Einleitung
Mentalisierung als psychologisches Konzept vereint theoretische Grundlagen der Bindungsforschung, der psychodynamischen Psychotherapie, der Neurobiologie, der kognitiven Entwicklungspsychologie und der Psychotherapieforschung (Fonagy et al.
2004). „Sich selbst von außen und die Anderen von innen sehen“ (Bateman und Fonagy
2016, S. 5) beschreibt prägnant gelingende
Mentalisierung. Mentalisierende Personen sind in der Lage, innere mentale Zustände bei sich selbst und bei anderen zu verstehen und nachzufühlen sowie mit eigenen Gefühlen befühlen zu können. Sie zeichnen sich gegenüber diesen inneren Zuständen sowie gegenüber den Gründen für eigenes und fremdes Denken, Fühlen und Handeln durch eine neugierige und offene Haltung aus. Dabei ermöglicht Mentalisieren das Herstellen eines Zusammenhangs zwischen Verhalten und zugrunde liegenden Wünschen, Gefühlen, Gedanken und Absichten. Mentalisieren bedeutet somit, „sich auf die inneren ‚mentalen‘ Zustände von sich selbst und anderen zu beziehen, diese als dem Verhalten zugrunde liegend zu begreifen und darüber nachdenken zu können“ (Euler und Schultz-Venrath
2014). Hierbei ist die Annahme zentral, dass mentale Zustände menschliches Verhalten steuern und Mentalisieren somit eine wichtige Voraussetzung für die menschliche Kommunikation und Beziehungsgestaltung bildet. Mentalisierungsfähigkeit entwickelt sich intersubjektiv im Kontext frühkindlicher Beziehungen, eine weitere Differenzierung findet bis ins Erwachsenenalter statt. Während Mentalisierungsfähigkeit situativ variieren kann, ist diese ebenfalls von strukturellen Persönlichkeitsfaktoren abhängig. So finden sich Beeinträchtigungen der Mentalisierungsfähigkeit bei Patient:innen mit verschiedenen psychischen Störungen, wobei eine Förderung von Mentalisierung schulenübergreifend psychotherapeutisch wirksam zu sein scheint (Brockmann und Kirsch
2015) und vielerorts als allgemeiner Wirkfaktor psychotherapeutischer Behandlungen gesehen wird (Allen et al.
2011, S. 21).
Mentalisierung lässt sich als ein mehrdimensionales Konstrukt beschreiben, wobei acht Polaritäten von Mentalisierung unterschieden werden können (Lieberman
2007):
a)
automatisch/implizit vs. kontrolliert/explizit,
b)
auf sich selbst bezogen vs. auf andere bezogen,
c)
nach innen gerichtet vs. nach außen gerichtet,
Gelingendes Mentalisieren zeichnet sich durch einen ausgewogenen, dynamischen Wechsel zwischen allen Polen aus, ohne zu stark auf einen zu fokussieren (Bateman und Fonagy
2016; Lieberman
2007). Demnach lässt sich Mentalisierung als „übergeordnetes Konzept“ (Luyten et al.
2020, S. 303) verstehen, welches alle genannten Dimensionen in einem Wechselspiel umfasst (Choi-Kain und Gunderson
2008).
Affektive Mentalisierung
In der vorliegenden Arbeit beziehen wir uns auf
affektive Mentalisierungsfähigkeit. Die Dimension
kognitive vs. affektive Mentalisierung wird beschrieben als: „
Cognitive mentalizing involves the ability to name, recognize, and reason about mental states (in both oneself or others), whereas
affective mentalizing involves the ability to understand the
feeling of such states (again, in both oneself or others), which is necessary for any genuine experience of empathy or sense of self“ (Bateman und Fonagy
2016, S. 13).
Wenn
affektive Mentalisierung bedeutet, dass eigene Emotionen sowie die Emotionen Anderer verstanden werden können, dann sollten affektiv Mentalisierende Emotionen als verstehbar und somit als kontrollierbar wahrnehmen, da Verständnis für die eigenen Emotionen und die Emotionen Anderer Kontrollierbarkeit impliziert. Diese Annahme findet sich z. B. auch in der schulenübergreifenden emotionsbezogenen Psychotherapie, wenn an verschiedenen Stellen des psychotherapeutischen Prozesses die Förderung von Emotionsverständnis als Voraussetzung eines angemessenen – d. h. kontrollierten – Umgangs mit Emotionen postuliert wird (Lammers
2011).
