Aktuell genannte Opfergruppen
Für Versorgungsfragen in der klinischen Praxis sind zunächst die Zahl der Betroffenen, ihre Morbiditätsraten und ihre Behandlungsspezifika wesentlich. Laut Borbe (
2010) reicht die Zahl der Opfer des SED-Regimes je nach Strenge der angelegten Kriterien von 170.322 bis zu 5,828 Mio. Gar nicht berücksichtigt sind bei Borbe Opfergruppen, die erst in der letzten Dekade in den Fokus gerückt sind und die sich beispielsweise im Bericht der SED-Opferbeauftragten des Deutschen Bundestags finden (Deutscher Bundestag
2024a). In Tab.
1 sind die in den beiden Quellen genannten Opfergruppen zusammengetragen. Anzumerken ist, dass diese Liste lediglich exemplarischen Charakter hat und die aktuellen Diskurse nicht vollständig abdeckt. Manche andernorts genannten Gruppen, beispielsweise Kinder und Jugendliche in Behindertenheimen und Psychiatrien (Bersch
2022), sind in diesen beiden Publikationen gar nicht gelistet. Die aufgeführten Gruppen sind auch nicht endgültig ausdifferenziert, beispielsweise ließen sich bei Personen mit Enteignungserfahrungen Untergruppen spezifizieren (Borbe
2010, S. 51 ff.; Deutscher Bundestag
2024a, S. 54 ff.). Ebenfalls ausgelassen wurden Gruppierungen, die nicht am schädigenden Ereignis, sondern an den Folgen ausgerichtet sind, wie beispielsweise Benachteiligte im heutigen Rentenrecht (Deutscher Bundestag
2024a, S. 35 f.).
Tab. 1
Übersicht über aktuell genannte Opfergruppen. (Nach Borbe
2010 und Deutscher Bundestag
2024a)
Betroffene von … |
politischer Haft |
der Todesstrafe |
politischen Morden |
Zwangsumsiedlung |
prophylaktischen Zwangseinweisungen in Psychiatrien ohne klinische Indikation |
Staatsdoping |
Enteignung |
beruflicher Schädigung |
Spionage/Bespitzelung |
Zersetzung |
politisch bedingten Suiziden |
Inhaftierung in sowjetischen Speziallagern |
Zwangsarbeit |
Heimerziehung |
Inhaftierung in Jugendgefängnissen |
Zwangsadoption und politisch motiviertem Kindesentzug |
Unterbringung in Wochenkrippen |
sexuellem Missbrauch |
kontaminierter Anti-D-Immunprophylaxe 1978/1979 |
mosambikanischer Vertragsarbeit |
Kulturgutverlust |
Betroffene, die … |
bei der Republikflucht umgekommen sind oder versehrt wurden |
republikflüchtig wurden/ausgereist sind |
im Bildungsweg geschädigt wurden |
ohne klinische Indikation in geschlossene Venerologische Stationen zwangseingewiesen wurden |
Angehörige |
Kinder von politisch Verfolgten |
Abgrenzungsprobleme
Selbst bei einmal festgelegter Definition stellt sich die Frage des Cut-off, also ab welcher „Dosis“ repressiver und/oder vernachlässigender staatlicher Maßnahmen jemand als „Opfer“ gelten kann. Die Frage liegt beispielsweise für Betroffenheit von „weichen“, alltagsnahen Formen der Repression unmittelbar auf der Hand (Nussmann und Guski-Leinwand
2023; Marheinecke et al. in dieser Ausgabe). Die Definition von Betroffenheit geht bis dahin, die gesamte Bevölkerung als Opfer zu klassifizieren („kollektives Knast-Syndrom“, Wolle 1999 nach Borbe
2010), was sich in sozialwissenschaftlicher Hinsicht prinzipiell auch mit empirischer Evidenz untersetzen ließe. Inzwischen lassen sich aggregierte Vertrauensverluste durch die flächendeckende Überwachung nachweisen, die wiederum negativ mit mehreren ökonomischen und politischen Variablen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene assoziiert sind, etwa höherer Arbeitslosigkeit (Lichter et al.
