Geschichte
Die „Politische Kindermedizin“ begann in den 1990er-Jahren als gemeinsames Projekt einer Gruppe von Freunden, die sich durch ihre Tätigkeit an der Universitätskinderklinik in Wien kannten. Ihr Anliegen war, Unzufriedenheit mit der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen nicht zu bejammern, sondern durch faktenbasierte Analyse Vorschläge zu einer Systemverbesserung zu erstellen, öffentlich bewusst zu machen und ihre Umsetzung auf politischem Weg zu erreichen. Eines der wichtigsten Gründungsmitglieder, Franz Waldhauser, musste seine Koautorenschaft bei diesem Beitrag zurückziehen, da er in einem Gerichtsverfahren vertraglich dazu verpflichtet wurde, keine weitere Kritik am System zu üben.
Die erste Initiative dieser Gruppe war eine Bestandsaufnahme, das Buch
Weggelegt. Kinder ohne Medizin [
11]: In 15 Kapiteln wurde die Kritik am System von verschiedenen ExpertInnen engagiert dargestellt.
Weggelegt erregte Aufsehen v. a. durch ein Kapitel über die Ergebnisse der Kinderherzchirurgie und die im internationalen Vergleich geringere Zahl von Lebertransplantationen in Österreich. Das System reagierte massiv gekränkt mit einer zivilrechtlichen Klage der Gemeinde Wien und einem Disziplinarverfahren der Medizinischen Universität Wien gegen den Erstautor sowie disziplinären Drohungen gegen die Mitautoren des Kapitels. Der Rechtsstreit endete mit einem Vergleich
1, das Disziplinarverfahren mit einem Freispruch.
Trotz schwieriger Anfänge tritt die PKM weiterhin für eine gute und gerechte Versorgung aller Kinder ein
Die Konsequenz war allerdings eine Systemreform: Das Gesundheitsministerium richtete eine international besetzte Kommission ein; die Kinderherzchirurgie wurde in Österreich neu organisiert. Die Behandlungsergebnisse, die bis dahin auch nicht veröffentlicht worden waren, liegen mittlerweile im europäischen Spitzenfeld [
12,
13]. Im Weiteren initiierte das Gesundheitsministerium eine Kinder- und Jugendgesundheitsstrategie [
14], wobei auch Autoren von
Weggelegt in die Konzeption eingebunden wurden. Auch die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) hat große Teile des Inhalts von
Weggelegt zu ihren Anliegen gemacht.
Die nächsten Schritte waren eine Verbreiterung der Basis durch öffentliche Diskussionsrunden, die Einrichtung einer Homepage (
www.polkm.org) und die Gründung mehrerer Arbeitsgruppen:
-
„Kind – arm – krank“ (Ernst Tatzer), mit sozialpädiatrischen Anliegen, insbesondere zur Verbesserung der therapeutischen Versorgung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen,
-
„Spezialisierung in der Kindermedizin“, später „Schwerpunktsetzung in der Pädiatrie“ (Franz Waldhauser), die sich mit der Struktur der stationären pädiatrischen Versorgung, insbesondere der tertiären Versorgung, befasst,
-
„Selbsthilfegruppen“ (Irene Promussas), die dann in „Lobby4Kids“ [
15], einen Dachverein für Selbsthilfegruppen überging.
Weitere Schritte waren die Herausgabe von vierteljährlichen Newslettern (Redaktion Rudi Püspök; [
16]) sowie die Organisation von Jahrestagungen, die aus geografischen und organisatorischen Gründen vorwiegend in Salzburg stattfanden (Organisation Leonhard Thun-Hohenstein). Bereits die erste Tagung zum Thema „Werte vs. Ökonomie“, im Oktober 2007, war ein großer Erfolg, obwohl den Mitarbeitern der Universitätskliniken in Wien und Graz von einer Teilnahme „dringend abgeraten“ wurde. Bei dieser und allen weiteren Tagungen (Tab.
1) wurde auch eine am Ende der Tagung
2 von den TeilnehmerInnen erarbeitete Resolution [
17] erstellt. Schriftliche Fassungen der Vorträge wurden als Buch bzw. Sonderheft im Springer Medizin Verlag veröffentlicht und an ausgewählte EntscheidungsträgerInnen des österreichischen Gesundheitssystems versandt. Eine frühe Darstellung der Aktivitäten der Initiative „Politische Kindermedizin“ findet sich in einem Themenheft der
Monatsschrift für Kinderheilkunde des Jahres 2010 [
3,
10].