Weiterhin sollten affektiv Mentalisierende eigenen und fremden Emotionen, die sie verstehen und die sie somit psychisch/kognitiv zu kontrollieren imstande sind, eine relevante Bedeutung zubilligen. Damit zusammenhängend sollten sie Emotionen als etwas Bedeutungsvolles (d. h. etwas inhärent mit Bedeutung Versehenes) und demzufolge auch als etwas Nützliches/nichts Arbiträres ansehen. Schließlich vermögen es affektiv Mentaliserende, „aus der Komplexität der affektiven Erfahrung ‚Sinn‘ zu generieren“ (Tiedemann
2019, S. 49). In dieser kurzen Darstellung werden bereits die Komplexität und damit auch weitere Differenzierungsmöglichkeiten der Bedeutungszuschreibung von Emotionen (z. B. in bedeutungsvoll vs. nichtbedeutungsvoll, wünschenswert vs. unerwünscht, nützlich vs. nutzlos, hilfreich vs. schädlich) deutlich (Ford und Gross
2018,
2019).
Ein vor Kurzem im englischsprachigen Raum entwickelter und validierter Selbstberichtsfragebogen ermöglicht die Erhebung der Wahrnehmung von Emotionen als kontrollierbar und nützlich: der
Emotion Beliefs Questionnaire (EBQ; Becerra et al.
2020).
Emotion Beliefs Questionnaire
Der EBQ basiert auf dem theoretischen Konzept von Ford und Gross (
2018,
2019). Emotionen werden dahingehend spezifiziert, dass diese auf übergeordneter Ebene in unterschiedlichem Ausmaß als kontrollierbar („controllability“; d. h. inwieweit Emotionen als willentlich veränderbar vs. als willkürlich aufkommend) sowie als nützlich („usefulness“; d. h. inwieweit Emotionen z. B. als gut vs. schlecht, nützlich vs. nutzlos, bedeutungsvoll vs. nichtbedeutungsvoll, hilfreich vs. schädlich, erwünscht vs. unerwünscht) erlebt werden können. Ferner wird auf untergeordneter Ebene u. a. die Bedeutung der Valenz einer Emotion (positiv oder negativ) berücksichtigt. Die 16 Items des EBQ werden ohne Zeitkriterium auf einer 7‑stufigen Likert-Skala (1 =
strongly disagree, 4 =
neither agree nor disagree,7 =
strongly agree) beurteilt, wobei hohe Werte darauf hinweisen, dass positive und negative Emotionen als unkontrollierbar und nutzlos erlebt werden. Mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse konnte gezeigt werden, dass sich die englischsprachige Originalversion des EBQ am besten durch ein 3‑Faktoren-Modell beschreiben lässt, bestehend aus den Komponenten
General-Controllability (Items 1, 2, 5, 6, 9, 10, 13, 14),
Negative-Usefulness (Items 3, 7, 11, 15) und
Positive-Usefulness (Items 4, 8, 12, 16). Diese drei Komponenten lassen sich zusätzlich auf einen gemeinsamen
Faktor höherer Ordnung zurückführen, was bedeutet, dass sich durch die Gesamtskala des EBQ die Fähigkeit zur affektiven Mentalisierung erfassen lässt. Der EBQ wies in dieser Stichprobe der erwachsenen, australischen Allgemeinbevölkerung eine akzeptable bis gute Reliabilität mit einer internen Konsistenz der Subskalen von Cronbachs α = 0,70–0,88 auf.
Relevanz und Ziel der Studie
Angesichts der Multidimensionalität des Mentalisierungskonzepts ist es erforderlich, valide Messinstrumente zu etablieren, welche die einzelnen Mentalisierungspole präzise abbilden können. In der vorliegenden Arbeit fokussieren wir uns auf ein Instrument zur Erfassung von
affektiver Mentalisierung: Das Ziel der vorliegenden Studie ist es, eine deutschsprachige Version des
Emotion Beliefs Questionnaire (EBQ) vorzustellen und diese in einer nichtklinischen, deutschsprachigen Stichprobe zu validieren. Diese deutschsprachige Version des EBQ soll vorrangig ein einfach zu implementierendes, eng an der englischsprachigen Version von Becerra et al. (
2020) orientiertes Messinstrument darstellen.
Die vorliegende Validierungsstudie soll untersuchen, ob (1) explorativ die dreifaktorielle Struktur des EBQ (d. h.
