Psychiatr Prax 2007; 34(8): 403-404
DOI: 10.1055/s-2007-993271
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Psychiatrie in Deutschland

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Publication Date:
06 November 2007 (online)

 

Ein so tituliertes, über 100 Seiten starkes Papier mit umfangreichem Tabellenanhang, erarbeitet von der Arbeitsgruppe Psychiatrie der obersten Landesgesundheitsbehörden, gab die Gesundheitsministerkonferenz der Länder 2007 heraus. Für Kliniker, Versorgungsplaner und -forscher ist diese Lektüre in mehrerlei Hinsicht von Interesse. Zum einen spiegelt sie die Sicht der Politik auf die Gegenwart und Zukunft unseres Fachgebiets wider, zum anderen bietet der umfangreiche Tabellenanhang eine Fülle nützlichen und interessanten Datenmaterials über alle Bundesländer hinweg. Schließlich ist, wie so oft bei politischen Äußerungen, fast ebenso interessant wie das, was darin zu lesen ist, das, was keine Erwähnung darin findet. Die Grobgliederung umfasst "Aspekte von grundsätzlicher Bedeutung" (zunehmende Bedeutung psychischer Gesundheit, Grünbuch der EU-Kommission, Beteiligung von Nutzern und Angehörigen, Gender Mainstreaming, Migrationsproblematik); "strukturelle Weiterentwicklung psychiatrischer Leistungsangebote" (Entwicklung der psychiatrischen Fachabteilungen und Kliniken, Auseinandersetzung mit der Rolle der Psychosomatik, Wohnen, Alltagsgestaltung, Arbeit und Beschäftigung); "forensische Psychiatrie/Maßregelvollzug" (vornehmlich Fragen der Kapazitätsentwicklung und Unterbringungsdauer); "einzelne Fachgebiete" (Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerontopsychiatrie, Suchtkrankenhilfesystem); "Handlungsempfehlungen und Strategien zur Weiterentwicklung des psychiatrischen Versorgungssystems", "rechtliche Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung 2000-2005".

Die Analyse des Ist-Stands und der Entwicklungsperspektiven zeugen von guter Fachkenntnis und enthalten Einschätzungen, die von den psychiatrischen Fachleuten in der Breite weitestgehend geteilt werden dürften. Positionen und Material der DGPPN und der Aktion Psychisch Kranke finden sich wieder. Mit einer gewissen Genugtuung wird der Psychiater auch die harsche Kritik an der psychosomatischen Versorgung registrieren: Die wissenschaftliche Evidenzlage sei generell schlecht, die Bedeutung der stationären Psychotherapie in Bettenplanungen bisher nicht systematisch erfassbar, der Beitrag zur Versorgung bisher unklar, die Leistungen nicht klar definiert. Stationär wird die Gefahr von Zweigleisigkeit und Doppelstrukturen beschrieben, ambulant das Missverhältnis von Zahl der Behandler und Zahl der behandelten Patienten im Vergleich zur psychiatrischen Versorgung.

Auch aus den Kommentaren zum Bereich Arbeit und Rehabilitation ist mancherlei Kritik herauszulesen: Die Kluft zum ersten Arbeitsmarkt werde immer größer, medizinische Rehabilitation finde häufig praktisch nicht statt, ein Perspektivwechsel sei erforderlich. Die forensische Psychiatrie wird vorwiegend unter dem Aspekt der Verdopplung der Bettenzahl innerhalb von 15 Jahren und der daraus resultierenden Kostenproblematik sowie im Hinblick auf notwendige Qualitätsstandards diskutiert. Gesonderte Behandlung erfahren die Themen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerontopsychiatrie und Sucht, jeweils mit den Schwerpunkten Notwendigkeit von Vernetzung und Kooperation sowie - ausdrücklich! - der Betonung der Notwendigkeit von Versorgungsforschung.

Als politisch überragend wichtig, dies kann den umfangreichen Ausführungen entnommen werden, werden die "Beteiligung von Betroffenen, Angehörigen und Betreuern an Entscheidungsprozessen", Gender Mainstreaming und die Berücksichtigung der speziellen Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund angesehen. Für psychiatrische Einrichtungen könnte die Erwartung durchaus von Bedeutung sein, dass "geschlechtssensible Wahlmöglichkeiten" geschaffen werden sollten, was bisher eher in geringem Umfang der Fall sein dürfte. Dass auch der "Trialog"-Gedanke und spezielle Angebote für Migranten künftig nicht mehr Spezialangebote spezifisch Interessierter, sondern immer mehr eingeforderte Angebote der Regelversorgung werden sollen, wird wohl für etliche Professionelle noch einen Lernprozess bedeuten.

