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2012 | OriginalPaper | Buchkapitel

4. Philosophische Ethik und Klinische Ethik

Eine kritische Verhältnisbestimmung

verfasst von : Markus Rothhaar

Erschienen in: Ethikberatung in der Medizin

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Zusammenfassung

Der Begriff der „Klinischen Ethik“ spielt seit einiger Zeit eine wichtige Rolle innerhalb der Medizinethik. Betrachtet man genauer, was damit in der Regel gemeint ist, so wird man feststellen, dass „Klinische Ethik“ weniger einen derjenigen Teilbereiche der Ethik bezeichnet, die gemeinhin „Angewandte Ethik“ genannt wird, als vielmehr eine Praxis: die Praxis der Lösung ethischer Konflikte in klinischen Entscheidungssituationen. Genau dies aber ruft unvermeidlich die Frage nach dem Status solcher „Klinischer Ethik“ im Verhältnis zu dem, was innerhalb der Philosophie üblicherweise „Ethik“ genannt wird, auf den Plan. Die Klinische Ethik ist nämlich, geht man von der soeben gegebenen Definition aus, offenkundig mehr als nur eine Bereichsethik, in der ethische Probleme verhandelt werden, die für einen bestimmten Bereich menschlicher Tätigkeit – wie z. B. Wirtschaft, Medizin, Ökosystem, Naturwissenschaften etc. – spezifisch sind. Vielmehr hat sie eine explizite Ausrichtung auf die Lösung jeweils konkret anstehender Handlungsfragen in Einzelfällen. Wenn das aber der Fall ist, so tauchen beim Verhältnis Philosophischer und Klinischer Ethik Fragen auf, die nicht mit denjenigen identisch sind, die beim Verhältnis von Theoretischer und Angewandter Ethik auftauchen.
Fußnoten
1
Die neben der normativen Ethik zweite wichtige Säule der Philosophischen Ethik ist die Metaethik, die die Grundlagen normativen Redens und Denkens reflektiert.
 
2
Das mag für die sog. „Deskriptive Ethik“ nicht gelten, die die sozialwissenschaftliche Erhebung von moralischen Positionen in der Bevölkerung oder einzelnen Bevölkerungsgruppen, ihre soziale und psychologische Genese etc. zum Forschungsgegenstand hat. Allerdings handelt es sich hier eben auch nicht um Ethik als philosophische Disziplin, sondern um Sozialwissenschaft und/oder Psychologie.
 
3
Vgl. zu diesem Begriff und den möglichen Konfliktformen Glasl (2009).
 
4
Im Prinzip würde sich hier der Begriff der „Mediation“ anbieten, der allerdings im Deutschen bereits zu sehr für den rechtsförmigen Interessenausgleich bei Konfliktfällen reserviert ist.
 
5
Es ist dabei klar, dass eine derartige Ausrichtung gleichwohl nie hundertprozentig ausschließen kann, dass es zu problematischen oder falschen Entscheidungen kommt.
 
6
Den Ausdruck verdanke ich Ralf Stoecker.
 
7
Es ist dementsprechend auch nicht verwunderlich, wenn einer der drei Autoren von „Clinical Ethics“ Albert R. Jonsen zugleich eine einflussreiche Verteidigung der Kasuistik vorgelegt hat. Vgl. dazu Jonsen u. Toulmin (1988).
 
8
Siehe zur Praxis der Ethikberatung bei Spätabbrüchen etwa Fahr et al. (2008).
 
9
Hier stellt sich allerdings die Frage, ob es sich bei der Tötung in Notwehr überhaupt um die Verletzung eines Rechts handelt. Die Erlaubnis zu Notwehr und Notwehrhilfe resultiert, wie Kant richtig gesehen hat, aus der Zwangsbefugnis, die Einhaltung von Rechtspflichten zu erzwingen (vgl. Kant (1907), S. 231). Damit stellt sie aber gerade selbst keine Verletzung eines Rechts dar und die Notwehr bzw. Notwehrhilfe dementsprechend auch streng genommen keine Ausnahme zu einer durch ein Grundrecht gesetzten Regel. Da dies hier allerdings nicht in der gebührenden Ausführlichkeit behandelt werden kann, sei für die Zwecke dieses Aufsatzes die laxe Redeweise von der „Ausnahme“ gestattet. Vgl. näher dazu meine Anmerkungen in Rothhaar (2009), S. 191 ff. und Rothhaar (2011).
 
10
Dies wird in der Regel in der institutionellen Form des Klinischen Ethikkomitees der Fall sein. Vgl. zu den medizinethischen Dimensionen Klinischer Ethikkomitees die Beiträge in Frewer, Fahr u. Rascher (2008).
 
11
Ausnahme wäre lediglich noch die überaus seltenen Fälle, in denen das Leben der Schwangeren bedroht ist und dieser Bedrohung nicht anders als durch einen Schwangerschaftsabbruch abgeholfen werden kann. Das wird gerade im letzten Trimester aber kaum je der Fall sein, da in dieser Phase i.d.R. auch eine Beendigung der Schwangerschaft durch einen Kaiserschnitt möglich ist.
 
12
Alternativ dazu und unter Rücknahme der eigenen Position könnte P auch im Sinne einer sokratischen Mäeutik versuchen, die Handelnden zur Reflexion ihrer eigenen Positionen zu bringen und sie eventuell auf Inkonsistenzen und Unklarheiten ihrer Position aufmerksam machen. Das Ergebnis wäre allerdings dasselbe.
 
13
Für einen Überblick über die Debatte um den „mutmaßlichen Willen“ siehe Höfling u. Schäfer (2006), S. 3–17, sowie Wunder (2004).
 
14
Nämlich im 3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (sog. „Patientenverfügungsgesetz“) aus dem Jahr 2009, das den „mutmaßlichen Willen“ in § 1901a, Abs. (2) BGB verankert.
 
15
Vgl. zur Diskussion um die Patientenverfügung in Deutschland die Beiträge in Frewer et al. (2009) und in May u. Charbonnier (2005).
 
16
Diese Kriterien entsprechen in etwa der seit 2002 in Belgien geltenden Rechtslage.
 
17
Das bedeutet nicht, dass der Philosoph nicht als Berater auch gerade aufgrund seiner philosophischen Kompetenzen einen wichtigen Beitrag bei der Vermittlung von allgemeiner Norm und Einzelfall leisten kann, wie sie von jeder Normanwendung gefordert ist. Allerdings ist auch hier insofern eine Einschränkung zu machen, als diese Normen dann von außen – durch das Recht oder die moralischen Positionen der verantwortlichen Ärzte und der Betroffenen – vorgegeben sind.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (2009), erschienen in Bundesgesetzblatt Jahrgang 2009 Teil I Nr. 48 Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (2009), erschienen in Bundesgesetzblatt Jahrgang 2009 Teil I Nr. 48
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Zurück zum Zitat Frewer A, Fahr U, Rascher W (Hrsg.) (2008) Klinische Ethikkomitees. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Jahrbuch Ethik in der Klinik (JEK), Bd. 1. Würzburg Frewer A, Fahr U, Rascher W (Hrsg.) (2008) Klinische Ethikkomitees. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Jahrbuch Ethik in der Klinik (JEK), Bd. 1. Würzburg
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Zurück zum Zitat Glasl F (2009) Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater. 9. Auflage. Bern Glasl F (2009) Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater. 9. Auflage. Bern
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Metadaten
Titel
Philosophische Ethik und Klinische Ethik
verfasst von
Markus Rothhaar
Copyright-Jahr
2012
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-642-25597-7_4

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