Physical Literacy international
Mit der Veröffentlichung von Margaret Whiteheads Gedanken zu einer Physical Literacy (Whitehead,
2001) hat sich in den letzten 20 Jahren die Idee der Physical Literacy zu einem weitverbreiteten Konzept entwickelt. Dabei reicht die namentliche Nennung einer Physical Literacy jedoch bis in das frühe 20. Jahrhundert zurück (Bailey,
2020). Allerdings haben die Veröffentlichungen von Whitehead gewissermaßen den Weg dafür geebnet, dass Physical Literacy globale Verbreitung gefunden hat (Cairney, Kiez, Roetert, & Kriellaars,
2019a) und speziell ab den 2010er Jahren eine rasante Zunahme an Publikationen diesbezüglich erkennbar ist (Bailey,
2020). Jüngere Literaturreviews dokumentieren zusätzlich die deutlich zunehmende Aufmerksamkeit und Akzeptanz von Physical Literacy in der internationalen wissenschaftlichen Landschaft (u. a. Cornish et al.,
2020; Edwards et al.,
2017; Edwards et al.,
2018; Pushkarenko, Causgrove Dunn, & Wohlers,
2020). Zudem wird die Relevanz von Physical Literacy in fünf internationalen Themenheften („Special Issues“) hervorgehoben (u. a. Cairney,
2020; Chen & Sun,
2015; Dudley, Cairney, & Goodway,
2019; Durden-Myers & Whitehead,
2018; Naylor & Temple,
2018).
Obgleich Physical Literacy in den vergangenen Jahren viel Beachtung gefunden hat, wurde das Konzept immer wieder verschieden interpretiert (Edwards et al.,
2017; Jurbala,
2015). Damit verbunden stehen auch immer Bemühungen, das Konzept der Physical Literacy vor Fehldeutungen zu bewahren und weiterzuentwickeln (u. a. Dudley, Cairney, Wainwright, Kriellaars, & Mitchell,
2017). Um Physical Literacy insgesamt klarer fassen zu können, wurde in der internationalen Forschung mehrfach versucht, Physical Literacy konzeptionell zu systematisieren (u. a. Edwards et al.,
2017) und empirisch zu operationalisieren (Cairney, Dudley, Kwan, Bulten, & Kriellaars,
2019b; Gunnell, Longmuir, Barnes, Belanger, & Tremblay,
2018). Auf Basis des Testinstruments „Canadian Assessment of Physical Literacy“ (CAPL) konnten Gunnell et al. (
2018, S. 133) beispielsweise faktorenanalytisch vier Bereiche voneinander abgrenzen: Daily Behaviour, Motivation & Confidence, Physical Competence, Knowledge & Understanding.
Auch gesellschaftlich und politisch hat sich Physical Literacy zu einer weitreichenden Leitidee entwickelt. So hatte zuletzt auch die UNESCO (
2015) Physical Literacy als ein relevantes Konzept zur Bewegungs- und Gesundheitsförderung in der Gesellschaft hervorgehoben. Zusätzlich haben sich in verschiedenen (insbesondere anglophonen) Ländern Organisationen auf die besondere Förderung von Physical Literacy fokussiert. In Kanada ist beispielsweise 2015 das „Physical Literacy Consensus Statement“ aus verschiedenen Initiativen hervorgegangen (Tremblay et al.,
2018). Auch Australien hat zuletzt ein „Australian Physical Literacy Framework“ veröffentlicht, in dem Physical Literacy zur nationalen Agenda erklärt wurde (Scott, Hill, Barwood, & Penney,
2020). In den USA wird Physical Literacy mittlerweile sogar als zentrale Leitidee in Lehrplänen des Sportunterrichts erachtet (Roetert & MacDonald,
2015).
Fassen wir die aktuellen Befunde zur Physical Literacy zusammen, so wird deutlich, dass Physical Literacy – etwas umgangssprachlich ausgedrückt – „im Trend“ liegt. Es ist davon auszugehen, dass diese Dynamik im internationalen Raum einen Indikator für die zukünftige Entwicklung des Physical-Literacy-Konzepts darstellt.
Physical Literacy im deutschsprachigen Raum
Während Physical Literacy international schon relativ weit verbreitet ist, wurde das Konzept im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren nur vereinzelt aufgegriffen und dabei aus verschiedenen Perspektiven rezipiert.
