Die spezialisierte Arztpraxis für queere Menschen

Barfuß in der Praxis und mit allen per Du: Dr. Martin Viehweger und Dr. Elena Rodríguez machen vieles anders – auch bei den Themen Geschlecht und Sexualität. Ein Einblick in eine ganz besondere Arztpraxis im Berliner Schillerkiez. Barfuß sitzt Hausarzt Dr. Martin Viehweger auf dem Stuhl in seiner Infektiologischen Schwerpunktpraxis ViRo im Schillerkiez in Berlin-Neukölln. Nicht nur, dass der Hausarzt im Sommer auch mal ohne Schuhe und grundsätzlich ohne Kittel arbeitet, auch sonst ist die Praxisgemeinschaft keine gewöhnliche Hausarztpraxis. Seit 2020 behandelt er gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Elena Rodriguez vor allem queere Patienten, also Patienten, die sich nicht zur heteronormativen Gesellschaft zählen. Es gebe in Berlin einen enormen Bedarf dieser Patientengruppe an einer ärztlichen Behandlung und Betreuung, wie Viehweger berichtet. „Es handelt sich bei meinen Patientis meist um marginalisierte Gruppen aus allen sozialen Bereichen, die einen erschwerten Zugang zum medizinischen System haben“, sagt Viehweger im Gespräch mit der Ärzte Zeitung. In der Praxis werden alle Patienten geduzt Der Hausarzt begleitet unter anderem Transgender-Personen während der Hormontherapie. Viele würden oft erst einmal illegale Hormonpräparate im Internet bestellen, ohne ärztliche Beratung und suchten dann aber doch nach Ärzten, um sich dabei medizinisch begleiten zu lassen, Fragen zu stellen und auch legale Medikamente zu bekommen, sodass die Kosten dann auch von den Kassen übernommen werden, so Viehweger. Zudem sei der bürokratische Aufwand bei einer Transition, dem Prozess der Anpassung der eigenen Geschlechtsidentität, oft sehr hoch und beratungsintensiv, wie auch die prä- und postoperative Versorgung. Gerade bei dieser Patientengruppe fange es schon mit der Ansprache an. „Nenne ich sie beim Namen, der auf der Krankenkassenkarte steht, oder verwende ich ihren ausgesuchten Namen, auch Chosen-Name genannt. Aus diesem Grund rufe ich Patientis, die zum ersten Mal in der Praxis sind, einfach nur mit ihrem Nachnamen auf ohne Herr, oder Frau. Kenne ich die Patientis, spreche ich sie beim Vornamen an“, sagt Viehweger. Denn in seiner Praxis werden, bis auf wenige Ausnahmen, alle Patienten geduzt. Dr. Martin Viehweger Gastdozent der Charité und Medizinische Hochschule Brandenburg Projekt: Aufbau Sprechstunde für TransMenschen in Berlin und Zürich Facharzt für Allgemeinmedizin und Infektiologie Master in Kulturwissenschaften Flache Hierarchien und Verantwortlichkeit Auf der Praxishomepage werden sie mit Patientis angesprochen. „Das gehört zu unserer Praxisphilosophie. Ich möchte Hierarchien flach halten, mir geht es um Verantwortlichkeiten.“ Zudem gehörten natürlich eine wertschätzende Kommunikation und viel Empathie und Verständnis beim Umgang mit marginalisierten Gruppen dazu. Zum Beispiel bietet er seinen Patienten an, wenn er sie an Fachärzte überweist, ob er die richtige Ansprache vermerken soll. Es gehe darum, sensibel zu sein, so der Hausarzt. Da Kommunikation grundsätzlich im Gesundheitssystem kaum bezahlt werde, werde man natürlich nicht unbedingt reich damit. „Für Menschen in Transition oder Themen bezüglich sexueller Gesundheit gibt es keine Abrechnungsmodalitäten. Genau da muss nachgebessert werden und weitere Gesprächsziffern müssen implementiert werden“, sagt Viehweger. Dr. Elena Rodríguez Master of Science Public Health und Master für Tropenmedizin und internationale Gesundheit. Fachärztin für Innere Medizin / Zusatzbezeichnung Infektiologie Neben der Transmedizin, behandelt und klärt Viehweger bei sexuell übertragbaren Krankheiten auf, macht sogenannte STD-Checks, also Tests auf sexuell übertragbare Infektionen, und klärt über Substanzenmissbrauch auf. Außerdem gehört zum ärztlichen Spektrum der Praxis die Infektiologie, wie die HIV-Therapie, die Präexpositionsprophylaxe und Hepatitis, Impfberatung, Reisemedizin und die komplette allgemeine hausärztliche Versorgung. Wissen zu großem Teil selbst angeeignet Werbung muss Viehweger für seine Praxis keine machen, es spreche sich schnell in der Community herum, zu welchem Arzt man gehen könne. Einen großen Teil seines Wissens hat der Hausarzt sich selbst angeeignet: Transmedizin gebe es so in Deutschland auch noch nicht, sondern sie entstehe gerade erst. „Es freut mich daher, dass wir Lehrpraxis der Charité sind.