Psychiatr Prax 2007; 34(8): 367-369
DOI: 10.1055/s-2007-970906
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheitsverhalten bei Männern - kaum eine Besserung in Sicht

Healthy Lifestyles and Help-Seeking in Males - No Improvement in Sight Pro:Wolfgang  Rutz, Kontra:Theodor  Klotz
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Publication Date:
26 October 2007 (online)

Pro

In den osteuropäischen Gesellschaften, die derzeit einen drastischen Übergang erleben, ist ein typisches Krankheits- und Mortalitätsmuster des Mannes zu beobachten. In einigen dieser Länder entstand ein neues Entvölkerungsphänomen, indem sich während der 90er-Jahre die männliche Lebenserwartung teilweise um mehr als 10 Jahre verringerte, während die weibliche Morbidität und Mortalität ziemlich unverändert blieb. Dazu trugen am stärksten ein erhöhtes Vorkommen von Risikobereitschaft, stressbedingten Gefäßkrankheiten und von Suiziden bei.

Wenn man die männlichen Krankheitsraten osteuropäischer Übergangsländer als Ausdruck seelischer Krankheit betrachtet und sie mit der weiblichen Lebenserwartung vergleicht, dann scheinen Frauen in Zeiten der Veränderung geschützter zu sein. Die stressbedingte Morbidität und Mortalität des Mannes spiegelt nahezu seismografisch die Drucklast einer Gesellschaft wider und steht häufig mit der hinterfragten traditionellen Rollenverteilung, einem gesellschaftlichem Statusverlust oder dem Verlust der Rolle als Brotverdiener in Verbindung. Die Mortalität des Mannes korreliert oft stark mit Gewalttätigkeit, Risikoverhalten, Unfällen und stressbedingten Zuständen, sowohl mit kardialen als auch zerebralen Durchblutungsstörungen. Sie ist im Vergleich zur Mortalität der Frauen 5 - 9-mal erhöht, während letzteres im Schnitt nur 1,5-fach erhöht ist.

Nach Partnerverlust ist die Mortalität schweizerischer Witwer sowie frisch geschiedener Dänen 6-fach höher als die der Frauen. In Europa liegt die männliche Lebenserwartung ∼ 5 - 10 Jahre niedriger als die der Frau, und der zunehmende Abstand der Lebenserwartungen scheint ein zuverlässiger Indikator für die wachsende Stressbelastung einer Gesellschaft zu sein. Die Europäische Kommission betrachtet psychisch bedingte Erkrankungen als „Europas unentdeckte Killer”: Ihr Gesundheitsbeauftragter erklärt, dass die Gesellschaft in der wir leben, „Mental Ill Health” erzeuge, wobei die Sterblichkeit durch psychische und stressbedingte Erkrankungen in Europa offenbar überwiegend eine männliche sei. Anscheinend haben also hauptsächlich Männer Schwierigkeiten, mit den Anforderungen der heutigen „modernen” Gesellschaft fertig zu werden. Sind sie genetisch anachronistisch programmiert?

Ein Verlust an sozialer Integration scheint für Frauen der wichtigste Risikofaktor zu sein, während Männer gegenüber einer Beeinträchtigung von gesellschaftlichem Status und sozialer Würde besonders empfindlich sind.

Auch aus Tierversuchen ist bekannt, dass Männchen am empfindlichsten auf gesellschaftliche Degradierung ansprechen, während Weibchen stärker auf sozialen Entzug und auf den Verlust des Familienzusammenhaltes reagieren. Dementsprechend gibt es Anzeichen, dass stressvolle gesellschaftliche und individuelle Statusverluste, die durch den Verlust der Arbeit und der Rolle als Ernährer verursacht sind, Männer schwerer zusetzen. Frauen dagegen haben die protektive Fähigkeit, während Krisen- und Übergangszeiten soziale Netzwerke aufrechtzuerhalten, Verantwortung für die Familie beizubehalten, und gleichzeitig Kontrolle zu bewahren und Fähigkeiten zu entwickeln, neue Lebensinhalte zu schaffen.

Entgegen landläufiger Annahme gibt es klare Hinweise darauf, dass Männer tatsächlich genauso häufig depressiv sind wie Frauen. Dies wird jedoch oft aufgrund von Alkoholismus, einer begleitenden Drogen- oder anderen Abhängigkeit oder aufgrund von Störungen der Impulskontrolle, von aggressivem und gewalttätigem Verhalten nicht erkannt. Häufig führt dies stattdessen zur Diagnose einer Persönlichkeitsstörung, einer Psychopathie oder einer Abhängigkeit, was kontratherapeutische und nichtempathische Schwerpunkte setzt, und gleichzeitig von der zugrunde liegenden Depression des Mannes ablenkt.

Anscheinend unterscheiden sich depressive Symptome bei Männern von denen, die bei depressiven Frauen festgestellt werden. Herkömmliche Diagnosekriterien basieren häufig auf subjektiv beschriebenen Depressionssymptomen. Oft sind diese im Bezug auf Männer nicht zutreffend oder unzureichend adaptiert, oft als Folge der alexithymischen Unfähigkeit des Mannes, eine Depression zu spüren und über depressive Symptome zu berichten. Der starke Missbrauch psychotroper Substanzen bei Männern, der durch Hilflosigkeit und Depression verursacht wird, ist oft ein untauglicher Versuch der Selbstmedikation. Durch den gleichzeitigen Mangel an spezifischer Hilfeleistung wird die zugrunde liegende Depression wie in einem Teufelskreis verstärkt.

