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Erschienen in: Die Innere Medizin 3/2020

Open Access 06.02.2020 | Polyneuropathie | Schwerpunkt: Polyneuropathien

Polyneuropathie im Alter

verfasst von: W. N. Löscher, B. Iglseder

Erschienen in: Die Innere Medizin | Ausgabe 3/2020

Zusammenfassung

Das periphere Nervensystem ist im Laufe des Alternsprozesses Veränderungen unterworfen. So kommt es unter anderem zu einer Abschwächung von Muskeleigenreflexen und Propriozeption. Davon abzugrenzen sind Polyneuropathien als krankhafte Veränderungen des peripheren Nervensystems. Die jährliche Inzidenz von Polyneuropathien wird auf 118/100.000 geschätzt, die Prävalenz liegt bei etwa 1 %, für ältere Populationen werden 7 % angegeben. Die Ursachen sind vielfältig und ähnlich den Ursachen von Neuropathien des jüngeren Alters: Neben metabolischen, immunvermittelten, hereditären, toxischen und infektiösen Ätiologien können Polyneuropathien Ausdruck von Systemerkrankungen sein. Entsprechend der Altersverteilung der verschiedenen Ursachen sind Neuropathien im Zusammenhang mit Diabetes, monoklonalen Gammopathien und Malignomen im Alter häufiger. Allerdings nimmt der Anteil der kryptogenen Neuropathien, also ohne eindeutige Ursache, mit dem Alter zu. Bei alten Menschen führen Polyneuropathien zu einer zusätzlichen Beeinträchtigung der Mobilität und einem erhöhten Sturzrisiko, was auch die Abklärung funktioneller Fähigkeiten erforderlich macht.
Hinweise

Redaktion

E. Märker-Hermann, Wiesbaden
M. Wehling, Mannheim
Mit einem systematischen Zugang kann bei Polyneuropathie (PNP) in etwa 60–80 % der Fälle eine spezifische Diagnose gestellt werden. Grundlage sind Anamnese, klinischer Befund, neurophysiologische Tests und Laboruntersuchungen. Therapeutisch steht neben der Behandlung der Grunderkrankung die Behandlung des neuropathischen Schmerzes im Vordergrund. Physiotherapie und Maßnahmen zum Erhalt der Alltagsfähigkeit ergänzen das Spektrum.

Altersassoziierte Veränderungen des peripheren Nervensystems

Das periphere Nervensystem (PNS) ist im Laufe des Alternsprozesses Veränderungen unterworfen. Im Jahr 1970 wurde an Einzelfaserpräparaten nachgewiesen, dass mit zunehmendem Alter die Zahl abnormer Fasern mit Zeichen der Waller-Degeneration, segmentaler Demyelinisierung sowie Abnormitäten und Variation der internodalen Distanz anstieg [4], auch die Zahl der sympathischen Neurone im Rückenmark geht pro Dekade um etwa 8 % zurück [24]. Die Muskeleigenreflexe nehmen mit dem Alter vor allem an den unteren Extremitäten mit distaler Betonung ab, so ist der Achillessehnenreflex bei 38 % der >65-Jährigen nicht auslösbar, die Reflexe der oberen Extremitäten fehlen lediglich bei 5 % [43]. Auch das Berührungsempfinden zeigt mit dem Alter eine zunehmend höhere Schwelle, die Propriozeption leidet durch eine Reduktion der Mechanorezeptoren in Gelenken und Haut [14, 37]. Ein reduzierter Vibrationssinn, besonders distal an den Beinen, wurde bei 71 % einer gesunden Altersgruppe nachgewiesen [43].
Zusätzlich führen diese Alternsvorgänge des PNS in teils kausalem Zusammenspiel mit der Abnahme der Muskelmasse (Sarkopenie) zu einem Verlust an Muskelkraft und Gleichgewicht. Dieses Zusammenspiel neuronaler und muskulärer Faktoren als Ursache der Muskelschwäche im Alter fand unter dem Terminus Dynapenie Eingang in die Literatur [8]. Daraus resultieren – zusätzlich beeinflusst von zentralen Alterungsphänomenen – funktionelle Einschränkungen wie reduzierte Mobilität und erhöhtes Sturzrisiko [5, 37].
Die PNP wirkt sich deutlich auf Selbsthilfefähigkeit, Alltagsaktivitäten und Sturzrisiko aus
In der Rotterdam-Studie wurde bei älteren Probanden mit einem Durchschnittsalter von 71 Jahren der Zusammenhang zwischen Alltagsfähigkeiten, Stürzen und PNP untersucht. Bei Vorliegen einer PNP fand sich ein deutlich erhöhtes Sturzrisiko (Odds Ratio [OR] 1,87; 95 %-Konfidenzintervall [KI] 1,10–3,16), in diesem Kontext war das Risiko, im Rahmen des Sturzes eine Fraktur zu erleiden, besonders akzentuiert (OR 3,35; 95 %-KI 1,02–10,97). Zudem boten die Betroffenen schlechtere Ergebnisse bei basalen und instrumentalen Aktivitäten des täglichen Lebens wie Gehvermögen, Mobilität oder Einkaufen. Auch Gehgeschwindigkeit, Kadenz und Tandemgang als Parameter der Ganganalyse fielen bei Vorliegen einer PNP schlechter aus. Die PNP hat somit deutliche Auswirkungen auf Selbsthilfefähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens und Sturzrisiko [16].

