Zeitschrift für Phytotherapie 2014; 35(02): 51
DOI: 10.1055/s-0034-1381196
Editorial
© Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Phytotherapie, Ethnomedizin und traditionelle Medizinsysteme

Bernhard Uehleke

Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
15 May 2014 (online)

Ein wichtiges Argument für die große Beliebtheit von Heilpflanzen und traditionellen Medizinsystemen ist deren Entwicklung und Verfeinerung über Jahrhunderte und Jahrtausende in einer Art Erfahrungs-getriggerter Evolution. Dieser Prozess über Generationen von Heilern wird mitunter aussagekräftiger für die Sicherheit und Wirksamkeit einer Anwendung angesehen als ein paar noch so moderne klinische Studien. Dies erklärt auch das Interesse an interdisziplinären Fachgebieten wie Ethnobotanik, Ethnopharmakologie und Ethnomedizin, wobei stets auch historische Entwicklungen das Mosaik der Forschungsfragen erweitern.

Eine traditionelle Anwendung von Heilpflanzen (oder anderen Heilverfahren) findet aber immer in einem Kontext-gebundenen medizinischen System statt. Solche traditionellen Medizinsysteme wie die TCM, Ayurveda, Unani, Kampo und nicht zuletzt mehrere Medizinsysteme in Europa sind freilich modernen Interpretationen und einseitigen Änderungen ausgesetzt. Insofern kann sich die in europäischen Ländern klassifizierte und regulierte Einordnung eines pflanzlichen Arzneimittels als „traditionell angewendet“ auf ein meist nicht explizit genanntes dieser unterschiedlichen Medizinsysteme beziehen, z.B. die antike Humoralpathologie, Klosterheilkunde, Irritabilitätslehre, Brownianismus, organbezogene Pharmakologie, molekulare Pharmakologie sowie eventuell die anthroposophische Medizin. Es ist kaum anzunehmen, dass die Volksheilkunde ihre Erfahrungen rein pragmatisch und Outcome-orientiert ohne Einfluss durch die Theoriegebäude von solchen Medizinsystemen gewonnen hat, aber es ist wahrscheinlich, dass dort manche sich eigentlich widersprechenden Systeme einfach „gemischt“ wurden, was in der gelehrten Medizin verpönt gewesen wäre. Daher glaube ich, dass bezüglich der traditionellen Anwendung von Heilpflanzen in Europa mehr Fragen offen als beantwortet sind.

Neuerdings wird der gesamte Bereich der Komplementärmedizin von der WHO unter dem Begriff „T&CM“ (Traditionelle und Komplementärmedizin) der modernen westlichen Medizin gegenübergestellt. Eine „Traditionelle Europäischen Medizin“ (insbesondere Heilpraktiker bevorzugen verständlicherweise „Traditionelle Europäische Naturheilkunde“) wird aber von der WHO bisher überhaupt nicht in der Reihe der anderen traditionellen Medizinsysteme genannt, sondern einfach übergangen. Damit münden nach Klassifikation der WHO diejenigen Verfahren der Traditionellen Europäischen Medizin, die nicht in die moderne westliche Medizin einfließen, in die Complementary Medicine (CM, bis dato meist CAM – Complementary and Alternative Medicine). Insofern bleibt die Sonderrolle der europäischen Phytotherapie erhalten – dass sie nämlich einerseits zur modernen westlichen (Schul-)Medizin gerechnet werden kann, anderseits zur Komplementärmedizin. Auf die weiteren dementsprechenden nationalen, europäischen und weltweiten Entwicklungen der politischen Situation der Phytotherapie darf man daher gespannt sein. Einige Aspekte dazu bieten die Beiträge in diesem Themenheft. Gerne eröffnen wir auch dazu ein Diskussionsforum mit den Ansichten und Kommentaren der Leser.