Auf der anderen Seite mag der Bericht hinsichtlich der Zukunftsprogrammatik auch als Enttäuschung wahrgenommen werden. Obwohl festgestellt wird, dass die ursprünglichen Ziele der Psychiatrieenquete nur teilweise erreicht seien, insbesondere was den Ab- und Umbau der großen Fachkrankenhäuser anbetrifft, wird die Reform doch als im Wesentlichen abgeschlossen bezeichnet. Das große Hindernis der psychiatrischen Versorgung, die Fragmentierung der Finanzierungszuständigkeiten, wird nur indirekt angesprochen, eine Systemreform offenbar nicht einmal angedacht. Als Antwort auf die fortbestehenden Probleme argumentieren die Gesundheitsminister pro domo, wen wundert es, und fordern einen Ausbau der integrierten Versorgung und der medizinischen Versorgungszentren, wenngleich durchaus eingeräumt wird, dass diese bisher keine wesentliche Rolle spielen. Themen wie ein gemeinsames Psychiatriebudget oder ambulante Akutversorgung finden eher am Rande oder umschrieben einmal Erwähnung; was finanzierungstechnisch gemeint ist, wenn von "personenzentrierten Komplexleistungsprogrammen" die Rede, die sinnvoll seien für lang dauernde psychische Erkrankungen, ist der freien Interpretation zugänglich. Immerhin positiv erwähnt wird in anderem Zusammenhang der Ansatz des "persönlichen Budgets", wie überhaupt der Wechsel von der institutions- zur personenzentrierten Sichtweise gefordert wird, freilich oft ohne dies konkret auszugestalten.

Was weitgehend fehlt, sind gegenüber den umfangreichen Ausführungen zu den Strukturen des Gesundheitswesens jegliche vertiefende Darstellungen von Prozessen, also z.B. im Hinblick auf Leitlinien, Ergebnisqualität etc. Außerhalb der Schwerpunkte Allgemeinpsychiatrie/Psychosomatik/Gerontopsychiatrie/Sucht findet sich keine Erwähnung der Notwendigkeit spezialisierter Behandlungsangebote, offenbar wurde hier kein weiterer Bedarf gesehen. Die gesamten inhaltlichen Aspekte der Behandlung werden damit den Fachgesellschaften überlassen, was einerseits als begrüßenswert angesehen werden mag, andererseits aber auch die Gefahr einer politischen Geringschätzung birgt.

Alle gesetzlichen Neuerungen und Aktualisierungen der vergangenen Jahre werden im letzten Abschnitt erwähnt. Sie betreffen vorwiegend den Maßregelvollzug. Gerne gelesen hätte der Unterzeichner, dass das Vorhandensein von 16 zum Teil recht unterschiedlichen Psychiatriegesetzen in Deutschland als Problem gesehen wird und eine künftige Vereinheitlichung als erstrebenswert erachtet wird. Auch wäre dieses Papier vielleicht ein geeigneter Ort gewesen, um einmal festzustellen, dass es zwar umfangreiche Aktivitäten zur Sicherstellung der Qualität aufseiten der medizinischen Leistungserbringer gibt, dass aber die Rechtswirklichkeit in der Anwendung der geltenden Gesetze erfahrungsgemäß außerordentlich unterschiedlich, regional verschieden, wenig beforscht und für Patienten, Angehörige und Behandler oft nur schwer vorhersehbar ist, obwohl es sich gerade dabei um sehr folgenreiche Eingriffe in die Gesundheitsversorgung handelt.

Tilman Steinert, Weissenau

Email: tilman.steinert@zfp-weissenau.de

Gesundheitsministerkonferenz der Länder (2007). Psychiatrie in Deutschland: Strukturen, Leistungen, Perspektiven. www.lpk-bw.de/archiv/news2007/pdf/070803_gmk_psychiatrie_bericht_2007.pdf

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