2021). Für die meisten klinisch-praktischen Zwecke macht eine so breite Definition die Kategorie des „Opfers“ allerdings schlicht unbrauchbar, da sie für Indikationsfragen zu undifferenziert ist. Andererseits zeigt die oftmals unklar einzuordnende Inhaftierung nach dem „Asozialenparagraphen“ (§ 249 StGB der DDR „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“) auf, dass die Frage nach legitimen Haftgründen und zumutbaren Haftbedingungen unter Aufarbeitungsaspekten spezifische Definitionen braucht, die unter klinischem Gesichtspunkt durchaus als willkürliche Differenzierung kritisiert werden können (Rohrbach
2024).
Erfassungsprobleme
Auch bei vergleichsweise gut abgrenzbaren oder pragmatisch operationalisierten Gruppen gibt es Erfassungsprobleme. Dies beginnt damit, dass bei staatlichem Unrecht selbstbelastende Dokumentationen spärlich erfolgten (beispielsweise Frommer et al.
2017). Auf der Basis historischer Dokumente lassen sich teilweise nur Korridore oder Höchstgrenzen angeben. Für klinische Zwecke sind gegenwartsorientierte Befragungsstudien zunächst das Mittel der Wahl. Diese haben bei dem Thema staatlichen Unrechts aber bisher wenig diskutierte Spezialprobleme. Dies fängt bereits damit an, dass Angst vor und Misstrauen in Institutionen nicht nur Traumafolge und Behandlungsbarriere sein mögen (im Fall politischer Traumatisierung durchaus auch intendiert, Gallistl
2022; Blume et al.
2024), sondern darüber hinaus noch eine Teilnahmebarriere an wissenschaftlichen Untersuchungen darstellen könnten.
Ein geeignetes erstes Näherungsverfahren können Repräsentativerhebungen sein. Im Jahr 2008 wurde eine repräsentative Stichprobe von 1008 Thüringern telefonisch befragt (Ritter und Beuermann
2008). Die Erhebung ergab, dass nach den Rehabilitierungskriterien 8,5 % (
n = 141) direkt von SED-Unrecht betroffen waren (strafrechtliche Entscheidungen, berufliche und/oder verwaltungsrechtliche Benachteiligungen). Bei Berücksichtigung erweiterter Repressionskriterien (Beobachtung, Zuführungen, Verhöre, operative Vorgänge) steigt die Zahl der Betroffenen auf 14 %. Wird indirekte Betroffenheit durch Repression in der Familie oder im Freundeskreis hinzugezählt, waren insgesamt 36 % der Befragten direkt oder indirekt betroffen. Der Anteil der Bevölkerung, der nach der amtlich geführten Statistik einen Antrag auf Rehabilitierung nach den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen gestellt hatte, betrug demgegenüber gerade einmal 1 %. Die Ergebnisse einer weiteren Thüringer Umfrage aus dem Jahr 2022 bestätigen diese Erkenntnisse im Wesentlichen (Ritter
2022). Die Prävalenz für Betroffenheit von Unrechtserfahrungen in der Allgemeinbevölkerung scheint also erheblich zu sein, und in Bezug auf die Teilpopulation der in der DDR sozialisierten Bürger wäre diese sogar noch höher anzunehmen. Abgesehen von der regionalen Begrenzung auf Thüringen, von methodischen Problemen der Selbsteinschätzungen und von der Tatsache, dass auch in repräsentativ angelegten Befragungen bei schwer belasteten Gruppen systematische Drop-outs zu erwarten sind, bleiben für klinische Zwecke zwei Probleme: Potenziell traumatogene Faktoren wurden nur sehr grob abgefragt, und spezifische Symptome oder diagnostische Kriterien wurden gar nicht erhoben.
Für klinische Zwecke ist weiterhin die Frage nach den Folgen relevant. In mehreren regionalen Stichproben (Jenaer Zentrum
2008; Schulze et al.