Epidemiologie und Ätiologie – Ursachen im Alter

Die Inzidenz von PNP beträgt in den Niederlanden bei Personen über 18 Jahre 77/100.000, nimmt aber mit dem Alter deutlich zu: Von ~60/100.000 bei 50- bis 54-Jährigen auf ~300/100.000 bei 75- bis 79-Jährigen [41]. Eine große Metaanalyse ergab eine Prävalenz von 1 % für die Gesamtbevölkerung, die auf 3 % bei >55-Jährigen und auf 7 % in der älteren Population steigt [17]. Das gehäufte Auftreten im Alter beschrieb Oppenheim bereits 1893 als vorwiegend durch sensible Reizerscheinungen gekennzeichnete „Polyneuritis senilis“ [28].
Eine Besonderheit des Alters ist der hohe Anteil an Neuropathien ohne eindeutige Ursache
Die Ursachen von Neuropathien sind auch im Alter mannigfaltig: Neben metabolischen, immunvermittelten, hereditären, toxischen und infektiösen Ätiologien treten PNP im Rahmen von Systemerkrankungen auf. Eine Besonderheit des Alters ist der hohe Anteil an Neuropathien ohne eindeutige Ursache, man spricht von kryptogenen oder chronischen idiopathischen Neuropathien. Erwartungsgemäß nimmt im Alter die Inzidenz der diabetischen PNP zu (etwa 30 % der Fälle), während etwa immunvermittelte Neuropathien anteilsmäßig deutlich abnehmen [41].
So fand eine retrospektive Untersuchung an 785 Patienten über 65 Jahre eine kryptogene Neuropathie in 35,4 % und eine diabetische Neuropathie in 18,8 % der Fälle (Tab. 1; [27]). Ähnliches wird auch in anderen Studien berichtet [15, 41].
Tab. 1
Ursachen von Neuropathien bei 785 Patienten über 65 Jahre. (Nach [27])
Ursache
Häufigkeit (%)
Idiopathisch
35,4
Diabetes
18,8
Immunologisch
7,9
Toxisch
7,4
Entzündlich
6
Hereditär
3,4
Infektiös
3
Alkohol
2,9
Monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz
2,9
Hämatologisch
2,5
Makroglobulinämie
2
Karzinom
2
Verschiedene metabolische Erkrankungen
2
Niereninsuffizienz
1,9
Primäre Amyloidose
1
Verschiedenes
1
Angesichts der Polypharmazie im Alter sollten medikamenteninduzierte PNP nicht übersehen werden. Die Liste der PNP-verursachenden Medikamente ist lang, zu erwähnen sind vor allem Chemotherapeutika, einzelne Virostatika und Antibiotika sowie Statine und Amiodaron [21].