Aus sportpädagogischer Sicht wurde Physical Literacy zuletzt für den Sportunterricht ausgedeutet. So nutzen beispielsweise Hummel und Krüger (
2020) das Konzept der Physical Literacy als Begründungsrahmen für eine „neue körperliche Grundbildung“. Gleich zu Beginn grenzen sie sich dabei von einer sogenannten „Sportliteralität“ ab und verweisen zum Beispiel auf Veröffentlichungen von Schierz und Miethling (
2017), in denen es um „Bildung
über Sport“ geht (Hummel & Krüger,
2020, S. 295). In ihrem Verständnis jedoch „zielt Physical Literacy auf Bildung und Erziehung
durch und
mit Hilfe von Bewegung, Spiel und Sport“ ab (ebd.). Hummel und Krüger (
2020) verfolgen mit ihrem Entwurf einerseits die „bestmögliche Förderung motorischer Fähigkeiten und die Entwicklung des individuellen Bewegungskönnens“ (S. 299) und andererseits die „Reflexivität und das Verstehen des eigenen Bewegungshandelns sowie aufgeklärte Bewusstseinsbildung über Sinn und Zweck, Wert und Bedeutung körperlicher Bildung“ (ebd.). Neben den Impulsen von Hummel und Krüger (
2020) wird in einem aktuellen Projekt auch daran gearbeitet, Physical Literacy im Rahmen von Curricula der Lehramtsausbildung zu implementieren und den Sportunterricht zu innovieren (Knisel & Bremer,
2021). Darin wird hervorgehoben, dass Physical Literacy einen modernen Sportunterricht verkörpert, „der nicht nur wie bislang die Vermittlung von Sportarten in den entsprechenden Bewegungsfeldern fokussiert, sondern das Wissen und das Verstehen über den Körper und dessen Funktionen sowie über Bewegung im sozialen Kontext in den Mittelpunkt stellt“ (Knisel & Bremer,
2021).
Im deutschsprachigen Raum wurde Physical Literacy zuletzt auch verstärkt mit Gesundheitskompetenz in Verbindung gebracht. Hier sind zum einen das Modell der sportbezogenen Gesundheitskompetenz (SGK; Töpfer & Sygusch,
2014; Töpfer,
2019) und zum anderen das Modell der bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz (BGK; Pfeifer, Sudeck, Geidl, & Tallner,
2013; Sudeck & Pfeifer,
2016) zu nennen.
Das SGK-Modell wurde vorrangig vor dem Hintergrund der sportpädagogischen Gesundheits- und Kompetenzdiskussion konzipiert. Es beruht maßgeblich auf der Leitidee der Handlungsfähigkeit, welche das selbstbestimmte und verantwortungsvolle Handeln von Kindern und Jugendlichen im Sport in den Mittelpunkt stellt (u. a. Gogoll & Kurz,
2013). Diese Handlungsfähigkeit zeigt sich demnach in dreifacher Hinsicht: im Sportunterricht, außerhalb der Schule und im späteren Leben der jungen Menschen. Basierend auf dem SGK-Modell wurde ein Testinstrument für den Sportunterricht entwickelt und validiert (Töpfer,
2019). In jüngeren Veröffentlichungen wurde das SGK-Modell insbesondere mit dem Fokus des gesundheitsbezogenen Wissens und Verstehens in der Physical Literacy verortet (Strobl, Ptack, Töpfer, Sygusch, & Tittlbach,
2020). Das Modell orientiert sich damit an der Denkweise, dass Wissen in der Physical Literacy sowohl im Bereich der kognitiven Komponenten als auch auf einer übergreifenden Ebene eine Schlüsselfunktion zukommt (Cale & Harris,
2018; Ennis,
2015), indem es nicht nur als Basis für Performanzen gilt, sondern auch Ausgangspunkt für Transfer und Innovation darstellt.