General-Controllability,
Negative-Usefulness,
Positive-Usefulness) zu beobachten ist, (2) die
interne Konsistenz der Gesamtskala des EBQ in der deutschen Version als mindestens akzeptabel anzusehen ist (Cronbachs α ≥ 0,70) und (3) sich eine hohe
konkurrente Validität nachweisen lässt (d. h., ob die deutschsprachige Version des EBQ mit einem anderen, in deutscher Sprache validierten Messinstrument zur Erfassung von Emotionsregulation sowie mit einem Instrument zur Erfassung von Depressions‑, Angst- und Stresssymptomen korreliert). Den Ergebnissen von Becerra et al. (
2020) entsprechend erwarten wir, dass hohe Werte des EBQ – also die Vorstellung, positive und negative Emotionen seien unkontrollierbar und nutzlos (d. h. eine geringe affektive Mentalisierungsfähigkeit) – mit mehr Schwierigkeiten in der Emotionsregulation sowie mit höheren psychopathologischen Symptomen einhergehen werden.
Diskussion
In der vorliegenden Studie validierten wir den EBQ in einer deutschsprachigen Version im Rahmen einer anonymen Online-Umfrage an einer Stichprobe aus 104 Psychotherapeut:innen in Aus- und Weiterbildung sowie Studierenden in Deutschland, eine Studienteilnehmendengruppe, die nicht als homogene Gruppe zu sehen ist (Reininger et al.
2021).
Mittels explorativer Faktorenanalyse beobachteten wir die dreifaktorielle Struktur der englischsprachigen Originalskala (Becerra et al.
2020) – bestehend aus den Subskalen
General-Controllability, Negative-Usefulness und
Positive-Usefulness – wie erwartet in der deutschsprachigen Version. Übereinstimmend mit der Originalstudie können wir mit den vorliegenden Ergebnissen – zunächst pilothaft durch eine nichtklinische, deutsche Stichprobe – somit das theoretische Konzept von Ford und Gross (
2018,
2019) empirisch stützen, welches die Wahrnehmung von Emotionen als multidimensionales Konstrukt beschreibt, bestehend aus den Faktoren Kontrollierbarkeit und Nützlichkeit unter Beachtung der Valenz von Emotionen (positiv vs. negativ). Hinsichtlich der Reliabilität beobachten wir für den deutschsprachigen EBQ in der Gesamtskala (α = 0,87) und in der Subskala
General-Controllability (α = 0,85) eine gute, in den Subskalen
Negative-Usefulness (α = 0,76) und
Positive-Usefulness (α = 0,70) eine akzeptable interne Konsistenz.
Hypothesenkonform beobachten wir bezüglich der konkurrenten Validität Zusammenhänge des EBQ-Gesamtwerts mit dem FrAGe-Gesamtwert und den Subskalen der DASS kleinen bis mittleren Ausmaßes. Somit konnten wir die originalen Befunde, dass eine wahrgenommene geringe Kontrollierbarkeit und Nützlichkeit positiver und negativer Emotionen (affektive Mentalisierung) mit einer geringen Emotionsregulation sowie mit erhöhten Depressions‑, Angst- und Stresssymptomen einhergehen, in der deutschsprachigen Version replizieren.
Es handelt sich beim EBQ um ein Instrument, das theoretisch begründet geeignet sein dürfte, affektive Mentalisierung zu erfassen: Da gelungenes affektives Mentalisieren meint, eigene und fremde Emotionen verstehen zu können (Bateman und Fonagy
2016), sollten affektiv Mentalisierende folglich alle Emotionen (positive und negative) als kontrollierbar und auch als bedeutsam/nützlich wahrnehmen
3 (Zusatzmaterial online: Appendix B). Für den EBQ ergeben sich somit – auch für die deutschsprachige Version – klinische Einsatzmöglichkeiten. Da eine beeinträchtigte Mentalisierungsfähigkeit als Vulnerabilitätsfaktor für psychische Erkrankungen gesehen wird (Luyten et al.