Besonderheiten der klinischen und apparativen Diagnostik im Alter

Die altersassoziierten Veränderungen des PNS können auch bei gesunden alten Menschen zu Symptomen und Zeichen führen, die denen einer Neuropathie entsprechen [43]; so berichten 20 % der gesunden alten Menschen über Parästhesien oder Hypästhesien, 28 bzw. 21 % über Krämpfe oder Steifigkeit, beides vorwiegend in den Beinen. In der klinischen Untersuchung gesunder alter Menschen wurden ein abnormer Vibrationssinn in 71 % und ein fehlender Achillessehnenreflex in 38 % der Fälle gefunden. Abnormer Vibrationssinn und fehlender Achillessehnenreflex werden bei Gesunden ab dem 60. Lebensjahr beobachtet [44]. Altersabhängige Normwerte für die Bestimmung des Vibrationssinns mit der Rydel-Seiffer-Stimmgabel wurden publiziert [26].
Orthopädische Veränderungen können die Gangunsicherheit einer Neuropathie vortäuschen
Auch orthopädische Veränderungen wie Arthrosen oder Hallux valgus können die Gangunsicherheit einer Neuropathie vortäuschen, ebenso wie die altersbedingte Verschlechterung von Gleichgewicht, Sehen, Hören und zentraler Regulation der posturalen Kontrolle. All dies muss bei der Diagnose einer sensiblen Neuropathie im Alter bedacht werden. In der klinischen Untersuchung von Stand und Gang sind das erhöhte Sturz- und Frakturrisiko alter Menschen zu beachten, besonders bei Wendemanövern und unter Ausschaltung der optischen Kontrolle bei geschlossenen Augen.
Elektrophysiologische Untersuchungen werden vor allem zur pathophysiologischen Beurteilung von Neuropathien, aber auch zu deren Objektivierung eingesetzt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass sich die meisten Parameter der Elektroneurographie mit dem Alter verändern, vor allem nehmen die Amplituden der sensiblen, aber auch der motorischen Potenziale ab [39, 45]. Da die Diagnose einer axonalen Neuropathie, die mit ~90 % im Alter die bei Weitem häufigste Form darstellt [27], zu einem großen Teil auf der Reduktion der Amplituden dieser Potenziale beruht, kann die elektrophysiologische Objektivierung erschwert sein.

Wichtiges zu einzelnen Neuropathien

Das klinische Bild, der Krankheitsverlauf und die Therapie von Neuropathien sind im Alter und in jüngeren Jahren ähnlich. Allerdings ist die Prognose im Alter häufig schlechter, wie etwa beim Guillain-Barré-Syndrom [40].

Chronische idiopathische axonale Polyneuropathie/kryptogene Neuropathie

Die chronische idiopathische axonale PNP (CIAP) ist die häufigste Neuropathie im Alter [41]. Klinisch ist sie definiert durch eine relativ milde und nur sehr langsam progrediente Klinik vor allem in Form distaler Sensibilitätsstörungen an den Beinen, einer milden sensiblen Ataxie und neuropathischer Schmerzen [34]. Paresen fehlen, erlaubt ist per definitionem nur eine geringe Parese der Zehenextensoren. Elektrophysiologisch handelt es sich um eine axonale Neuropathie.
Bekannte Ursachen von Neuropathien müssen vor Diagnose einer CIAP ausgeschlossen werden [34, 47]. Zu beachten ist, dass vor allem Ursachen von Neuropathien mit ähnlichem Phänotyp abgeklärt werden, und nicht jede nur erdenkliche Ursache. In erster Linie müssen metabolische, toxische und systemische Faktoren ausgeschlossen werden. Es hat sich gezeigt, dass die CIAP häufiger mit einem metabolischen Syndrom assoziiert ist [42], was unter Umständen einen therapeutischen Ansatz bietet. In der Betreuung der betroffenen Patienten ist es entscheidend zu betonen, dass die Erkrankung nur langsam progredient ist und mild verläuft.

