Das Wort Contergan ist der Inbegriff für die bis heute folgenschwerste Arzneimittelkatastrophe der deutschen Geschichte (Kirk
1999). Dieser lässt unweigerlich an schwerstbehinderte Menschen aufgrund einer pränatal erworbenen pharmakogenen Schädigung denken (Lehnhard-Schramm
2016) und gilt zudem als tragisches Beispiel für das Versagen von Staat, Ärzteschaft und Wissenschaft (Thomann
2005). Die vorliegende Arbeit zeichnet den historischen Kontext des Falls Contergan nach, verschafft einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung der biopsychosozialen Langzeitfolgen und diskutiert offene Fragen.
Historischer Kontext
In Westdeutschland waren die 1950er-Jahre vom enormen Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre geprägt („Wirtschaftswunder“). Eine mächtige pharmazeutische Industrie entwickelte neue hochwirksame Medikamente, wobei die Vermarktung von Arzneimitteln noch einen praktisch gesetzesfreien, vorpolitischen Raum darstellte (Müller-Oerlinghausen
2005). In den Labors der Fa. Chemie Grünenthal wurde 1954 die Substanz Thalidomid (N-Phthalyglutaminsäureimid) synthetisiert. Thalidomid wirkte beruhigend und hatte in seiner vermeintlichen Atoxizität den entscheidenden Vorteil gegenüber den damals verfügbaren Barbituraten, die aufgrund ihrer geringen therapeutischen Breite zu den letalen Medikamenten gezählt werden (Peters
2012).
Contergan wurde 1957 als rezeptfreies Sedativum zugelassen. Die vermeintliche Harmlosigkeit und Unschädlichkeit führte zu der gezielten Marketingstrategie „sicherer als andere“ zu sein (
Spiegel vom 16.08.
1961: „Zuckerplätzchen forte“). So eroberte Contergan in kurzer Zeit den Arzneimittelmarkt, wurde nach Aspirin zum zweitmeistverkauften Pharmakon (Lehnhard-Schramm
2016) und avancierte zum Lifestyle-Medikament einer ganzen Generation (Niecke et al.
2017). Die sedierend-distanzierenden Eigenschaften von Contergan trafen gewissermaßen auf eine traumatisierte und entwurzelte Gesellschaft der Nachkriegsjahre (Osten
2019).
Das Indikationsspektrum war breit, es beinhaltete u. a. schwangerschaftsbedingte Übelkeit. Selbst als bereits ab 1959 erste Hinweise auf neurotoxische Wirkungen bei der Herstellerfirma eingingen, gelang es, die Einführung der Rezeptpflicht bis in den Herbst 1961 zu verhindern (Thomann
2005). Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Interessen und unzureichend ausgebildeter staatlicher Kontrollsysteme führte ein sorgloser Umgang mit einem fortschrittlichen Medikament, das nicht so harmlos war wie angenommen, schließlich zur Katastrophe. Allein in Westdeutschland wurden bis 1962 geschätzt 5000 sog. Contergan-Kinder geboren. Die Säuglingssterblichkeit bei Thalidomidembryopathie beträgt rund 40 %, was auf schwere Fehlbildungen der inneren Organanlagen zurückgeführt wurde (Smithells und Newman
1992). Die Zahl der damaligen Spontanaborte und Totgeburten ist eine unbekannte Dunkelziffer geblieben (Lenz
1988).
Vielfältige Gründe führten dazu, dass es erst 4 Jahre später gelang, die verheerende Embryotoxizität thalidomidhaltiger Präparate zu identifizieren und das Pharmakon 1961 vom deutschen Markt zurückzuziehen. Kurze Zeit nach der Marktrücknahme erfolgten erste Veröffentlichungen von McBride (
1961) und Lenz (
1961), die die Einnahme von Thalidomid in der Schwangerschaft als die verantwortliche Noxe für die kindlichen Fehlbildungen nahelegten. Die Offenlegung der Embryotoxizität und das Bekanntwerden des großen Schadens lösten nach der Marktrücknahme von Contergan einen Skandal aus, der alle anderen politischen Ereignisse in den Schatten stellen sollte, so auch den Bau der Berliner Mauer. In der Folge begannen ein weitreichender gesellschaftspolitischer Diskurs über eine Sensibilisierung der Bevölkerung für Umweltrisiken sowie die Thematisierungen der Chancengleichheit für Behinderte und eines verstärkten staatlichen Eingriffs in die Arzneimittelregulation (Lehnhard-Schramm
2016); und Deutschland sollte sein erstes Arzneimittelgesetz und ein eigenständiges Gesundheitsministerium erhalten (Müller-Oerlinghausen
2005). Das 1968 gegen die Herstellerfirma eingeleitete Strafverfahren wurde nach 4 Prozessjahren, „wegen geringfügiger Schuld der Angeklagten und mangelnden öffentlichen Interesses“ eingestellt, nachdem per außergerichtlichem Vergleichsvertrag 100 Mio. D‑Mark in eine Stiftung eingezahlt wurden (Friedrich
2005). Der straffreie Ausgang des Alsdorfer Gerichtsprozesses gilt als weiterer Skandal (Gemballa
1993).
Thalidomid wurde weltweit in 46 Ländern vertrieben, außer in Westdeutschland v. a. in Großbritannien, Japan, Schweden und Kanada; allerdings nicht in den Vereinigten Staaten, weil es den dort vorhandenen Sicherheitsstandards nicht entsprach (Knightley et al.
1979). Obwohl Thalidomid 1962 aus dem größten Teil der Welt verbannt wurde, ist es nie gänzlich vom Weltmarkt verschwunden und erlebt in den letzten Jahren eine Renaissance (Vargesson
2009). Aufgrund seiner immunmodulatorischen, entzündungshemmenden und antiangiogenetischen Eigenschaften wird das Medikament unter strengen Vorschriften beispielsweise in der Behandlung von Lepra, multiplem Myelom, M. Crohn und „Human-immunodeficiency-virus“(HIV)-Infektion verschrieben sowie in einer Reihe von klinischen Bedingungen untersucht (Matthews und McCoy
2003). Tragischerweise sind in einigen entwicklungsschwächeren Ländern, insbesondere Brasilien, in dem Thalidomid zur Behandlung von Lepra verwendet wird, erneute Fälle von Thalidomidembryopathie aufgetreten (Kowalski et al.
2015). Daher ist die Thalidomidembryopathie nicht nur ein medizinisches Versorgungsproblem für alternde Menschen auf der nördlichen Hemisphäre, sondern auch eine gegenwärtige Gesundheitsbedrohung für junge Familien auf der südlichen Hemisphäre (Weinrich et al.
2018).
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