Tab. 1
Jahrestagungen der Initiative „Politische Kindermedizin“
1 | 19.–20.10.2007 | Werte vs. Ökonomie |
2 | 24.–25.10.2008 | Chronisch krank – chronisch unterversorgt? |
3 | 16.–17.10.2009 | Kind und Recht |
4 | 12.–13.11.2010 | Kinder im besten Gesundheitssystem der Welt? |
5 | 14.–15.10.2011 | Kind, Medizin, Medien und Politik |
6 | 19.–20.10.2012 | Probleme der kinder- und jugendmedizinischen Primärversorgung in Österreich |
7 | 15.–16.11.2013 | Partizipation in der Kinder- und Jugendmedizin – von der Versorgung zur Teilhabe |
8 | 06.–07.11.2014 | Kompetenzzentren und Versorgungsnetzwerke für Kinder und Jugendliche mit seltenen, komplexen und diagnostisch/therapeutisch aufwendigen Erkrankungen |
9 | 16.–17.10.2015 | Lost in Transition – Wenn aus Kindern Erwachsene werden |
10 | 11.–12.11.2016 | Im Netz geborgen? Netzwerke und ihre Wirkung |
11 | 10.–11.11.2017 | Welcome? Medizinische Versorgung von Flüchtlingskindern |
12 | 09.–10.11.2018 | Medizinisch-therapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen: Wer hat die Verantwortung? Wer nimmt sie wahr? |
13 | 08.–09.11.2019 | Seltene Erkrankungen. Gemeinsam mit dem Forum „Seltene Erkrankungen“ und „Pro Rare Austria“ |
14 | Verschoben auf 11.–12.11.2021 | Bildung und Gesundheit |
In der Folge wurden der Aktualität der Themen entsprechend weitere Arbeitsgruppen gebildet:
-
Primärversorgung (Ernst Tatzer, später Rudi Püspök),
-
Flüchtlingsmedizin (Nicole Grois),
-
Transition (Christian Popow, später Sonja Gobara).
Die Arbeitsgruppe „Kostenfreie Therapien“ (Rudi Püspök, später Irmgard Himmelbauer) setzte die Bemühungen um notwendige (für die Eltern) kostenfreie funktionelle Therapien und Psychotherapie [
18] fort. Dabei ist mit „kostenfrei“ die Umsetzung der im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz verankerten Verpflichtung zur Finanzierung notwendiger Therapien durch die Sozialversicherungen gemeint. Diese Befreiung von für die meisten Familien nichtleistbaren Selbstkosten bei Inanspruchnahme privater Leistungserbringer ist deshalb notwendig, weil das Angebot an krankenkassenfinanzierten Therapieplätzen viel zu gering ist [
19]. Gespräche mit den Krankenkassen, dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger und dem Gesundheitsministerium trafen immer auf Wohlwollen, gleichzeitig aber auch auf geringe Bereitschaft, das „System“ (das den Sozialversicherungsträgern durch Nichtleistung Ersparnisse in Millionenhöhe auf Kosten der betroffenen Kinder und deren Familien beschert), zu ändern. Wichtige Bausteine waren:
Seit 2013 ist die Plattform „Politische Kindermedizin“ als gemeinnütziger Verein organisiert. War die „Politische Kindermedizin“ zunächst angefeindet (s. „Weggelegt“), so hat sie sich in den letzten Jahren zu einem verlässlichen Partner und Ideengeber entwickelt, wozu auch die Kontakte zur Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (Daniela Karall, Reinhold Kerbl, Willy Kaulfersch, Klaus Schmitt, Wolfgang Sperl) und zur Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Leonhard Thun-Hohenstein) sowie zu in- und ausländischen Wissenschaftlern und zur Politik beigetragen haben.
„Politische Kindermedizin“ hat sich zu einem verlässlichen Partner und Ideengeber entwickelt
Leider haben zuletzt die durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) bedingten Mobilitäts- und Kontaktbeschränkungen die persönlichen Kontakte und damit die so wichtige Diskussion deutlich eingeschränkt, wozu auch die Verschiebung der 14. Jahrestagung gezählt werden muss. Wir versuchen daher, die zahlreichen „FreundInnen“ der Initiative „Politische Kindermedizin“ mit den 4‑mal jährlich erscheinenden Newslettern [
16], den ebenfalls 4‑mal jährlich erscheinenden Newslettern der Arbeitsgruppe „Schwerpunktsetzung in der Pädiatrie“ [
22] und auf unserer Homepage zu informieren. Die bisherigen Sprecher bzw. Obleute von „Politische Kindermedizin“ sind in Tab.
2 aufgeführt.
Tab. 2
Sprecher bzw. Obleute von Politische Kindermedizin seit 2007
2007–2009 | Franz Waldhauser |
2009–2012 | Reinhold Kerbl |
2012–2013 | Ernst Tatzer |
2013–2017 | Sonja Gobara |
2017–2019 | Ernst Tatzer |
2019–2021 | Christian Popow |
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.