Die europäische randomisierte PSA-basierte Prostatakarzinom-Screeningstudie (European Randomized Study of Screening for Prostate Cancer – ERSPC) konnte einen 20 %igen krebsspezifischen Mortalitätsvorteil für das Screening bei einer hohen Rate von Überdiagnosen zeigen (162.243 Teilnehmer, 214 am Prostatakarzinom verstorbene Männer in der Screeninggruppe, 326 am Prostatakarzinom verstorbene Männer in der Kontrollgruppe; [
8]). Das Prostatakarzinom ist der einzige Tumor, der durch einen einfachen Blutwert erkannt werden kann („prostata-spezifisches Antigen“– PSA). Das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) hat daraufhin zwar zu Recht festgestellt, dass der Schaden einer PSA-basierten Früherkennung selbst in einem organisierten Verfahren größer sei als der Nutzen [
9]. Aber seit Mitte der 1990er-Jahre hat sich der selbstinitiierte PSA-Test als „opportunistisches Screening“ nicht nur in Deutschland verbreitet und für diese Art des Screenings trifft die ungünstige Schaden-Nutzen-Relation in noch höherem Maße zu [
10]. Dieser scheinbare Widerspruch wird verständlich, wenn man sich die Problematik des potenziellen Schadens des Prostatakrebs-Screenings vor Augen führt. Um ihn einzudämmen, wurden in der Folge der ERSPC-Studie erhebliche wissenschaftliche Anstrengungen unternommen, die seit der Stellungnahme des IQWiG zu aussagekräftigen Publikationen geführt haben, die darauf hinauslaufen, dass durch ein durchdachtes Einsetzen des PSA-Werts in einem organisierten Screeningprogramm der Nutzen erhöht und der Schaden vermindert werden kann.
Was sind Nutzen und Schaden eines Krebsfrüherkennungsprogramms?
Die auf den ersten Blick naheliegende Größe „Verlängerung der Überlebenszeit durch Screening“ als Maß für den Nutzen eines Screeningprogramms ist leider untauglich, weil durch die mit der Früherkennung zwangsläufig verbundene Vorverlagerung des Diagnosezeitpunktes das Überleben immer verlängert erscheint, selbst wenn der betreffende Patient am exakt selben Tag sterben würde wie ohne Früherkennung. Der Nutzen eines Screeningprogramms wird daher üblicherweise durch die mit dem Programm erzielte Senkung der krankheitsspezifischen Mortalität quantifiziert [
1,
11]. Der Einfluss des Prostatakarzinom-Screenings auf die Gesamtmortalität ist schwer zu beweisen, da der Anteil dieser Krebsart an der Gesamtmortalität gering ist und bislang jedes Prostatakrebs-Screeningprogramm auch aufgrund der nur langsam progredienten, oft in hohem Alter entstehenden Erkrankung keinen oder einen nur sehr geringen Einfluss auf die Gesamtmortalität hat [
12].
Da die relative Mortalitätsreduktion der bei Weitem effektivsten Krebsfrüherkennung, derjenigen des Zervixkarzinoms, von bis 62 % [
13] für andere Krebsarten nicht im Entferntesten erreicht werden kann, wird der Nutzen eines organisierten Screenings von Kritikern mitunter als zu gering angezweifelt [
14]. So wird die Programmeffektivität (Mortalitätsreduktion unter den zum Screening
eingeladenen Personen) für das Mammografiescreening mit 25–30 % angegeben, ebenso für das Darmkrebsscreening.
