erlebt man solche Situationen fast in jedem Dienst. … Ja, also ich habe dann wirklich Schuldgefühle gehabt, weil ich eben der Frau nicht geholfen habe. … I: Ok. Und hast du aufgrund von solchen Situationen, die du mir jetzt genannt hast … schon einmal daran gedacht, dass du den Beruf wechseln möchtest oder überhaupt aussteigen möchtest? B: Ja, das habe ich mir schon gedacht. Nicht nur einmal. sondern des Öfteren. … Einfach, wenn, keine Ahnung, [lachend]. Wenn viele Situationen zusammenkommen. Wenn ein Sturz ist daneben und im anderen Zimmer ist ein Sterbefall oder wenn einfach alles zusammenkommt. Wenn einfach alles zu viel wird.“ (I8, Abs. 16, 34, 55, 58; Berufserfahrung 8,5 Jahre, alle im Pflegeheim) | 5 |
Formen von „moral distress“
In welchen Situationen wird „constraint moral distress“ erlebt?
Kategorie | Definitionen | Ankerbeispiele | n |
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Unnötige/falsche Therapie am Lebensende | Die Pflegekraft erlebt MD durch das Beobachten oder Ausführen unnötiger Therapien, die ihrer Ansicht nach nicht im besten Interesse des Bewohners sind und nicht dessen Wünschen entsprechen bzw. Leid verursachen | „Er [der Bewohner] bekam vor mir einen Herzstillstand und er musste reanimiert werden. Ich muss schon sagen, in diesem Fall finde ich eine Reanimation ethisch äußerst fragwürdig. Mir kommt vor, dass viele Leute nicht mehr in Frieden sterben können. Denn oft wird nicht an die Konsequenzen, die dieser Mensch durch eine Reanimation erleiden könnte, gedacht.“ (I6, Abs. 122; Berufserfahrung 21 Jahre, davon 18 im Pflegeheim) | 16 |
Falscher Umgang mit herausforderndem Verhalten | Die Pflegekraft erlebt MD durch das Beobachten eines ihrer Ansicht nach falschen Umgangs mit Bewohnern mit herausforderndem Verhalten | „Wenn Heimbewohner Sedativa einnehmen müssen, um ihr aggressives Verhalten zu unterdrücken bzw. den Heimbewohner zugänglicher zu machen, obwohl man in vielen Fällen mit, ähm, z. B. ruhiger Stimme oder mit einer ruhigen Ausstrahlung denselben Effekt erreichen würde.“ (I7, Abs. 14; Berufserfahrung 12 Jahre, alle im Pflegeheim) | 11 |
Schlechte Pflege allgemein | Die Pflegekraft erlebt MD durch das Beobachten oder Durchführen schlechter Pflege (z. B. „ins Bett pflegen“, zu wenig Zuwendung) oder nichtessenzieller pflegerischer Handlungen gegen den Willen des Heimbewohners | „Ähm, ein Bewohner, der teilweise inkontinent ist … und der eben öfters auf das WC muss, aber es funktioniert nicht mehr so. Dann habe ich schon erlebt, dass ein paar Pflegekräfte einfach, dann wird einfach, äh, eine Inkohose [Inkontinenzhose] angelegt, und der Bewohner darf dann nicht mehr auf das WC, weil es einfach auch zu aufwendig ist für das Pflegepersonal.“ (I8, Abs. 24 Berufserfahrung 8,5 Jahre, alle im Pflegeheim) | 9 |
Unnötige Krankenhaustransporte | Die Pflegekraft erlebt MD infolge der (beinahen) Durchführung eines ihrer Ansicht nach unnötigen, für den Bewohner belastenden Krankenhaustransports, veranlasst auf Wunsch von Angehörigen oder auf ärztliche Anweisung | „Wenn ich weiß, dass es keine Hilfe mehr gibt und derjenige [der Bewohner] eigentlich schon auf seinem letzten Weg ist und ich ihn eigentlich nur noch plage damit, dass ich ihn ins Krankenhaus schicke. Es ist … sicher für jeden belastend im Krankenhaus, in der Notfallaufnahme; wissen wir alle, wie das ist. Und warum kann ein Mensch nicht dort sterben, wo er eigentlich zum Schluss daheim war, in seiner gewohnten Umgebung?“ (I3, Abs. 15; Berufserfahrung 20 Jahre, alle im Pflegeheim) | 8 |
Barrieren für moralisches korrektes Handeln
Externe Barrieren
Mir geht es auch darum, wenn Bewohner sich nicht mehr äußern können, wie und wer entscheidet dann? Da gibt es oft Angehörige, die dann unbedingt wollen, dass der Bewohner künstlich ernährt wird; das ist für mich schon ein ethisch und moralisch kritischer Punkt (I15, Abs. 12; Berufserfahrung 7 Jahre, alle im Pflegeheim).