Ist die niedrigere Depressionsrate bei Männern ein Artefakt?

In der Volksgruppe der Amish in Nordamerika sind sowohl Aggression und Gewalt als auch Drogenabhängigkeit und Alkoholmissbrauch streng stigmatisiert. In ähnlicher Weise ist in der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft sowie unter israelisch-orthodoxen Juden Alkoholmissbrauch ein Tabu, und daher beträchtlich seltener als in anderen ethnischen und religiösen Gruppierungen. Wahrscheinlich als Folge hiervon ist die Depressionsrate in diesen Bevölkerungsgruppen bei Männern ebenso hoch wie bei Frauen, und die Suizidrate ist in beiden Geschlechtern gleichermaßen niedrig. Im Gegensatz dazu wird in den Ländern der EU, in denen Alkoholmissbrauch häufiger vorkommt und weniger stigmatisiert ist, die Rate von Depressionen bei Frauen 2 - 3-mal höher eingeschätzt als bei Männern. Alkoholismus, der Depressionen tarnen kann, ist auch bei russischen Männern 9-mal häufiger als bei Frauen. Das Geschlechterverhältnis von Suiziden zwischen Frauen und Männern liegt in bestimmten russischen Bevölkerungsgruppen bei 1 : 9, und Depressionen unter Männern werden so gut wie nie festgestellt.

Die Wechselwirkung zwischen Depression, Suizid, Substanzmissbrauch, allgemeiner Gewalt und häuslicher Gewalt wird im „WHO Weltgesundheitsbericht 2001 - Psychische Gesundheit” und im „WHO Weltgesundheitsbericht 2003 - Gewalt” genauer ausgearbeitet und führt zu der Annahme, dass nicht nur eine Zunahme der männlichen Suizidrate, sondern auch die höhere Prävalenz von Aggression, häuslicher Gewalt und Selbstzerstörung bei Männern mit Depressionen des Mannes zusammenhängen könnte. Diese Probleme könnten durch eine bessere Wahrnehmung, Diagnostik und Therapie von Depressionen bei Männern angegangen werden.

Männer suchen ungern Hilfe

Es kann problematisch sein, die atypische Depression beim Mann zu erkennen und richtig zu behandeln. Es ist jedoch eine noch größere Herausforderung, depressions- und suizidgefährdete Männer dort zu kontaktieren, wo sie sich häufig aufhalten - oft außerhalb jeglicher sozialer oder Gesundheitsversorgung, da sie weder nach Hilfe suchen, noch sich an Regeln halten, sich oft aggressiv verhalten, ihre Depressionen durch Substanzmissbrauch selbst behandeln, spielen, exzessiven Sport betreiben, der Depression aber auch mit Arbeitssucht oder exzessiver Sexualität zu entkommen suchen.

Ein zusätzliches Problem ist in diesem Zusammenhang, dass die ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung verständlicherweise den Ansprüchen derjenigen Menschen angepasst ist, die die Dienstleistungen am häufigsten in Anspruch nehmen - also hauptsächlich den Ansprüchen von Frauen. Außerdem sind die Konzepte psychosozialer und psychiatrischer Hilfe in der Regel von den Anbietern geprägt, welche ebenfalls häufiger weiblich sind. Diese sind sich den spezifischen Problemen der depressiven Psychopathologie des Mannes weniger bewusst und reagieren weniger empathisch darauf.

In vielen Ländern setzt ihre Inanspruchnahme Eigenschaften voraus, die für das weibliche Hilfesuchverhalten typisch sind: Motivation, Einverständnis, Einsicht und die Bereitwilligkeit, sich zu verändern. Dies sind Bedingungen dafür, dass Hilfe angeboten wird, unter gleichzeitigem Ausschluss von Aggressivität und Missbrauch - also Anforderungen, die von gefährdeten Männern oft nicht erfüllbar sind. In vielen Ländern ist die geschlechtsspezifische Ungleichheit institutionalisiert, indem die große Mehrheit der Einrichtungen des Strafvollzugs und der gerichtlichen Psychiatrie von Männern in Anspruch genommen wird, während 80 % des stützenden ambulanten psychiatrischen und psychischen Gesundheitswesens von Frauen genutzt wird.

Es sollte daher ein eindeutiges Interesse dafür entwickelt werden, dass sich momentan in vielen Gesellschaften dieser Welt eine umgreifende Veränderung der Geschlechterrollen vollzieht - ein klares Interesse für die besonders starke Ausgesetztheit des Mannes gegenüber Stressfaktoren und gesellschaftlicher Veränderungen.

Referenzen: Beim Autor.

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Prof. Dr. Dr. Wolfgang Rutz

Unit for Public Mental Health, University Hospital, Uppsala, Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit, Hochschule Coburg

Ulleråkersvägen 21

756 43 Uppsala, Sweden

Email: wolfgang.rutz@akademiska.se

Prof. Dr. Theodor Klotz, MPH

Klinik für Urologie, Andrologie und Kinderurologie

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