Psychiatr Prax 2010; 37(5): 254-255
DOI: 10.1055/s-0030-1262361
Leserbriefe

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Hoffmann-Richter U. Lesarten. Psychiat Prax 2010; 37: 103–107

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Publication Date:
05 July 2010 (online)

 

Frau Hoffmann-Richter hat ein sehr bedenkenswertes Editorial in dieser Nummer der Psychiatrischen Praxis geschrieben, wo sie sich allgemein, aber auch sehr speziell aus der psychiatrischen Sicht mit der Veränderung der Lesegewohnheiten vor dem Hintergrund der Entwicklung der Medien beschäftigt hat. Viele Aspekte scheinen hier sehr treffend aufgegriffen und beschrieben. Sie bat um Beiträge, um diesen Diskurs in weiteren Heften fortzuführen oder Aspekte exemplarisch zu erläutern.

Für jemanden wie mich, der in der Mitte der 70er-Jahre seine Facharztausbildung begonnen hat, also in einer Zeit ohne Internet, Google und Mobiltelefon, war das Lesen für den angehenden Psychiater der Zugangsweg zu einer eigenen Auffassung zu psychiatrischen Sachverhalten, Positionen, Entwicklungen. Neben der Untersuchung der Patienten, der Anleitung von Chef- und Oberärzten, der Diskussion mit Kollegen von verschiedenen Berufsgruppen war unabdingbar zur Systematisierung der Erfahrungen, wie zur Korrektur von Meinungen und Auffassungen die Lektüre in der Bibliothek oder zu Hause. Wir lasen Altes und Neues, Philosophisches, Biologisches und Naturwissenschaftliches, linke und rechte Autoren und in diesem Leseprozess bildete sich, was ich als meine "psychiatrische Identität" aufgefasst habe. Dabei waren insbesondere überraschende Funde in der Bibliothek sehr wichtig. Ich erinnere mich, dass ich in meinem ersten Ausbildungsjahr recht zufällig an das Schizophrenie-Buch von Binswanger geriet und mir erst da klar wurde, dass ich nun dabei bleiben würde, Psychiater zu werden. Dies stellt sich offensichtlich für die jüngeren Kolleginnen und Kollegen angesichts von Internet, Metaanalysen, Datenbanken, E-Mail-Kontakt, Algorhythmen und Leitlinien anders dar. Die Chancen wie die Fallstricke dieser neuen Entwicklung sind in dem Editorial ja fassettenreich beschrieben.

Dass wir in den 70er-/80er-Jahren viel gelesen haben, lag auch daran, dass das Geschriebene in den Zeitschriften, Fachbüchern und Artikeln anregte, aufregte, begeisterte, faszinierte, zur Zustimmung oder zur Gegenposition herausrief.

Warum geschieht das heute viel weniger? Ich mache dies für mich an 4 Entwick.lungen fest, die ich hier kurz darstellen will:

Die auffällige "Geschichtsvergessenheit" der meisten heutigen Autoren. Psychiatrie war ja immer eine Wissenschaft, die stark von der Historie bestimmt war, der politischen Geschichte, wie der Historie des Fachs. Die oben beschriebene Identität eines Psychiaters bestimmte sich ja entscheidend dadurch, in welchen Strom der Psychiatriegeschichte er sich persönlich einfügte, ob nun mehr einer deskriptiven oder eine phänomenologischen oder einer sozialpsychiatrischen Richtung der Psychiatrie. Jeder kannte und zitierte aus diesem Strom von wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis und aus dem Geschriebenen wurde dem Leser deutlich, wo sich einer im psychiatrischen Diskurs "einordnete". Das war spannend, intellektuell anregend – und das fehlt heute weitgehend. Die bildgebenden Verfahren und ihr Stellenwert in der fachlichen psychiatrischen Diskussion. Dass die bildgebenden Verfahren grundlegend neue Erkenntnisse geliefert haben, insbesondere für die strukturellen Hirnerkrankungen, ist unbezweifelbar und ihre Bedeutung soll in keiner Weise relativiert werden. Für unseren psychiatrischen Bereich sind aber zum einen die Erkenntnisse doch noch recht bescheiden, die als "Einblicke ins Gehirn" beschrieben werden, jedenfalls haben sie zu dem Kern psychiatrischen Fragens nicht viel beigetragen (z.B. zum Erleben einzelner melancholischer oder schizophren kranker Menschen). Ungünstig ist m.E. die Tatsache, dass je höher Bildgebungen eingeschätzt werden, umso weniger wird dem Befragen, dem Gespräch, dem gemeinsamen Schwingen um eine kommunikative Achse noch Bedeutung gegeben. Dies führt oft auch zu einer Reduktion sprachlicher Vielfalt. Gerade die hat ja uns nicht nur im Wissen und Denken gefördert, sondern auch das Lesevergnügen verursacht. Die "neopositivistische" Wende. Darunter verstehe ich die Tatsache, dass in der Psychiatrie seit den 90er-Jahren zugunsten von isolierenden naturwissenschaftlichen Details dem phänomenologischen Denken und dem Erleben kranker Menschen immer weniger Bedeutung geschenkt wird, aus Furcht keine "objektiven" Ergebnisse zu liefern. Der Verzicht auf diese wissenschaftliche Tradition der Psychiatrie (über Jaspers zu Gebsattel und Kisker und vielen anderen) führt m.E. zu einer intellektuellen Verarmung, die durch die neuen positiven Informationen nicht aufgewogen wird. Die Erfahrungen, die z.B. in den Anfangszeilen des Rilkegedichts "Die Insel II" dargestellt ist: "Nah ist nur Inneres, alles andere fern und dieses Innere gedrängt und kläglich", halte ich für eine evidentere Wahrnehmung depressiven Daseins als Daten aus sog. "Neurobiologischen Befunden"; einschließlich der bunten Leuchtebilder des Gehirns. Der Verlust des Persönlichen in psychiatrischen Veröffentlichungen. In Artikeln der 60er-, 70er- und 80er-Jahre wird beim jeweiligen Autor meist gut deutlich, wo er sich verortet, aus welcher Tradition er denkt und arbeitet. Das spannende dieser Artikel war ja gerade, zu lesen, wenn Autoren wie Häfner, Kuhlenkampf, Kisker und Dörner Position bezogen und gegeneinander auch mit feinem Florett fochten, auch beim Nachlesen nach 30 Jahren. Ich fürchte, dass wird bei den vielen Artikeln, die jetzt geschrieben werden, kaum je der Fall sein. Der Autor tritt gar nicht mehr als Person zutage, wagt sich kaum aus der Deckung und nimmt meistens am Schluss seiner Ausführungen jede noch so vorsichtige Zuspitzung zurück. Das führt zu Langeweile. Daten muss man auch zur Kenntnis nehmen, aber interessieren tun mich als Psychiater eben die Menschen.

Dass die aufgestellten Thesen nur schlaglichtartig und recht ungeschützt formuliert sind, ist mir bewusst. Vielleicht eröffnen sie aber eine weitere Diskussion!

Dr. Frieder Böhme, Tuttlingen

Email: Boehme.tut@t-online.de

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