17.02.2017 | Psychiatrie und Psychosomatik | Originalarbeit
Ausgeschlagenes Erbe
Der vollständige Ödipuskomplex und das Homosexualitätstabu
verfasst von:
Dr. med. Falk Stakelbeck
Erschienen in:
Forum der Psychoanalyse
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Ausgabe 1/2017
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Zusammenfassung
Freud hat zwei unterschiedliche Versionen des Ödipuskomplexes vorgeschlagen, eine einfache Version, über Jahrzehnte tradiert und verbindliches Standardkonzept, und eine viel komplexere Version, die ausgeblendet und vergessen wurde. In der einfachen Version beschreibt Freud die Entwicklung als gelingende Verbindung von biologischen Vorgaben und intersubjektiver Praxis, und, als deren Resultat, das Erreichen einer konfliktfreien Geschlechtsidentität und eines heterosexuellen Begehrens. In der komplexeren Version bleibt dagegen nicht nur das Resultat der Entwicklung, die Identifikation und die Objektbesetzung, offen, sondern auch Ausmaß und Einfluss der entwicklungsrelevanten Operatoren – die Modi der Liebe, die Bisexualität, der Kastrationskomplex und die ödipalen Beziehungen zu den Eltern – sind variabel. In der einfachen Version stellt nur die Entwicklung des heterosexuellen Mannes eine gelungene dar; in der vollständigen Version sind alle Lösungen des Ödipuskomplexes nur als konflikthaft denkbar. Freuds Verständnis hetero- und homosexueller Entwicklungen werden vor diesem Hintergrund skizziert und einige der seit den 1990er-Jahren unternommenen Versuche, Homosexualität als nichtpathologische Entwicklung zu entwerfen, exemplarisch vorgestellt. Überlegungen zur Frage, warum die Rezeption von Freuds Ödipuskomplex so einseitig verlief, beschließen den Beitrag.