Zentralbl Chir 2006; 131: 177-179
DOI: 10.1055/s-2006-921451
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Anspruch des Patienten auf moderne Wundbehandlung

Patient Rights on Modern Wound TreatmentB. Roth1
  • 1Kanzlei Kiechle + Partner, Hindenburgstr. 1, Buchloe
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Publication Date:
30 March 2006 (online)

Gerade im Zusammenhang mit der Vakuumtherapie im ambulanten Bereich ist die Frage nach den rechtlich abgesicherten Ansprüchen der Patienten hoch brisant.

Im ambulanten Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) begrenzt § 2 SGB V das Leistungsspektrum der Krankenkassen. Hierin ist festgehalten, dass die Krankenkassen ihren Versicherten Sach- und Dienstleistungen schulden, die unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit stehen.

Dieses Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V) prägt das Arzt-Patienten-Verhältnis und macht es für alle Beteiligten zum Teil undurchsichtig und schwierig:

Was darf der Patient von seinem Arzt an medizinischer Versorgung und Behandlung erwarten? Was muss die Krankenkasse dem Patienten finanzieren? Was muss sie dem Arzt an Leistungen bezahlen? Was passiert mit der Therapiefreiheit, die grundsätzlich das ärztliche Handeln prägt?

Der Behandlungsvertrag zwischen Patient und Arzt ist im Bereich der GKV nur unter Beteiligung der Krankenversicherung denkbar. Der Arzt wird tätig als Leistungserbringer der Krankenkasse (§ 70 SGB V). Er schuldet dem Patienten eine (Wund)-behandlung nach dem allgemeinen Stand der medizinischen Kenntnisse.

In der Leistungsbeziehung zwischen Patient und Arzt wird in der Diskussion dieses „Standes der medizinischen Kenntnisse” vielfach auf die Leitlinien der Fachgesellschaften Bezug genommen. Wichtig ist dabei jedoch der Aspekt, dass diese Leitlinien in der rechtlichen Beurteilung nicht wie antizipierte Sachverständigengutachten behandelt werden dürfen und in der Behandlung nicht als Schemata herangezogen werden dürfen (sog. „Kochbuchmedizin”). Vielmehr ist die Therapiefreiheit prägend für die vertraglich geschuldete Behandlung, die dem Arzt eine individuelle Beurteilung abverlangt unter dem Gesichtspunkt der besonderen Notwendigkeiten der Behandlung des individuellen Patienten. Das bedeutet, dass ein Abweichen von Leitlinien im konkreten Einzelfall notwendige Bedingung einer adäquaten Behandlung sein kann.

Für den behandelnden Arzt bedeutet dies neben der Kenntnis der Leitlinien und deren Beurteilung auch die Pflicht solche Therapieoptionen in seine Behandlung mit einzubeziehen, die außerhalb dieser Leitlinien denkbar sind und die dem Patienten eventuelle oder bessere Heilungschancen bieten.

Das Dilemma, das sich aus diesem Anspruch des Patienten an den behandelnden Arzt ergeben kann, ist bekannt: die optimale Behandlung ist nicht zwingend die Behandlung, die von den Krankenkassen unter Berücksichtigung des § 2 SGB V erstattet werden muss.

Leitlinien und Erstattungsgrenzen, die so von Ärzten häufig als Korsett ihrer Behandlungsmöglichkeiten empfunden werden, dürfen unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten in der Leistungsbeziehung zu ihren Patienten nicht als Grenze seines Tätigwerdens gelten.

Sowohl der Patient, der z. B. für seine Therapie noch nicht zugelassene Medikamente von der Krankenkasse nicht erstattet bekommt, als auch der Arzt, der seine Behandlung nicht vergütet bekommt, stehen vor manchmal nicht befriedigend zu lösenden Problemen.

Die Gesetzesbegründung[1] für die notwendige Einschränkung ist deutlich: es kann nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sein, medizinische Forschung zu finanzieren. Die Konsequenz hieraus ist, dass nur „Bewährtes” in der Medizin vergütet wird. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden müssen zunächst den Weg über den Gemeinsamen Bundesausschuss passieren.