Das Pflegepersonal reflektiert dabei durchaus das Entscheidungsdilemma der Ärzteschaft:Wir hatten schon eine Situation im Haus, ja. Das war eine Dame, die hatte eine Nasensonde. Diese war aber für mich schon im Sterbeprozess. Es gab die Anordnung, sie jedoch weiterzuernähren, obwohl sie sich die Nasensonde immer wieder selbst entfernt hat. Ich hätte sie gerne so belassen, wie sie es wollte, ohne Nasensonde. Ich wollte sie nicht auf Zwang ernähren. Das war für mich schwierig, da hätte ich gerne anders gehandelt (I14, Abs. 23; Berufserfahrung 4,5 Jahre, alle im Pflegeheim).
Vor allem dann durch Ärzte, wenn Ärzte ebenfalls in einer Zwickmühle sind, zwischen ihrem Eid, den sie abgelegt haben, und der Situation, in welcher sie sich dann befinden. Oft sind auch Ärzte dafür verantwortlich, dass solche Stresssituationen überhaupt entstehen, weil sie dann auf Biegen und Brechen gewisse Sachen veranlassen (I2, Abs. 26; Berufserfahrung 27 Jahre, davon 14 im Pflegeheim).
Andererseits wurde auch die Gesetzeslage als Barriere beschrieben:Dass viele Bewohner um eine bestimmte Uhrzeit schlafen gehen müssen, obwohl sie vielleicht noch gerne länger aufbleiben würden. Aber um dem Nachtdienst eben etwas Arbeit abzunehmen, müssen sie schon am späten Nachmittag ins Bett (I8, Abs. 14; Berufserfahrung 8,5 Jahre, alle im Pflegeheim).
Wir hatten eine Person, die war 104 Jahre alt. Sie ist dann plötzlich verstorben; diese Dame wurde dann reanimiert. Das habe ich nicht verstanden und verstehe das immer noch nicht. Das verstehe ich vom Gesetz her nicht. Ich habe noch mit der Rettung gesprochen; die haben gesagt, sie müssen sich auch an das Gesetz halten. Ich habe das nicht verstanden. Sie war bettlägerig und sehr alt; sie hatte auch keine Lebensqualität mehr. Das war ein Hammer (I15, Abs. 59; Berufserfahrung 7 Jahre, alle im Pflegeheim).
Wenn diese Situationen auftreten, dann ist meistens zu wenig Personal hier. Man hat zu wenig Personal, dass man sich dann dezidiert darum kümmern kann. Dann hat man auch permanent ein schlechtes Gewissen (I6, Abs. 21; Berufserfahrung 21 Jahre, davon 18 im Pflegeheim).
Wenn der Kollege schon mit einer Abwehrspannung zu ihm geht, dann merkt der Bewohner das. Er verhält sich dann anders. Ich hatte dieses Problem nie. … Die Leute spüren das ja. Deshalb versuche ich, ihm sanfter zu begegnen und zu informieren. Es ist ja normal, dass er sich beim groben Anpacken wehrt. Das löst dann eine Kettenreaktion aus, und am Ende ist dann der Bewohner der, der aggressiv ist (I16, 23–25; Berufserfahrung 15 Jahre, davon 10 im Pflegeheim).