Aus der erwähnten ERSPC-Studie wissen wir nach dem jüngst publizierten 21-Jahre-Follow-up, dass für die PSA-basierte Prostatakrebsfrüherkennung relative 27 % erreicht werden [
15]. Anzumerken ist, dass in die Größe „Programmeffektivität“ die Teilnahmebereitschaft der anspruchsberechtigten Bevölkerungsgruppe eingeht und der Nutzen für die tatsächlichen Teilnehmer deutlich höher liegt, so beim Mammografiescreening bei 40–50 % relativer Mortalitätsreduktion, beim Darmkrebs bei 70 % und beim Prostatakrebs in der ERSPC-Studie bei 51 %, d. h. ähnlich zum Mammografiescreening. Allerdings bleibt zu erwähnen, dass die relativen Mortalitätsraten durch die Selektion der Teilnehmer falsch hoch sein können, wenn nur Personen an Screeningstudien teilnehmen, die ein hohes Gesundheitsbewusstsein haben („healthy screenee bias“).
Korrespondierend zur Reduktion der Mortalität konnte in der ERSPC-Studie eine um 32 % geringere Metastasierung bei den detektierten Tumoren beobachtet werden [
15]. Die ERSPC-Studie hat Anfang der 1990er-Jahre die Rekrutierung begonnen. Damals konnten vornehmlich Knochenmetastasen diagnostiziert werden, die aber nur schlecht behandelbar waren. Daher war die Überlebenszeit mit Knochenmetastasen gering. Heutzutage können Metastasen eines Prostatakarzinoms gut behandelt werden und die so behandelten Patienten leben häufig mehr als 10 Jahre [
16].
Allerdings führt die Behandlung des metastasierten Prostatakarzinoms zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität in Verbindung mit sehr hohen Therapiekosten, sodass das Ziel der Metastasenfreiheit bei detektierten Tumoren sowie deren Behandlung in den Fokus der Prostatakrebsfrüherkennung rücken sollte. Zum Vergleich: Die Behandlung einer metastasierten Prostatakrebserkrankung kostet mehrere Hunderttausend Euro, die Primärbehandlung (Operation oder Strahlentherapie) lediglich ein Bruchteil (10.000–20.000 €; [
17]).
Für die Entscheidung über die Sinnhaftigkeit des Aufbaus eines organisierten Screeningprogramms ist hinsichtlich des „Nutzens“ die Programmeffektivität
maßgeblich. Da die systematische Suche nach Krebserkrankungen im Frühstadium auch unvermeidlich unerwünschte Nebeneffekte mit sich bringt, sozusagen einen „Schaden“ anrichtet, spielt die Balance zwischen „Nutzen“ und „Schaden“ für die Qualität und Rechtfertigung eines Screeningprogramms aber die
entscheidende Rolle. Zu den unerwünschten Effekten gehört, dass der Screeningtest (Abstrich, Mammografie, Darmspiegelung, PSA-Test) nicht perfekt ist und auch bei Personen auffällig erscheint, bei denen sich keine Krankheit nachweisen lässt („falsch-positive“ Befunde). Angesichts des Screenings unter weitgehend „gesunden“ Anspruchsberechtigten (nur bei weniger als 1 % der betreffenden Personen wird sich je Teilnahmerunde eine Krebserkrankung zeigen) führen diese proportional gesehen seltenen Fälle zu einer mehr oder weniger hohen Zahl an „überflüssigen“ Abklärungsuntersuchungen. So liegt der Anteil der tatsächlich nachgewiesenen Mammakarzinome bei etwa 20 % der verdächtigen Mammografien, beim Prostatakrebs lag der Wert in der ERSPC-Studie bei ca. 23 % [
15]. In der PROBASE-Studie hatten in der ersten Screeningrunde bei 45-Jährigen von 186 PSA-Screeningtest-auffälligen Probanden 120 eine Biopsie und letztlich 48 der Biopsierten (40 %) ein Prostatakarzinom [
18]. Noch wichtiger erscheint aber in diesem Zusammenhang die mögliche Identifikation einer Gruppe niedrigen Risikos, bei der keine höherfrequenten Screeninguntersuchungen stattfinden müssen [
19]. Beide Parameter variieren je nach Qualität des Screeningtests und der Folgeuntersuchungen und stellen damit eine der Schlüssel-„Stellschrauben“ für die Effektivität und die Kosten des Screeningprogramms dar.