Lumbosakrale Radikuloplexusneuropathie

Im medianen Alter von 65 bis 70 Jahren kann die lumbosakrale Radikuloplexusneuropathie (LRPN) auftreten [11, 12]. Es kommt zu akut einsetzenden heftigen Schmerzen, die von lumbal zur ventralen Seite eines Oberschenkels ziehen. Rasch – innerhalb von Wochen bis Monaten – entwickeln sich Lähmungen und Atrophien der Beckengürtel- und Oberschenkelmuskeln, begleitet von einem teilweise deutlichen Gewichtsverlust. Sensibilitätsstörungen stehen im Hintergrund. Die Erkrankung beginnt in der Regel einseitig, breitet sich auf die andere Seite aus, bleibt aber meist asymmetrisch. Zum Diagnosezeitpunkt sind die meisten Betroffenen nicht selbstständig gehfähig. Die Erkrankung verläuft monophasisch, eine langsame Besserung beginnt in der Regel ab dem sechsten Monat.
Männer erkranken häufiger. Die Erkrankung kann idiopathisch oder im Rahmen eines Diabetes als diabetische LRPN, früher auch diabetische Amyotrophie genannt, auftreten. Die Differenzialdiagnose zu radikulären Ausfällen kann schwierig sein und bildgebende Verfahren notwendig machen. Die Zellzahl im Liquor ist unauffällig, das Eiweiß kann leichtgradig erhöht sein. Die Prognose ist variabel, Schmerzen können wochenlang anhalten. Da die histologische Untersuchung von Nervenbiopsaten eine epineurale Vaskulitis zeigte [11], sind Behandlungsversuche mit intravenösen Steroiden oder Immunglobulinen vertretbar.

