Praxeologische Betrachtungen von (Sport‑)Unterricht reklamieren handlungstheoretisch ein Primat der Praktiken (Röhl,
2016; vgl. hierzu auch Reckwitz,
2003). Im Unterricht zur Aufführung kommende und sich vollziehende Praktiken des Denkens, Fühlens, Sprechens und Tuns werden als von Menschen, Dingen, Körpern, Infrastrukturen und Symbolen gemeinsam hervorgebracht und geteilt getragen betrachtet (Schäfer,
2016). In einer wissenssoziologischen Fokussierung von professioneller Wahrnehmung ist weniger ein (Begründungs‑)Wissen
über Ereignisse im Sportunterricht aufgerufen, als der Wahrnehmungsvollzug – das Wissen
im Sehen – selbst. Mittlerweile liegen verschiedene theoretische und empirische praxistheoretische Ansätze visueller Wahrnehmung vor (z. B. Schürmann,
2008; Schmidt,
2012; Prinz,
2014), sodass hier nur Aspekte entfaltet werden können
6. Übergreifend folgen sie der Annahme, dass das Sehen nicht ausschließlich und zu allererst individuellem Wissen und Können folgt, sondern immer auch von soziokulturellen Wahrnehmungsmustern aufgespannt wird. „Bereits was Gegenstand des Sehens werden darf, wen oder was ich ansehe und erst recht, wie ich mich den (imaginierten) Blicken anderer präsentiere, ist abhängig von kulturellen Bedingungen“ (Rimmerle & Stiegler,
2012, S. 10 f.). Sehgepflogenheiten entscheiden dann als eine Art „Okular“ (Schürmann,
2008, S. 15) darüber, „wie und als was etwas sehbar wird“ (ebd.). Sehen findet in zum Sprechen analoger Weise Wirklichkeit erst dadurch vor, dass es diese performativ konstituiert. Es ist ein „aktives Verhältnis zur Welt“ (Bongaerts,
2017, S. 140) und auf diese Weise wesentlich an der (Re‑)Produktion und Transformation sozialer Ordnungen beteiligt (ebd., S. 137). Im Vollzug werden objektive, physische Gegebenheiten perzipiert sowie fortlaufend und unmittelbar deren Bedeutungsgehalte produziert. Handlungstheoretisch vermittelt eine solche Wahrnehmungskonzeption damit zwischen stärker subjektivistischen und stärker objektivistischen Ansätzen. Während Erstere die Individualität und Freiheit des Sehvorgangs und damit das Subjekt als alleinigen Konstrukteur des Gesehenen betonen, heben Letztere auf eine quasi-objektive Repräsentation von Welt ab (vgl. hierzu auch Schürmann,
2008, S. 9 f.). Wahrnehmen als Praxis zu betrachten, überwindet nun eine Aufspaltung in Reizaufnahme und -verarbeitung auf der einen und die interpretierende Bedeutungszuschreibung auf der anderen Seite. Prinz theoretisiert eine solche Verknüpfung objektivistischer und subjektivistischer Wahrnehmungskonzepte (
2014,
2016) entlang der Leibphänomenologie Merleau-Pontys und den strukturalistischen Arbeiten Foucaults: Identifizierendes Wahrnehmen ist auf der einen Seite auf eine an den Leib und das Bewusstsein gekoppelte
Wahrnehmungssyntax verwiesen: Bevor etwas als etwas wahrgenommen werden kann, müssen bestimmte Aspekte des Wahrnehmbarkeitsraums ausgeklammert werden und damit ein Wahrnehmungsfokus in Stellung gebracht worden sein (vgl. hierzu auch Schmidt,
2012, S. 59). Auf der anderen Seite erweisen sich die „diskursiven und nicht-diskursiven Formationen der Dispositive“ (Prinz,
2016, S. 193) – also das, was auf konkrete, historische Gestalten und Objektivationen die sprachlich mehr oder weniger benannt sind, verweist – konstitutiv für die Ausbildung eines Wissens darüber,
als was etwas wie gesehen werden kann. Diese Formationen stellen die Semantik des Sehgeschehens bereit (vgl. hierzu auch Schürmann,
2008, S. 71 ff.). Der Leib verdichtet dieses Wissen und wendet es situativ an – sowohl in bekannten als auch in unbekannten Terrains. So zeigt er sich in der Lage, Wahrnehmungs- und Handlungsvollzüge an neue Umstände anzupassen (Prinz,
2016). Durch eine wiederkehrende „Konfrontation“ (ebd., S. 182) mit sichtbaren Dingen und Körpern im Sinne von „Gestalten“ (ebd.) bilden Subjekte eine „spezifische ‚Wahrnehmungskompetenz‘ oder einen ‚perzeptiven Sinn‘ aus“ (ebd.). Visuelle Repräsentationen im individuellen Bewusstsein haben dann „wahrnehmungskonstitutive Wirkung“ (ebd., S. 184).
Die Überlegungen lassen sich mit wissenssoziologischen Überlegungen Karl Mannheims (
1964,
1969,
1980) verknüpfen. Dessen Lehre einer „Seinsverbundenheit“ des Denkens (Mannheim,
1969) integriert bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt soziologischer Theoriebildung subjektivistische und objektivistische Konzepte sinnhaften Handelns, indem sie menschliches Wissen einerseits grundsätzlich perspektivisch („standortgebunden“) und andererseits in konkrete historische soziokulturelle Verhältnisse („Erfahrungsräume“) eingebunden fasst (vgl. Mannheim,
1980). Handeln folgt nicht nur einem „intendierten Ausdruckssinn“ (Mannheim,
1964, S. 113) des Individuums und objektiven Sinngehalten geklärter und bekannter Handlungsregeln im Sinne von „common sense“. Wissen ist stark an die Erfahrungen und Erlebnisse gebunden, in denen es sich handlungspraktisch erstmalig und wiederkehrend ausgebildet hat. Bestimmte interaktive Konstellationen innerhalb eines Erfahrungsraums stellen für weitere, zukünftige Interaktionsgeschehen dann einen geteilten Erlebnishintergrund dar. Ein solch gleichermaßen standortgebundenes, geteiltes und praktisch erworbenes Wissen ist in vielen Aspekten vorbegrifflich und rahmt als ein atheoretisches Wissen (ebd., S. 73) dann auch das Denken, Wahrnehmen und Handeln. Es determiniert allerdings nicht menschliches Handeln, sondern eröffnet und begrenzt vielmehr Handlungsräume und -möglichkeiten. Geteilte atheoretische Wissensbestände erfahren mehr oder weniger Enaktierung
7, je nachdem, wie sich das Wissen sowohl zu theoretischem Regelwissen als auch zu Wissensbeständen, welche von anderen Akteur*innen getragen werden, verhält (Bohnsack,
2017, S. 54 f.). Dies lässt sich am Beispiel Schule und Unterricht verdeutlichen: Unterrichtliche Interaktionen folgen allerlei theoretischen Wissensbeständen im Sinne von Normen und Regeln. Gleichzeitig kommen zahlreiche routinierte Wissensbestände zur Aufführung, die auf verschiedenste Erfahrungshintergründe verweisen. In Hinblick auf die Realisierung von Unterricht zeigen sich dann immer wieder sowohl
Konsistenzen als auch
Inkonsistenzen zwischen theoretischen und atheoretischen Wissensbeständen (vgl. Asbrand & Martens,
2018, S. 22).