Muss sich die Frage des Themas „Der Anspruch des Patienten auf moderne Wundbehandlung” mit der Antwort zufrieden geben: Der Anspruch besteht, soweit modern nicht das ist, was neu ist?

„Neu” ist, so die Rechtsprechung, was (bisher) nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im EBM-Ä enthalten ist[2]. Dies entspricht der Definition des Gemeinsamen Bundesausschusses in § 2 Abs. 1 BUB-Richtlinie[3].

Entsprechend sorgfältig ist der neue EBM 200plus gefasst. Die Liste der Behandlungen, die nicht gesondert vergütet werden, ist unter diesem Aspekt ebenso wichtig, wie die vergütungsfähigen Leistungen selbst. Als nicht gesondert vergütet sind zur Zeit 134 ärztliche Leistungen aufgeführt. Darunter befindet sich auch der Abschnitt „Verbände”, der zusätzlich 22 gesonderte Varianten aufführt.

Die „Wundbehandlung” ist neutral bezeichnet. Der EBM 2000plus setzt „Wundbehandlung” oder die Behandlung von Dekubitalulzera gleich mit: „Nekrose abtragen - Wunddebridement - Tamponade - Kompression”. Verbände werden (s. o.) nicht gesondert vergütet, sind jedoch vorgesehen.

Was immer der behandelnde Arzt als adäquat betrachtet, seine Behandlung wird im Facharztbereich pro Quartal maximal mit 740 Punkten (idealiter á 5 Cent) vergütet. Operative Maßnahmen schließen die gesonderte Abrechnung der Wundbehandlung weitestgehend aus.

Die chirurgische Wundtoilette als operative Maßnahme (OPS 5-893.00), wie auch das „schichtenübergreifende Debridement” (OPS 5-869.1) sind keine Leistung, die als vergütungsfähig aufgeführt wird.

Der Umkehrschluss, diese Behandlung sei „neu” stimmt dennoch nicht.

Neben der Tatsache, dass die chirurgische Wundtoilette wohl seit Jahrhunderten als Wundbehandlung etabliert ist, bedeutet das Fehlen einer Vergütung nicht, dass diese Leistung nicht abrechnungsfähig ist. Genau dies belegt die lange Liste der „nicht gesondert vergütungsfähigen Leistungen”.

Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden bedürfen der wissenschaftlichen Überprüfung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss, die wie auch Arznei- und Hilfsmittel auf ihren therapeutischen Nutzen und ihre medizinische Notwendigkeit oder ihre Wirtschaftlichkeit zur Überprüfung gestellt werden[4].

§ 91 SGB V Gemeinsamer Bundesausschuss
(2) Der Gemeinsame Bundesausschuss besteht aus einem unparteiischen Vorsitzenden, zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern, vier Vertretern der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einem Vertreter der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, vier Vertretern der Deutschen Krankenhausgesellschaft, drei Vertretern der Ortskrankenkassen, zwei Vertretern der Ersatzkassen, je einem Vertreter der Betriebskrankenkassen, der Innungskrankenkassen, der landwirtschaftlichen Krankenkassen und der Knappschaftlichen Krankenversicherung.

Die Ergebnisse der Überprüfungsverfahren finden Ausdruck in Anlage A (erstattungsfähige Leistungen) und Anlage B (nicht erstattungsfähige Leistungen) der BUB-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses.

Von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind der Erstattungsfähigkeit trotzdem verordneter und angewendeter Therapien und Behandlungen schon während der laufenden Überprüfung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss strenge Regeln und Grenzen gesetzt worden[5]. Den Krankenkassen ist es verwehrt, dennoch erbrachte Leistungen zu erstatten[6].