2020) und eine Förderung dieser Fähigkeit schulenübergreifend wirksam zu sein scheint (Brockmann und Kirsch
2015), könnte der EBQ dabei helfen, eine geringe
affektive Mentalisierungsfähigkeit als möglichen Vulnerabilitätsfaktor für Psychopathologien frühzeitig zu identifizieren. Mentalisierungsfähigkeit und insbesondere affektive Mentalisierung – die Fähigkeit, über das Fühlen fühlen zu können – ist eine wichtige Kompetenz und ein Zeichen psychischer Gesundheit. Affektive Mentalisierungsfähigkeit lässt sich in einen Zusammenhang mit psychischen Belastungen, z. B. bei somatoformen Schmerzen, bringen (Reininger
2020; Schultz-Venrath
2021). Die Hypothese, dass Affektualisierung (ein wichtiger Bestandteil von affektiver Mentalisierung) eine wirksame und theoretisch begründete psychotherapeutische Intervention zu sein scheint, lässt sich aus der Literatur ableiten (Lammers
2011; Shedler
2010). Die Erfassung von affektiven Mentalisierungsschwierigkeiten durch den EBQ kommt insbesondere in Anbetracht evidenzbasierter Behandlungsformen mit Fokus auf einer Förderung ebendieser Fähigkeit, wie etwa der Mentalisierungsbasierten Therapie oder auch metakognitiven Ansätze (Bateman und Fonagy
2016; Moritz et al.
2018,
2021; Reininger et al.
2020; Taubner et al.
2019; Volkert et al.
2019), eine hohe klinische Relevanz zu.
Der Fokus der vorliegenden Studie liegt auf der Untersuchung von nichtklinischen Teilnehmenden. Um die genannten klinischen Einsatzmöglichkeiten des EBQ vertiefend diskutieren zu können, sollte der EBQ zukünftig in klinischen Stichproben untersucht werden. Unsere Arbeitsgruppe untersucht aktuell den EBQ in einer klinischen Stichprobe, sodass hieraus möglicherweise eine Bestätigung der psychometrischen Qualität des EBQ in einer klinischen Stichprobe resultieren könnte. Bei der Einordnung der vorliegenden Befunde muss als weitere Limitation die geringe Stichprobengröße genannt werden. Wenngleich eine Stichprobengröße von 100 stellenweise als ausreichend bezeichnet wird (Gorsuch
1983; Kline
1994), so scheint es unumstritten, dass größere Stichproben die Generalisierbarkeit faktorenanalytischer Ergebnisse erhöhen (DeVellis
2012, S. 158). Weiterhin sollten hinsichtlich der Generalisierbarkeit unserer Ergebnisse an der vorliegenden Stichprobe das Ungleichgewicht in der Geschlechterverteilung (92 Frauen, 12 Männer) und der hohe Bildungsgrad (73,1 % Fach‑/Hochschulabsolvent:innen) berücksichtigt werden. Wenngleich Mentalisierung als „Kompetenz der politischen Mitte“ in Forschungsarbeiten beobachtet wurde (Krott und Reininger
2021), so scheint der Überhang von Bündnis 90/Die Grünen-Wähler:innen (politische Orientierung gemäß Sonntagsfrage: 63,5 % Bündnis 90/Die Grünen) in der vorliegenden Studie ein die Generalisierbarkeit ebenfalls einschränkender Faktor zu sein. So muss bedacht werden, dass es beispielsweise Geschlechtsunterschiede in der Emotionsregulierung gibt (Nolen-Hoeksema
2012). Ebenso gilt emotionale Intelligenz als Prädiktor für schulische Leistungen (MacCann et al.
2020). Folglich erscheinen neben weiteren Validierungsstudien mit klinischen Stichproben – wie wir sie aktuell durchführen – auch zusätzliche Validierungsstudien in der deutschen Allgemeinbevölkerung notwendig.
Im Vergleich zu unserer Vorstudie zeigt sich in den vorliegenden Ergebnissen der aktuellen Stichprobe eine geeignetere sprachliche Passung der Items der Skala Positive-Usefulness (4, 8, 12, 16). Dennoch sollte eine weitere Überarbeitung von Item 16 („Es ist schädlich, positive Gefühle zu empfinden“) in Betracht gezogen werden, da dieses Item sowohl eine geringe Faktorladung (α = 0,26) als auch eine geringe Trennschärfe (< 0,3) aufweist.
Weiterführende Studien sollten zudem die Retest-Reliabilität des deutschsprachigen EBQ untersuchen, da sich das Ausmaß möglicher Veränderungen der wahrgenommenen Kontrollierbarkeit und Nützlichkeit positiver und negativer Emotionen nur in Längsschnittdesigns erfassen lässt.
Zusammenfassend sprechen die Ergebnisse der vorliegenden Studie für gute psychometrische Eigenschaften des deutschsprachigen EBQ. Der EBQ – empirisch in einer deutschsprachigen, nichtklinischen Stichprobe pilothaft getestet und theoretisch begründet – scheint ein geeignetes Instrument zur Erfassung affektiver Mentalisierung in klinischer Praxis und Forschung darzustellen.
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