“ Er hat Workshops zu Substanzenmissbrauch besucht und sich zu Transmedizin in den USA weitergebildet. „Man muss zudem auch schon Bock haben, aktivistisch zu sein“, sagt Viehweger, der sich selbst als Aktivist für sexuelle Gesundheit bezeichnet. Er bietet zum Beispiel alle zwei Monate die Veranstaltung „Let’s talk about Sex and Drugs“ an, ein offenes Forum zur Diskussion über Sex und Party „in einem intimen Umfeld in verschiedenen, szenenahen Plätzen des Berliner Nachtlebens“. Auch sonst wird Viehweger zu verschiedenen Veranstaltungen als Experte eingeladen, denn viele Schwerpunktpraxen wie die von ihm und seiner Praxispartnerin gibt es bisher nicht. Plattform: „Praxis Vielfalt“ Ärztinnen und Ärzte, die ihre Kommunikation in der Praxis anpassen möchten, um auch queeren Patienten ein niedrigschwelliges Angebot zu machen, und eine diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung sicherstellen wollen, bietet die Aidshilfe eine Weiterbildungsplattform an. Diese heißt „Praxis Vielfalt“ und dort gibt es Schulungen. Am Ende bekommen Praxen ein Gütesiegel und Zertifikat. Bevor man sich bei der Weiterbildungsplattform „Praxis Vielfalt“ der Aidshilfe anmelden kann, sollte eine Reflexion im Team und eine Selbsteinschätzung des Praxisteams stattfinden, danach kann man sich zum Zertifizierungsverfahren anmelden. In Workshops und einem Online-Trainingsprogramm geht es um HIV & Aids, Genderidentitäten, Sexualität und Drogen und TransgenderBegrifflichkeiten. Ärzte und Praxismitarbeiter werden dafür sensibilisiert, die eigene Praxis mit den Augen eines Patienten zu betrachten: Fühlt sich dieser in der Praxis willkommen und angenommen oder ist die Sprache genderoffen? Es geht in der Weiterbildung aber auch darum, wie die Praxis sich gegenüber Patienten mit Migrationshintergrund verhält, und wie zum Beispiel der Umgang mit Dolmetschern und mit Kommunikation generell läuft. Denn nicht nur Transgender-Personen, sondern viele marginalisierte Gruppen haben schlechte Erfahrungen im Gesundheitswesen gemacht. Glossar cis: Cis-Personen identifizieren sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. divers: Inter*- und nicht-binäre Personen können seit 1. Januar 2019 diesen Geschlechtseintrag für sich in Anspruch nehmen. FLINTA*: Akronym, das (Cis-) Frauen, lesbische, nicht- binäre, trans* und agender Personen zusammenfasst. Wird synonym für Menschen mit Uterus verwendet, um Frau/Frauen zu vermeiden. Geschlechtsangleichung: Darunter werden alle medizinischen Maßnahmen verstanden, die eine trans* Person durchführen lassen kann: Hormonersatztherapie, Operationen. Es wird auch von geschlechtszuweisenden Maßnahmen gesprochen. (Geschlechts-)Inkongruenz: Geschlechtsinkongruenz bezeichnet die Indikation/Diagnose für trans* Personen gemäß ICD-11. inter/intergeschlechtlich: Bei einer inter Person kann das körperliche Geschlecht (z. B. Genitalien oder Chromosomen) medizinisch nicht eindeutig zugeordnet werden. LSBTQIA*/LGBTQIA*: Akronym, das für lesbische, schwule (Gay), bi-sexuelle, trans*, queere, inter und asexuelle Personen steht. Der Begriff versucht, alle queeren Gruppierungen/Personen zusammenzufassen. nicht-binär/non-binary: Überbegriff für Menschen, die weder ausschließlich weiblich noch ausschließlich männlich sind; gilt auch für agender Personen. queer: Eine queere Person definiert sich aufgrund ihrer nicht cis-heteronormativen sexuellen Orientierung und/oder Genderidentität. trans*: Personen, deren empfundenes Geschlecht nicht mit dem zugewiesenen übereinstimmt; steht für transidentitär, weniger für transgender und nicht für transsexuell. Transformation: sollte nicht verwendet werden; trans* Personen bevorzugen den Begriff Transition. Transition: bezeichnet den Prozess der Geschlechtsangleichung – sowohl medizinisch als auch juristisch. Transsexualität: ist die nach ICD-10 gültige Indikation/Diagnose für trans* Personen. Diese Pathologisierung wird von der Community und auch auf Transgender spezialisierte Mediziner abgelehnt. Auch weil die Geschlechtsidentität nicht mit der sexuellen Orientierung gleichgesetzt werden kann. zugewiesenes Geschlecht: Damit ist das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht gemeint. In Deutschland sind mittlerweile vier Geschlechtseinträge gültig: männlich, weiblich, divers und offener Personenstand. Quelle: Ärzte Zeitung

Springer Medizin

Die spezialisierte Arztpraxis für queere Menschen

Weiterführende Themen

Leitlinien kompakt für die Allgemeinmedizin

Facharzt-Training Allgemeinmedizin

Neu im Fachgebiet Allgemeinmedizin

Niedriger diastolischer Blutdruck erhöht Risiko für schwere kardiovaskuläre Komplikationen

Therapiestart mit Blutdrucksenkern erhöht Frakturrisiko

Metformin rückt in den Hintergrund

Myokarditis nach Infekt – Richtig schwierig wird es bei Profisportlern

Update Allgemeinmedizin