Brandbrief aus mehreren KVen: Bei der eAU droht ein „Desaster“

Am 1. Oktober 2021 wird die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für Vertragsärzte verpflichtend. Doch noch immer fehlen in vielen Praxen die Voraussetzungen. IT-Verantwortliche aus mehreren KVen warnen vor Chaos. Noch 74 Tage, dann fällt der eAU-Hammer für 75.000 Praxen in Deutschland. Zum Quartalswechsel am 1. Oktober wird die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) für Vertragsärzte zu einer Pflichtanwendung, doch die Mehrheit der Praxen ist noch gar nicht vorbereitet. In einem Brandbrief an die Kassenärztliche Bundesvereinigung haben die IT-Verantwortlichen mehrerer Kassenärztlicher Vereinigungen vor einem „drohenden Desaster“ beim Start der eAU Anfang Oktober gewarnt. Der Brief, der aus dem Strategischen Geschäftsbereich Digitalisierung der KV Bayerns stammt, liegt der „Ärzte Zeitung“ vor. Dahinter stehe die ITA-Runde (Informationstechnik in der Arztpraxis), zu der sich die entsprechenden Abteilungen der KVen Baden-Württemberg, Bayerns, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Westfalen-Lippe zählen, heißt es in dem Brief. eAU startet bislang ohne Übergangsfrist Bei allen bisherigen medizinischen Anwendungen in der TI gebe es entweder eine Freiwilligkeitskomponente auf Seiten der Praxis (eArztbrief) oder bei den Patienten (Notfalldatenmanagement NFDM, elektronischer Medikationsplan eMP und E-Patientenakte ePA). Dies habe bisher zu sehr niedrigen Nutzerzahlen bei den Versicherten im Promillebereich geführt. „Damit hatten die Praxen bisher die notwendige Beinfreiheit, sich erst dann auf eine Anwendung einzulassen, wenn eine erprobte und technisch robuste Lösung von ihrem PVS angeboten wird“, beschreibt der Brief den bisherigen Status-quo. Bei der eAU sei es erstmals anders: „Sie muss für 100 Prozent der GKV-Versicherten ohne Übergang von 75.000 Arztpraxen auf den Punkt angewandt werden“, heißt es. Das sei in seiner Wirkung für TI-Anwendungen „atemberaubend neu – insbesondere wenn man bedenkt, dass in Deutschland rund 75 Millionen AU im Jahr ausgestellt werden“. Es fehlt an allen Ecken und Enden Derweil fehlt es in Praxen noch an allen Ecken und Enden: Die KBV nennt als technische Voraussetzungen für die Teilnahme am eAU-Verfahren einen Anschluss an die Telematikinfrastruktur (TI), idealerweise mit einem Konnektor der die Komfortsignatur unterstützt (sogenanntes PTV4+-Update), den Anschluss an einen KIM-Dienst (Kommunikation im Gesundheitswesen), einen elektronischen Arztausweis (eHBA), mindestens der Generation 2.0, ein Update der Praxis-EDV für die eAU. 5000 Praxen nicht in der TI In allen vier Punkten sehen die Autoren des Schreibens Defizite: TI-Anschluss: Noch immer liege die Quote der TI-Verweigerer je nach KV zwischen fünf und 20 Prozent der Teilnehmer an der vertragsärztlichen Versorgung. Darunter seien allerdings überproportional viele Psychotherapeuten, die keine AU ausstellten. Unterm Strich seien aber immer noch rund 5000 Praxen, die AU für ihre Patienten ausstellen, nicht in der TI. „Ist es angemessen, mit dieser für die Versorgung in Pandemiezeiten nicht unerheblich großen Zahl von Praxen ohne Übergangsfrist weiterhin als einzige Kommunikationsstrategie damit zu drohen, dass sie sich zum Stichtag im rechtsfreien Raum bewegen und in letzter Konsequenz mit einem Zulassungsentzug rechnen müssen“, fragen die Autoren. KIM-Dienst: Noch lange nicht alle Praxen haben bereits einen KIM-Dienst installiert. Erst 5300 Vertragsarztpraxen hätten zum 6. Juli über eine KIM-Adresse verfügt. Mittlerweile dürften es etwa 6000 sein. Insgesamt sind im KIM-Verzeichnis fast 11.000 