Polyneuropathien bei monoklonalen Gammopathien unklarer Signifikanz

Im Alter finden sich vermehrt Paraproteinämien (monoklonale Gammopathien). In seltenen Fällen treten diese im Kontext hämatologischer Erkrankungen wie des multiplen Myeloms oder Morbus Waldenström auf, meist findet sich allerdings eine monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS). Diese altersabhängige Veränderung tritt bei 5,3 % der >70-Jährigen und bei 10 % der >80-Jährigen auf und ist bei 10 % der Patienten mit kryptogener Neuropathie nachweisbar [32]. Das Risiko der Progression zu einer hämatologischen Erkrankung beträgt etwa 1 % pro Jahr, unterscheidet sich aber zwischen Immunglobulin-M(IgM)- und Non-IgM-MGUS [22].
MGUS sind mit verschiedenen Phänotypen von Neuropathien assoziiert. Genauer mit
  • der distal symmetrischen demyelinisierenden Neuropathie (DADS),
  • einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyradikuloneuropathie (CIDP) und
  • einer längenabhängigen symmetrischen axonalen Neuropathie (LDN).
Die DADS-Neuropathie ist eine distale sensibel betonte Neuropathie mit deutlicher Ataxie und Tremor. Obwohl sie nur langsam progredient ist, kann es nach jahrelanger Erkrankung zu deutlichen Behinderungen kommen [30]. Der typische elektrophysiologische Befund ist der einer distalen Demyelinisierung in der motorischen Neurographie, ein Befund der sich mit dem Terminale-Latenz-Index quantifizieren lässt [6].
Bei der DADS-Neuropathie findet sich in der Regel eine IgM-MGUS und in etwa 60 % der Fälle ein Antikörper gegen myelinassoziiertes Glykoprotein (MAG). Eine CIDP, eine motorische und sensible, distale und proximale, symmetrische progrediente Neuropathie, können mit einer IgM-, Immunglobulin-A(IgA)- und Immunglobulin-G(IgG)-MGUS vergesellschaftet sein. Bei der normalerweise anfangs milden und nur langsam progredienten LDN bei IgG- und IgA-MGUS ist die Kausalität zwischen MGUS und Neuropathie um einiges unklarer als bei den anderen Formen [3032]. Selten führt jedoch eine IgA- oder IgG-MGUS zu einer Leichtketten(AL)-Amyloidose. Daran sollte bei rasch progredienten, meist axonalen Neuropathien, Gewichtsverlust, Organomegalie, Kardiomyopathie und Makroglossie gedacht werden. Eine Biopsie, idealerweise von einem betroffenen Organ, hilft die Diagnose zu sichern [31, 32]. Eine Rarität ist die CANOMAD – eine chronische ataktische Neuropathie mit Ophthalmoplegie, M‑Gradienten, Kälteagglutininen und Antikörpern gegen Disialosylganglioside [25, 46].
Trotz langsamer Progredienz kann die DADS-Neuropathie nach Jahren zu deutlichen Behinderungen führen
Die Therapie der CIDP mit IgA- oder IgG-MGUS entspricht der der idiopathischen CIDP [20]. In Fällen einer Neuropathie bei IgM-MGUS besteht keine Evidenz, dass eine immunsuppressive Therapie wirksam ist [20]. In progredienten Fällen ist der Versuch einer immunmodulierenden oder -supprimierenden Therapie, beispielsweise mit Steroiden, intravenösen Immunglobulinen oder Plasmaseparation, gerechtfertigt. Obwohl eine Studie zur Behandlung der MAG-Neuropathie mit Rituximab negativ war [19, 23], wird es im Alltag doch immer wieder auch erfolgreich eingesetzt [38].

Polyneuropathien durch Vitaminmangel

Eine Mangelernährung als Ursache von Hypovitaminosen findet sich im Alter bei gestörter enteraler Resorption, meist besteht ein Mangel an B‑Vitaminen. Ein Mangel an Vitamin B1 (Thiamin), B6 (Pyridoxin) oder auch B12 (Cobalamin) kann zu Neuropathien führen [36]. Am häufigsten ist der Vitamin‑B12-Mangel, der sich bei bis zu 6 % der <60-Jährigen und bei bis zu 20 % der >60-Jährigen findet [18]. Typisches klinisches Bild ist die Kombination von Rückenmarkssymptomen und Symptomen einer PNP [36]. Ein klinischer Hinweis auf einen Vitamin‑B12-Mangel ist das gleichzeitige Auftreten von sensiblen Symptomen an Händen und Füßen. Die isolierte Bestimmung von Vitamin B12 reicht nicht aus, da ein funktioneller Vitamin‑B12-Mangel auch bei niedrig-normalen Vitamin‑B12-Werten beobachtet wurde. Die Bestimmung von Homocystein und vor allem Methylmalonat erhöht die diagnostische Sensitivität beträchtlich [18, 36]. Bei einem Mangel sollte eine sofortige parenterale Substitution erfolgen, da eine Besserung in der Regel nur bei sehr frühem Therapiebeginn zu erwarten ist [36].
Neuere Beobachtungen legen eine Assoziation von L‑Dihydroxyphenylalanin (L-DOPA) mit Morbus Parkinson und PNP nahe. Es hat sich gezeigt, dass Höhe und Dauer der L‑DOPA-Dosierung mit Hinweisen auf einen Vitamin‑B12-Mangel und auch mit der Wahrscheinlichkeit einer Neuropathie korrelieren [7]. Daher sollte vor allem bei Patienten mit Morbus Parkinson, Langzeit-L-DOPA-Therapie und PNP an einen Vitamin‑B12-Mangel gedacht werden [33].

