Formulierungen im Arztbrief decken Suizidrisiko auf

Um dem erhöhten Suizidrisiko eines Menschen auf die Spur zu kommen, schlagen Ärzte aus Boston vor, elektronische Arztbriefe mithilfe einer speziellen Software auszuwerten. Hinweise sollen darin auftauchende Begriffe geben, die die Stimmung des Patienten widerspiegeln. Immer wieder haben sich Experten gefragt, wie sich suizidgefährdete Personen ausfindig machen lassen, um sie einer entsprechenden Intervention zuzuführen. Ein Team vom Massachusetts General Hospital in Boston hat nun vorgeschlagen, den ärztlichen Entlassungsbrief nach einem Klinikaufenthalt für die Risikostratifizierung zu nutzen. Grundlage: Opinion Mining Thomas H. McCoy jr. und Kollegen haben dazu ein Tool entwickelt, das auf dem sogenannten Opinion Mining basiert. Dieses Instrument wird häufig in der Werbebranche verwendet, um Kundenmeinungen zu sammeln und auszuwerten. Kernstück ist eine Liste von ca. 3000 Begriffen, die subjektive Empfindungen beschreiben. Mithilfe der für die klinische Anwendung adaptierten Software lassen sich elektronische Arztbriefe auf positive oder negative Äußerungen im Hinblick auf den seelischen Zustand des zu entlassenden Patienten screenen; dabei filtert das Programm Begriffe wie z. B. „traurig“, „trübselig“ oder auch „angenehm“ oder „reizend“ heraus und vergibt dementsprechend Wertigkeiten. Wie die Autoren betonen, ist die Software auch in der Lage, Begriffe mit vorangehender Negation, also z. B. „nicht glücklich“ richtig zu interpretieren. In die retrospektive Studie flossen die Daten von 458.053 Patienten ein, die zwischen 2005 und 2013 aus dem Massachusetts General Hospital und dem Brigham and Women’s Hospital in Boston entlassen worden waren. Insgesamt wurden 845.417 Klinikentlassungen registriert. Diese Daten wurden mit der Sterbestatistik des US Social Security Death Index abgeglichen. Primärer Endpunkt war der Suizid als gesicherte Todesursache. Hilfe bei der Risikostratifizierung Über durchschnittlich 5,2 Jahre wurden die Patienten nachbeobachtet. In dieser Zeit betrug die Gesamtmortalität 18%. Wie McCoy und Kollegen berichten, starben in insgesamt 2,4 Millionen Patientenjahren 0,1% durch Suizid. Dieses Risiko sank um 30%, wenn der Arztbrief unterm Strich eine von der Software ermittelte positive Wertigkeit enthielt. Ein Anstieg um eine Standardabweichung (SD) in der positiven Wertigkeitsintensität war den Forschern zufolge mit einer im Schnitt 20%igen Risikoreduktion verbunden. Umgekehrt stieg das Suizidrisiko um 15%, wenn die Software den Arztbrief negativ bewertete. Von den 235 suizidassoziierten Todesfällen traten 77 im ersten Jahr nach der Klinikentlassung auf, 46 im zweiten Jahr. 192 Patienten hatten sich innerhalb von fünf Jahren das Leben genommen. Weitere Faktoren, die mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergingen, waren männliches Geschlecht, weiße Hautfarbe und die Häufigkeit, mit der sich der Patient im Jahr vor der Klinikeinweisung in Notaufnahmen oder bei niedergelassenen Psychiatern vorgestellt hatte. Ein Manko der Studie ist, neben dem retrospektiven Design, sicher die Tatsache, dass man nichts Näheres zu den Ärzten wusste, die die Entlassungsbriefe verfasst hatten. Deren persönliches Verhältnis zum Patienten mag die Formulierungen durchaus beeinflusst haben. Über kodierte Parameter hinausgehen Für die Autoren bemerkenswert: Knapp die Hälfte aller Suizidenten in der Studie (48,9%) hatte zum Zeitpunkt der Klinikentlassung keinerlei psychiatrische Symptome gemäß ICD-9 gezeigt. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass es sich lohnen kann, über kodierte Parameter hinauszugehen“, schreiben McCoy et al. Dies könne die Grundlage für eine besser auf den Patienten abgestimmte Risikostratifizierung und Intervention sein. In der Studie konnte man mit einer Strategie, die auf das höchste Risikoquartil abzielte, über 50% der späteren Suizidenten identifizieren. Nahm man die beiden höchsten Quartile in den Fokus, gelang die Identifikation sogar bei 80%. In solchen Fällen raten die Autoren zu einem weiteren Risikoassessment, gebahnt etwa durch ein routinemäßiges Telefonat, einen zusätzlichen Brief an den Hausarzt oder einen Zusatztermin in der Praxis oder Klinik.

Springer Medizin

Formulierungen im Arztbrief decken Suizidrisiko auf

Neu in den Fachgebieten Neurologie und Psychiatrie

Demenzkranke durch Antipsychotika vielfach gefährdet

Parkinson-Therapie im Wandel – aktuelle Leitlinie im Fokus

Weniger postpartale Depressionen nach Esketamin-Einmalgabe

Auf diese Krankheiten bei Geflüchteten sollten Sie vorbereitet sein