Adressen verzeichnet, allerdings steht nicht hinter jeder Adresse eine Praxis, vielmehr gibt es Praxen mit mehreren KIM-Adressen, außerdem institutionelle Teilnehmer an den Diensten wie Krankenkassen und KVen. Die Aufgabe dürfte herausfordernd sein, in den verbleibenden zwei Monaten alle noch fehlenden Praxen anzuschließen, zumal von Ärzten immer wieder zu hören ist, dass die Installation alles andere als trivial ist. E-Arztausweis (eHBA): Auch beim eHBA liegt die Ausstattungsquote noch weit von 100 Prozent entfernt. Stand 6. Juli verfügten laut Reporting der Bundesärztekammer 86.164 Ärzte über einen eHBA, knapp 15.000 mehr als einen Monat zuvor. Der Ausstattungsgrad in den Landesärztekammern liegt damit im ambulanten Bereich zwischen 59 Prozent (Saarland) und knapp 31 Prozent in Baden-Württemberg. Insgesamt haben 41 Prozent der ambulant tätigen Ärzte einen E-Heilberufsausweis. Update der Praxis-EDV: Laut Schreiben haben laut Zertifizierungsliste der KBV erst 20 von 100 bis 120 Praxisverwaltungssystemen das erforderliche Update für die eAU. Geplanter Feldtest: Nach der ursprünglichen Planung sollte der eAU-Feldtest nach dem Brief an die KBV zum 31. August dieses Jahres beendet sein. Aktuell hänge die Realität weit hinterher: Erst am 20. August sollen erste Praxen mit dem Feldtest starten, und die Anbindung der Krankenkassen werde sogar erst Ende August, teilweise sogar noch später erwartet. Pünktlicher Starttermin? „Eine Fata Morgana“ Dieser spät beginnende Feldtest werde dazu führen, dass „viele tausend Praxen von einem Tag auf den nächsten in digitales und prozessuales Neuland gestürzt werden, und das ausgerechnet zum Quartalsbeginn“, warnen die Urheber des Schreibens. Deren Folgerung: „Wir können nicht einfach weiter die Augen vor dem drohenden Desaster verschließen: Höchstens die Hälfte der betroffenen Praxen wird bis 1. Oktober 2021 eAU-fähig sein“, wahrscheinlich deutlich weniger. Nach dem Terminservice- und Versorgungsgesetz sollte die eAU zum 1. Januar 2021 verpflichtend werden. Die KBV hatte immerhin eine erste Verschiebung der eAU vom 1. Januar auf den 1. Oktober 2021 beim Bundesgesundheitsministerium erreicht, weil die Technik Anfang des Jahres noch nicht so weit war. Eine weitere Verschiebung bei den Krankenkassen zu erreichen könnte daher schwierig werden. Da nun Muster 1 zum 1. Oktober ungültig werde und dann nur noch die eAU angewendet werden dürfe, „könnten zum Start des 4. Quartals bis zu 50.000 Praxen überhaupt nicht mehr in der Lage sein, AU auszustellen“. Denn die ersten Kassen stoppten bereits die Produktion von Muster 1, „weil alle Vogel-Strauß-artig einfach weiter so tun, als würde es mit dem definierten Starttermin klappen, das ist aber eine Fata Morgana“, heißt es. Der Geschäftsführer eines Praxis-EDV-Unternehmens, das bereits für seine Software die eAU-Zertifizierung bekommen hat, klagt im Gespräch, seit März sei man bei der Umsetzung „nicht viel weiter“. Immer noch stünden Änderungen bei den neuen Formularmustern aus, die dann auch noch getestet werden müssten, bevor der Startschuss für die Pflichtanwendung fällt. „Ansonsten gibt es Chaos draußen in den Praxen“ Die Forderung aus den acht KVen: Die Praxen müssten vor der Abschaffung des alten Formulars genügend Gelegenheit haben, die neue Technik zu testen. Deshalb sei „eine offizielle Erlaubnis für den Parallelbetrieb für mindestens das 4. Quartal 2021“ dringend erforderlich. Die IT-Verantwortlichen der acht KVen sehen für den Fall, dass diese Forderung nicht erfüllt wird, schwarz: „Ansonsten gibt es ein Chaos draußen in den Praxen.“ Quelle: Ärzte Zeitung

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