Paraneoplastische Neuropathien

Zwei Drittel aller malignen Erkrankungen treten jenseits des 65. Lebensjahrs auf. Das PNS kann dabei in unterschiedlicher Form involviert sein. Eine lokale Tumorinfiltration kann Hirnnerven, einzelne oder mehrere Nervenwurzeln im Plexus brachialis oder lumbosacralis sowie periphere Nerven treffen. Antineoplastische Therapeutika können Nebenwirkungen entfalten, die periphere Nerven schädigen [36]. In seltenen Fällen geht eine Neuropathie als paraneoplastisches Syndrom der Entdeckung einer Tumorerkrankung voraus [3]. Häufigste Ursache ist das kleinzellige Bronchialkarzinom, gefolgt von Mamma- und Ovarialkarzinomen sowie Lymphomen. Die typische Präsentation ist die einer subakuten sensiblen Neuronopathie mit multifokalem und asymmetrischem Beginn. Früh sind die Arme betroffen, oft auch Gesicht und Rumpf. Häufig treten neuropathische Schmerzen auf, ebenso eine ausgeprägte sensible Ataxie der oberen und unteren Extremitäten. Bei mehr als 90 % der Patienten können im Serum antineuronale Antikörper nachgewiesen werden, am häufigsten Anti-Hu oder Anti-CV2/CRMP5. Immunmodulation und symptomatische Therapieformen ergänzen das Spektrum [3].

Hereditäre Transthyretinamyloidose

Trotz der Seltenheit muss die hereditäre Transthyretinamyloidose (hATTR-Amyloidose) erwähnt werden, da kausale Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die hATTR-Amyloidose ist eine sehr seltene Multisystemerkrankung, die autosomal-dominant, aber mit variabler Penetranz vererbt wird [13]. Neben einer früh beginnenden gibt es auch eine spät, zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr, einsetzende Form.
Neben einer kardialen Form mit Kardiomyopathie präsentiert sich die hATTR-Amyloidose häufig in Form einer Neuropathie, der familiären Amyloidneuropathie (TTR-FAP; [2]). Typisch ist eine ungewöhnlich rasch progrediente, meist axonale Neuropathie. „Red flags“ für die Diagnose sind deutliche Gangunsicherheit, Gewichtsverlust, autonome Beteiligung, Nierenbeteiligung und bei Älteren eine beidseitige Operation wegen eines Karpaltunnelsyndroms in der Anamnese [9]. Die TTR-FAP wird in 3 Stadien eingeteilt [1]:
  • Stadium 1: Gehen ohne fremde Hilfe
  • Stadium 2: Gehen mit fremder Hilfe
  • Stadium 3: Rollstuhlpflicht oder Bettlägerigkeit
Die Diagnose kann durch Biopsie des betroffenen Gewebes bestätigt werden, allerdings bestehen etliche Unsicherheiten hinsichtlich der Gewebeauswahl sowie histologischen und immunhistologischen Aufarbeitung [1]. Aus diesem Grund rückt die genetische Diagnostik zunehmend in den Vordergrund.
Da die Erkrankung rasch progredient verläuft, sind eine frühe Diagnose und Therapie entscheidend. Zur Therapie sind derzeit drei Substanzen zugelassen: Tafamidis, ein TTR-Stabilisator; Patisiran, eine in Lipidnanopartikel verpackte „small interfering RNA“, und Inotersen, ein Antisense-Oligonukleotid [1]. Tafamidis ist nur für die Behandlung im Stadium 1 zugelassen, Patisiran und Inotersen im Stadium 1 und 2.