2020; Thüringer Landesbeauftragter
2022) wurde die soziale und gesundheitliche Lage von Antragstellern auf Rehabilitierung in Thüringen und Brandenburg mit der Allgemeinbevölkerung verglichen. Hier ergibt sich das Bild einer mehrfach hoch belasteten Bevölkerungsgruppe, die ökonomisch, psychisch, körperlich, hinsichtlich sozialer Einbindung und Berufsfähigkeit deutlich schlechter gestellt ist. Probleme in der Versorgung mit adäquater Psychotherapie werden insbesondere in qualitativen Interviewauswertungen berichtet (Schulze et al.
2020;
2022; Thüringer Landesbeauftragter
2023). Ein Manko bleibt ähnlich wie bei der oben genannten Repräsentativumfrage, dass diese Studien letztlich nicht dem klinischen Bereich entstammen und insofern für diese Zwecke nur erste Anhaltspunkte geben können.
Der oben genannten Repräsentativbefragung von Ritter und Beuermann (
2008) ist weiterhin zu entnehmen, dass in der Gesamtbevölkerung auf einen Antragsteller 7 weitere kommen, die keinen Antrag auf Rehabilitierung gestellt, jedoch gemäß Selbstbericht Unrechtserfahrungen, die eigentlich unter die Rehabilitierungskriterien fallen würden, gemacht haben. Diese Relation wurde von Spitzer et al. (
2010) bestätigt. In einer differenzierenden Folgebefragung von Teilnehmern einer regionalen repräsentativen Bevölkerungsstichprobe verneinten 116 von 132 Befragten, die politische Verfolgung oder Benachteiligung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)/DDR angaben, dass ein Rehabilitierungsantrag gestellt wurde. Zwischen diesen von Spitzer et al. bezeichneten „stummen“ und „sprechenden“ Opfern und der Allgemeinbevölkerung wurden umfangreiche Vergleiche bezüglich klinischer Parameter vorgenommen. Sowohl „stumme“ als auch „sprechende“ Opfer unterscheiden sich hinsichtlich körperlicher und psychischer Parameter deutlich von der Allgemeinbevölkerung. Zwischen stummen und sprechenden Opfern gab es hingegen in Einzelbereichen Unterschiede, im Sinne schlechterer Bedingungen bei den sprechenden Opfern, allerdings insgesamt „keine wegweisenden Differenzen“ (Spitzer et al.
2010, S. 14). Die letztlich sehr geringe Fallzahl von nur 16 sprechenden Opfern verleiht dieser Studie einen eher explorativen Charakter.
Umfassendere und differenzierte klinische Untersuchungen zu Folgeschäden liegen zur Gruppe politischer Häftlinge vor (z. B. Maslahati et al.
2022). Hier ist aufgrund bisheriger Studien aktuell von einer extrem hohen Morbidität auszugehen. Allein die Punktprävalenzen der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) betrugen in den vorliegenden Studien zwischen 33 % (Maercker et al.
2013) und 50 % (Weißflog et al.
2011). Andere Erkrankungen wie Angst, Depression, Sucht oder somatische Schäden sind in diesen Zahlen noch gar nicht mitberücksichtigt. Schon diese Diskrepanz von 33 % vs. 50 % dieser beiden Studien verweist bei dieser bereits vergleichsweise gut untersuchten Gruppe auf Schwierigkeiten in der detaillierten Erfassung. Hier wurden bereits messtechnische Differenzen vermutet (Fragebogen vs. klinische Untersuchungen; Maslahati et al.
2022). Unklar und wenig diskutiert ist auch das Problem der Verzerrung, das bei solchen Stichproben durch die Rekrutierung via Ausschreibungen, Presseankündigungen, Verteiler von Opferverbänden oder den Rückgriff auf schon bestehende Stichproben entsteht. Auch ist denkbar, dass sich solche Verzerrungen durchaus je nach Institution, Kooperation und dem Studiendesign unterscheiden. Maercker et al. (
2013) berichten beispielsweise von systematischen Drop-outs aufgrund zu hoher Krankheitslast oder Belastung durch die Studie. Ebenso naheliegend ist, dass sich bestimmte Probandentypen, wie politisch Engagierte, besonders Unzufriedene, Personen mit hohem Leidensdruck oder im „Sprechen“ über Erlebtes und Belastendes routinierte Personen, bei solchen Studien vermehrt melden (beispielsweise Böhm et al.
2023; Weiß und Schomerus
2024).