Das BGK-Modell wiederum stammt ursprünglich aus dem Kontext der Rehabilitation (Pfeifer et al.,
2013) und spiegelt die Notwendigkeit wider, neben klassisch orientierten physischen (z. B. motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten) und psychologischen Aspekten (z. B. Selbstwirksamkeit, Einstellungskomponenten) auch qualitative Komponenten des Bewegungsverhaltens (Steuerungskompetenz z. B. via Affektregulation oder Belastungssteuerung) in den Blick zu nehmen. Während Physical Literacy eine sehr inklusive Perspektive auf Bewegung und Sport einnimmt, lässt sich BGK eher als ein bewegungsbezogener Ansatz „im Dienste“ der Gesundheit charakterisieren (Carl, Sudeck, & Pfeifer,
2020). Damit rückt dieser in die Nähe von Physical-Literacy-Studien, die die Wichtigkeit des Gesundheitsaspekts betonen (z. B. Cairney et al.,
2019b; Cornish et al.,
2020). Als ein weiterer wichtiger Unterschied auf der Ebene von Modellkomponenten ist hervorzuheben, dass körperliche Aktivität bei BGK konsequent als Ergebnisvariable geführt wird. Im Physical-Literacy-Ansatz hingegen fungiert körperliche Aktivität oft als separate Modellkomponente (Carl et al.,
2020).
Insgesamt wird Physical Literacy im deutschsprachigen Raum vor allem im Rahmen von Interventionsstudien eingesetzt. Dabei wird Physical Literacy entweder explizit namentlich genannt (Demetriou, Bachner, Reimers, & Göhner,
2018; Holler et al.,
2019) oder zumindest in Bezug zu verwandten Konzepten (SGK und BGK) gesetzt (Bruland, Voß, Schulenkorf, & Latteck,
2019; Strobl et al.,
2020; Volk et al.,
2021). In den zwei erstgenannten Studien dienen Indikatoren von Physical Literacy als Evaluierungskriterien. Zwar steht den Forscher*innen kein spezifisch validiertes Messinstrument zu Physical Literacy zur Verfügung, jedoch wird auf der Domänenebene auf etablierte Verfahren zurückgegriffen, wie beispielsweise auf Erhebungsinstrumente zur Motivation, zum Aktivitätsverhalten oder zum bewegungsbezogenen Wissen (Demetriou et al.,
2018; Holler et al.,
2019). Erste Forschungsprojekte mit einem Bezug zur Physical Literacy wurden in jüngster Zeit nicht nur in Deutschland (u. a. Demetriou et al.,
2018; Wessely, Starke, Weyers, & Joisten,
2021), sondern auch in Österreich (u. a. Holler et al.,
2019) durchgeführt. So wurden beispielsweise im österreichischen Projekt „Primary Care & Physical Literacy“ Trainer*innen in Gruppenkursen zu diesem Thema fortgebildet (Holler et al.,
2021). Entsprechende Studien aus der deutschsprachigen Schweiz liegen uns nach aktuellen Recherchen nicht vor.
Resümierend lassen sich vier Beobachtungen herausarbeiten:
1.
Es wird deutlich, dass Physical Literacy nur zögerlich in der Forschungslandschaft der deutschsprachigen Sportwissenschaft anzukommen scheint. Zum einen fließt Physical Literacy in konzeptionelle Arbeiten ein (u. a. Hummel & Krüger,
2020), und zum anderen wird es als Grundlage für Forschungsprojekte herangezogen (u. a. Demetriou et al.,
2018; Holler et al.,
2019). Derzeit liegen im deutschsprachigen Raum jedoch noch keine weitreichenden Befunde zur Physical Literacy vor.
2.
Auffällig ist, dass in den vorliegenden Publikationen meist versucht wird, die bereits vorhandenen deutschsprachigen Konzepte (SGK, BGK, körperliche Grundbildung) gewissermaßen nachträglich über Physical Literacy zu begründen, zu verorten oder teilweise zu erweitern (Carl et al.,
2020; Hummel & Krüger,
2020; Strobl et al.,
2020).
3.
Im aktuell noch kleinen deutschsprachigen Diskurs zur Physical Literacy deutet sich bereits an, dass Physical Literacy durchaus verschieden ausgelegt und adaptiert wird. Dabei variieren die Überschneidungen zum ursprünglichen Ansatz von Whitehead je nach Entwurf. Vor dem Hintergrund der internationalen Diskussion verwundert dies nicht, da auch hier beispielsweise unterschiedliche Gewichtungen zugunsten von „physical competence“ (Hyndman & Pill,
2018) oder „knowledge“ (Ennis,
2015) erkennbar sind.
4.
Zudem wird deutlich, dass Physical Literacy bislang insbesondere sportpädagogisch (u. a. Strobl et al.,
2020) und gesundheitswissenschaftlich (u. a. Carl et al.,
2020) diskutiert wird. Eine breit gefächerte interdisziplinäre Auseinandersetzung liegt in der deutschsprachigen Sportwissenschaft aktuell nicht vor.