Therapie

Die allgemeinen Prinzipien der Therapie von Neuropathien werden in einem anderen Beitrag dieses Schwerpunkts von Sachau et al. beschrieben. Neben der Behandlung der Grunderkrankung erweist sich im Alter die Behandlung des neuropathischen Schmerzes oft als komplex und herausfordernd, Studiendaten für alte Patienten stehen kaum zur Verfügung. Dabei sind alte Menschen deutlich vulnerabler als junge, da sie häufig von Multimorbidität, Mangelernährung, Sarkopenie und Gebrechlichkeit („frailty“) betroffen sind. Organinsuffizienzen und Multimedikation tragen zu einem höheren Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei [10]. Bis zum 80. Lebensjahr reduzieren sich beim Organgesunden die Funktionen von Niere und Leber um bis zu 40 % mit entsprechenden Folgen für Metabolisierung und Elimination vieler Arzneimittel. Zudem werden Kompensationsmechanismen zunehmend eingeschränkt, sodass Nebenwirkungen auf das Herz-Kreislauf-System und das zentrale Nervensystem, beispielsweise in Form von Schwindel und Mattigkeit, erhöhtem Sturzrisiko oder Benommenheit, häufiger werden.
Eine eingeschränkte Nierenfunktion spielt eine besondere Rolle in der Therapie mit Gabapentin und Pregabalin, wo eine entsprechende Erniedrigung der maximalen Tagesdosis zu beachten ist. Die Anwendung von Carbamazepin und Oxcarbazepin ist durch das Risiko von Hyponatriämie und Arzneimittelinteraktionen limitiert [29].
Trizyklische Antidepressiva sind im Alter aufgrund ihres anticholinergen Nebenwirkungsprofils nur mit äußerster Zurückhaltung und in niedrigen Dosierungen einzusetzen. Anticholinerge Nebeneffekte können negative Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten haben, Delirien auslösen, aber auch durch Mundtrockenheit zu einer verminderten Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme beitragen.
Trizyklische Antidepressiva werden im Alter nur mit äußerster Zurückhaltung eingesetzt
Bei der Therapie mit Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (Duloxetin, Venlafaxin) und selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (Citalopram, Paroxetin) ist das besonders bei Frauen erhöhte Risiko einer Hyponatriämie zu erwähnen, bei Multimedikation ist auch die QT-Zeit zu kontrollieren. Überdies ist die Gabe von Antidepressiva im Alter mit einem erhöhten Sturzrisiko verbunden [35].
Bei Opiattherapie ist ein erhöhtes Nebenwirkungsrisiko seitens des zentralen Nervensystems gegeben, Verschlechterungen der kognitiven Funktionen bis hin zum Delir sind möglich. Daneben ist die Prophylaxe einer Obstipation zu gewährleisten. Die topische Anwendung von Capsaicin ist häufig durch die Fragilität der Haut limitiert.
Die Anwendung physikalischer Methoden ergänzt das therapeutische Spektrum. Besondere Bedeutung kommt dem Training von Gleichgewicht und Kraft im Sinne einer Sturzprophylaxe zu.
Generell ist festzuhalten, dass es zur Therapie der PNP im höheren Lebensalter wenig Literatur gibt, es ist aber davon auszugehen, dass die aktuellen Leitlinienempfehlungen mit den erwähnten Einschränkungen auch für die Therapie alter Menschen herangezogen werden können.

Fazit für die Praxis

  • Die Polyneuropathie (PNP) ist vorwiegend eine Erkrankung des alten Menschen.
  • In der Diagnostik müssen die altersspezifischen Veränderungen des peripheren Nervensystems, die den klinischen Befunden bei Neuropathien ähneln können, berücksichtigt werden.
  • Die Abklärung der möglichen Ursachen sollte sich am Phänotyp der Neuropathie orientieren, wobei die Kenntnis der seltenen, aber behandelbaren Phänotypen eine entscheidende Rolle spielt. Am häufigsten ist allerdings die mild verlaufende chronische idiopathische axonale PNP ohne fassbare Ätiologie.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

W.N. Löscher und B. Iglseder geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Polyneuropathie im Alter
verfasst von
W. N. Löscher
B. Iglseder
Publikationsdatum
06.02.2020
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Innere Medizin / Ausgabe 3/2020
Print ISSN: 2731-7080
Elektronische ISSN: 2731-7099
DOI
https://doi.org/10.1007/s00108-020-00748-6

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