Insgesamt sind folgende Parameter für die Effektivität eines zukünftigen Screeningprogramms entscheidend: das Alter zu Beginn des Screenings (und das Alter am Ende des Screeningprogramms), eine moderne Abklärungsstrategie (basierend auf einem Basis-PSA-Wert und weiteren serum-/urinbasierten Biomarkern und der Magnetresonanztomografie) sowie entsprechend reduzierte Screeningintervalle für Männer ohne oder mit nur sehr geringem Risiko für ein Prostatakarzinom [
20‐
23].
Der größtmögliche Schaden der Früherkennung ist schließlich die Detektion von Karzinomen, die zu Lebenszeit der betreffenden Personen nie in Erscheinung getreten wären („Überdiagnose“) und erst recht nicht hätten behandelt werden müssen („Übertherapie“). Überdiagnose ist bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich und erreicht bei den verschiedenen Krebsarten ein unterschiedliches Ausmaß. Die Zahlen reichen von 10 % beim Mammakarzinom bis zu deutlich höheren Werten beim Prostatakarzinom, für die je nach Alter und PSA-Wert ein Bereich von 2 % bis über 50 % angegeben wird [
12,
24‐
27].
In diesem Zusammenhang können Prostatakarzinome in niedrigem Stadium mit niedriger Aggressivität (pT1c, ISUP-GG 1) als Karzinome angenommen werden, die entsprechend den Daten der ProtecT-Studie lange Zeit ohne Progression bleiben [
28]. Je älter die Screeningkohorte ist, desto höher ist dieser Anteil unnötig detektierter Tumoren. Ob diese beschriebene Annahme auch für die jüngere Altersgruppe der z. B. in PROBASE diagnostizierten Karzinome zutrifft, muss noch gezeigt werden. Insgesamt begründet die hohe Rate der durch Screening detektierten Karzinome geringer Aggressivität die erwähnte Zurückhaltung vieler Länder bei der Einführung eines Prostatakrebsscreenings und die negative Beurteilung seitens des IQWiG. Bei dieser ungünstigen Ausgangssituation kann in der Erhöhung des Anteils an verzögerter Therapie beim Prostatakrebs mit niedriger Aggressivität eine weitere essentielle „Stellschraube“ gesehen werden. Durch die konsequente Anwendung der aktiven Überwachung würden Effektivität und Kosten eines Screeningprogramms positiv beeinflusst werden. Und hier setzten auch die oben erwähnten Forschungsanstrengungen an, deren Ergebnisse zu einer markant anderen Beurteilung der Wertigkeit eines Prostatakarzinom-Screenings geführt haben.
In diesem Zusammenhang ist eine objektive Information über Vor- und Nachteile sowohl des Screenings als auch der daraus resultierenden unterschiedlichen Therapieoptionen vor allem aus Sicht der behandelten Patienten („patient-reported outcome“) vor Beginn des Screenings notwendig [
29,
30].
Die durch „falsch-positive“ Befunde und durch begrenze Mortalitätsreduktion gegebenen Eckdaten eines Screeningprogramms lassen sich mit den folgenden Fragen erheben:
a)
Wie viele Personen müssen gescreent werden?
b)
Wie viele Befunde sind auffällig und müssen abgeklärt werden?
c)
Wie viele Tumoren werden verifiziert und wie viele Auffälligkeiten sind „falsch-positiv“?
d)
Wie viele krankheitsbedingte Todesfälle treten trotz Screenings auf?
e)
Wie viele krankheitsbedingte Todesfälle werden vermieden?
f)
Wie viele Krebsdiagnosen wurden dabei „überdiagnostiziert“?
Bei etwa gleich hoher Rate an auffälligen Befunden unterscheidet sich das Mammografie- vom Prostatascreening vor allem in der hohen Rate aggressiver Tumore [
31,
32].