Widersprüche im System sind augenfällig: bei im EBM 2000plus enthaltenen Therapie- und Behandlungsverfahren wird ohne wissenschaftliche Überprüfung von einer Entsprechung zum Stand der medizinischen Wissenschaft ausgegangen. Eine Überprüfung findet nicht statt - wie im Übrigen auch Behandlungen der „besonderen Therapierichtungen” von ihrer wissenschaftlichen Bewährung ausgenommen sind.

Neuem, den Innovationen in der Medizin, werden strenge Maßstäbe angelegt.

Seit 26.9.2003 stand auch die ambulante Vakuum-Versiegelungstherapie als Methode im Bundesausschuss zur Überprüfung an. Der Widerspruch des Systems ist hier noch augenfälliger: als operative Maßnahme ist die „Temporäre Weichteildeckung - Anlage oder Wechsel eines Systems zur Vakuumversiegelung - An Haut und Unterhaut” (OPS 5-916.a0) im operativen Teil des EBM 2000plus aufgeführt.

Ist sie dennoch „neu”? Oder steht sie allein zur Überprüfung, weil die Sachkostenregelung (noch) nicht erfolgte? Weder der Definition der BUB-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses noch der Rechtsprechung kann dazu eine Erklärung entnommen werden.

Die Rolle, die der Gemeinsame Bundesausschuss vom Gesetzgeber zugewiesen bekommen hat als höchste Autorität in der Beurteilung der medizinischen Kenntnisse, ist nicht nur in der Medizin umstritten. Die Verfassungsmäßigkeit der „Quasie-Rechtsetzungsbefugnis” des Gemeinsamen Bundesausschusses wird auch in der juristischen Diskussion kritisch betrachtet[7].

Die Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses regelt die strengen Anforderungen und Maßstäbe, die an eine medizinisch-wissenschaftliche Überprüfung zu stellen sind.

Z. T. sind dies so strenge Maßstäbe, dass sogar das Bundesgesundheitsministerium intervenierte und auf einer Änderung der Verfahrensordnung bestand[8]. Die Unangemessenheit von Forderungen nach wissenschaftlichen Nachweisen der höchsten Evidenzgrade z. B. bei seltenen Erkrankungen wurde erkannt. Die meisten operativen Maßnahmen werden wohl ebenso an diesen weniger strengen Anforderungen zu messen sein: eine kontrollierte, randomisierte Studie zur Notwendigkeit der chirurgischen Intervention bei akuter Appendizitis ist kaum denkbar. Sie würde wohl schon an der Genehmigung der Ethikkommission scheitern.

Eine zusätzliche Öffnung der engen Grenzen der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherungen wurde jetzt endlich am 6. Dezember 2005 durch das Bundesverfassungsgericht geschaffen[9]. Bei seltenen, lebensbedrohlichen Krankheiten mit fehlenden anerkannten Behandlungsmöglichkeiten, ist die Krankenkasse auch dann leistungsverpflichtet, wenn Methoden zur Anwendung kommen, die nach der Einschätzung des behandelnden Arztes einen nicht ganz entfernt liegenden Heilungserfolg oder auch nur eine spürbare positive Entwicklung haben können.

Der Staat, so das BVerfG, hat mit der Einführung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Patienten übernommen. Die Vorsorge vor einer Verschlechterung gehört in den Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung zur Schutzpflicht des Staates.

Diese neueste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes lässt für viele offene Fragen bei Patienten und behandelnden Ärzten hoffen.

1 BTDrucks 11/2237, S. 157

2 BSG v. 22. März 2005 - N 1S1/0§

3 BUB-Richtlinie, Bundesanzeiger Nr. 57

4 Verg. § 92 Abs. 1 SGB V

5 für alle BSG-E B1 KR36/00 R

6 In Durchbrechung des Sachleistungsprinzips gem. § 13 Abs. 3 SGB V grundsätzlich möglich.

7 für alle: Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht 2005, S. 176 ff

8 Vergl. VerfO in seiner Fassung der Änderung vom 20.9.2005

9 BVerfG Beschluss v. 6.12.2005 - 1 BvR 347/98

Rechtsanwältin B. Roth

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