Interne Barrieren
Man denkt immer an die Situation, in welcher er [der Bewohner] sagte: ‚Bitte lass mich hier im Heim.‘ Ich hätte da mehr Nachdruck bei den Angehörigen leisten müssen, für den Heimbewohner. Die Angehörigen waren halt sehr dominant und grob. Ich hätte mich ihr aber trotzdem mehr stellen sollen. Über solche Sachen denkt man schon oft nach (I9, Abs. 51; Berufserfahrung 6 Jahre, alle im Pflegeheim).
I: Und für dich und deine Kollegen, was ist da ethisch und moralisch belastend in so einer Situation? B: Ähm, ja, wenn die Bewohnerin so ausfällig wird. Wenn sie ein bewusst aggressives Verhalten aufweist. Man ist jetzt auch als Pflegeperson nicht immer gleich gut gelaunt. Auch wenn man tagtäglich damit zu tun hat (I4, Abs. 31; Berufserfahrung 7 Jahre, davon 5 im Pflegeheim).
In welchen Situationen wird „uncertainty moral distress“ erlebt?
Unter der Kategorie „sonstige Situationen“ wurden Schilderungen von uMD im Zusammenhang mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, dem Suizid eines Bewohners, dem Tod junger Bewohner und Bewohnern, die unfreiwillig im Heim sind, subsumiert.Im Pflegeheim ist es viel schlimmer, du bist oft alleine im Dienst und hast niemanden zum Fragen. Wo ich dann selbst entscheiden muss, Krankenhauseinweisungen, ja oder nein. Im Zweifel weise ich lieber einmal zu viel als zu wenig ein (I12, Abs. 32; Berufserfahrung 30 Jahre, davon 5 im Pflegeheim).
Kategorie | Definition | Ankerbeispiel | n |
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End of life care | Die Pflegekraft erlebt MD aufgrund von Unsicherheiten in der end of life care. Hierzu kann Unsicherheit zählen, welche pflegerischen oder medizinischen Maßnahmen am besten wären oder aber Zweifel im Nachhinein, ob man es nicht hätte besser/anders machen sollen | „Der Großteil unserer Bewohner leidet an einer Demenzerkrankung, und die verschlechtert sich mit der Zeit. Das häufigste Thema bei uns ist, dass der Demenzkranke dann irgendwann aufhört zu Essen. Da stellt sich dann die Frage, was wir weitermachen. Viele unserer Bewohner haben noch keine Patientenverfügungen oder Ähnliches, und dann liegt es oft an uns, mit den Ärzten und den Angehörigen die beste Lösung für den Bewohner zu finden. Nur, was ist die beste Lösung?“ (I13, Abs. 14; Berufserfahrung 7 Jahre, davon 4 im Pflegeheim) | 12 |
Krankenhaustransporte (am Lebensende) | Die Pflegekraft erlebt MD aufgrund von Unsicherheiten, ob ein Bewohner ins Krankenhaus eingewiesen werden soll oder nicht. Unter diese Kategorie fallen auch Zweifel an der Entscheidung zum Krankenhaustransport im Nachhinein | „Oft weiß man nicht, ab wann man jemanden in das Krankenhaus schickt, oder auch der Arzt selbst ist sich auch unsicher, ab und zu.“ (I19, Ab. 18; Berufserfahrung 21 Jahre, davon 18 im Pflegeheim) | 10 |
Sonstige Situationen | Die Pflegekraft erlebt MD infolge weiterer Situationen der moralischen Unsicherheit, die nicht unter uMD_1 oder uMD_2 subsumiert werden können | „Die freiheitseinschränkenden Maßnahmen sind auch so eine zwiespältige Sache. Auf der einen Seite wissen wir, dass, ähm, … es in Ordnung ist, wenn wir ihm [dem Bewohner] eine Sitzhose im Rollstuhl anlegen, damit er nicht aufstehen und stürzen kann, aber auf der anderen Seite möchte er das nicht und wehrt sich dagegen. Aus gesetzlicher Sicht und auch von unserer Vernunft her müssten wir das machen. Das sind Situationen, wo man dann auch immer an die Grenzen kommt. … Gefühlsmäßig ist es für mich nicht richtig jemanden festzuschnallen, der das nicht will. Das ist für mich moralisch und ethisch sehr schwierig.“ (I18, Abs. 34–37; Berufserfahrung 11 Jahre, alle im Pflegeheim) | 4 |
