Erschienen in:
01.09.2014 | Psychiatrie und Psychosomatik | Originalien
In Wahrheit auf Erden nicht zu helfen?
Kleists Suizid aus psychiatrischer Sicht
verfasst von:
PD Dr. Dr. J.E. Schlimme, M.A., U. Gonther
Erschienen in:
Der Nervenarzt
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Ausgabe 9/2014
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Zusammenfassung
Heinrich von Kleist (1777–1811) war ein deutscher Dichter und Dramatiker. Anlässlich seines zweihundertsten Todestages im November 2011 wurde sein Suizid am Kleinen Wannsee bei Berlin, bei dem er zunächst seine Freundin Henriette Vogel und dann sich selbst mit Pistolenschüssen tötete, in der deutschsprachigen Öffentlichkeit ausführlich thematisiert. Die sorgfältige Rekonstruktion von Kleists suizidaler Verfassung zeigt, dass die in der Kleist-Biographieforschung und dem deutschsprachigen Feuilleton diskutierten psychologischen Modelle zumeist eine vereinseitigende Zuspitzung der Beweggründe für den Suizid vornehmen. In Absetzung von der populären Stilisierung von Kleists Suizid als „wohlbegründetem Freitod“ oder „romantischem Zweiersuizid“ wird argumentiert: a) rückblickende psychiatrische Diagnosen oder psychologische Erklärungsmodelle bleiben notwendigerweise unsicher und fragwürdig (sog. Pathographiefalle); b) die psychische Einengung in Kleists eigenem Erleben auf die Handlungsoption Suizid war vielfältig motiviert; c) sein oftmals emblematisch genommener Satz („Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war“.) drückt zwar wortgewaltig die Verzweiflung aus, kann aber für sich noch keine wohlverstandene Begründung für die Selbsttötung darstellen. Vielmehr bleibt aus klinisch-ethischer Sicht zu fordern, dass jedwede Verbesserung des Befindens objektiv ausgeschlossen wäre. Zwar mag dies für die damalige Zeit tatsächlich zutreffend gewesen sein, auch wenn hier Zweifel angebracht bleiben, für die heutige Zeit kann aber konstatiert werden, dass moderne psychotherapeutische und pharmakologische Verfahren sehr wohl in der Lage wären, Menschen in vergleichbaren Situationen zügig, verlässlich und nachhaltig zu helfen. Der vorliegende Aufsatz eröffnet mit der detaillierten Rekonstruktion und psychologischen Interpretation dieses emblematischen Einzelfalls für die Kleist-Rezeption einen freieren Blick auf sein Leben und Werk.