Quellen von „uncertainty moral distress“
Ich finde, wenn es am Lebensende ist und es dann nicht ausgesprochen ist und ich ihn [den Bewohner] dann in das Krankenhaus schicken muss. Wenn das nicht geklärt ist. Wenn ich ihn dann noch hineinschicken muss und das eigentlich gar nichts bringt. … Ich muss es machen, aber mir selbst geht es dabei nicht gut I11, Abs. 20 + 22; Berufserfahrung 7 Jahre, davon 3,5 im Pflegeheim.
Das ist immer eine Gratwanderung. Im Krankenhaus hat man immer mehrere Meinungen und immer die Ärzte daneben. Bei uns muss man immer alleine entscheiden. Da überlegt man schon oft, ob man das richtig entschieden hat oder ob man das anders entscheiden hätte sollen I19, Abs. 34–35; Berufserfahrung 21 Jahre, davon 18 im Pflegeheim.
Ressourcen
Die Berufserfahrung nannten 16 Personen als wichtig im Umgang mit MD. Zwei Personen nannten Advance Care Planning (ACP) als bereits vorhandene Ressource; weitere 9 wünschten sich diese Ressource. Fort- und Weiterbildungen wurden ebenfalls als potenzielle (n = 7) und vorhandene (n = 1) Ressource genannt. Eine Teilzeitbeschäftigung beschrieben 2 Personen als bereits vorhandene Ressource, während sich 6 Personen einen erhöhten Personalschlüssel wünschten; weitere 4 Personen plädierten für Ethikcafés. Eine Person wünschte sich mehr Unterstützung durch die Führungskraft im Umgang mit MD.Die positiven Rückmeldungen von den Angehörigen und auch sehr oft von den Bewohnern, die es noch können. Und das bestärkt einen und gibt einem so viel Kraft. Da weiß man, man ist doch auf dem richtigen Weg I3, Abs. 58; Berufserfahrung 20 Jahre, alle im Pflegeheim.
Diskussion
Limitationen
Fazit für die Praxis
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Sowohl „constraint moral distress“ (cMD) als auch „uncertainty moral distress“ (uMD) werden im Pflegeheim erlebt, sodass für eine breite Konzeption von moralischem Stress plädiert wird.
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Die fragmentarische ärztliche Präsenz ist einerseits Ursache für moralischen Stress bei Pflegekräften, andererseits wird eine enge Zusammenarbeit mit Ärzten als wichtige Ressource in der Bewältigung von MD erlebt. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Stärkung der ärztlichen Präsenz und interdisziplinären Zusammenarbeit im Pflegeheim, wie sie beispielsweise im Rahmen einer Projektreihe zur Versorgungsoptimierung in Kärntner Pflegeheimen entwickelt und evaluiert wurden.
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Pflegekräfte beschreiben zahlreiche Ressourcen im Umgang mit MD, die für die Entwicklung von Interventionen genutzt werden können. Besonders vielversprechend erscheinen in diesem Zusammenhang neben der Förderung der individuellen Bewältigungsfähigkeit v. a. auch Maßnahmen wie Advance Care Planning (ACP) oder interprofessionelle Ethikcafés, die zur (Weiter‑)Entwicklung moralischer Kompetenz beitragen.