In dem – im Rahmen des oben genannten Forschungsverbundes momentan laufenden – Forschungsprojekt zur „ambivalenten Rolle der Psychotherapie in der DDR“ geht es u. a. darum, die verschriftlichten Quellen und Beschreibungen zur 40-jährigen Psychotherapiegeschichte in der DDR (und der davorliegenden Zeit als SBZ) zusammenzutragen und auszuwerten. Hierzu existiert bereits eine Fülle einführender Übersichtsaufsätze (beispielsweise Maaz
2011; Leppert
2012a; Steinberg
2016a, b; bezogen auf einzelne Verfahren beispielsweise Seidler
1997; Hennig und Fikentscher
1993), deren gemeinsames Anliegen es ist, basale Daten und Details zur Psychotherapie in der DDR mitzuteilen. In diesem Beitrag soll es in erster Linie in Form einer kondensierten Übersicht darum gehen, wie die Psychotherapie im Osten
nach dem Beitritt im Jahr 1990 bislang aufgearbeitet wurde. Dafür soll aus Gründen der Leserinformation zunächst aber eine Einführung zur Psychotherapie der DDR vor 1990 gegeben werden. Wir beziehen uns hierbei stark auf die Chroniken aus dem Standardwerk von Geyer (
2011)
Psychotherapie in Ostdeutschland – Geschichte und Geschichten 1945–1995. Der umfassende Herausgeberband, in dem hauptsächlich ehemalige Akteure der DDR-Psychotherapie zu Wort kommen, enthält neben allgemeinen Aspekten der Fachentwicklung auch Informationen zu detaillierten Entwicklungen einzelner Psychotherapiemethoden und -verfahren und autobiografische Anekdoten. Simon (
2012) hat das Opus magnum rezensiert und auf das Kompendium als hervorragendes Nachschlagewerk verwiesen. Gleichzeitig machte die Autorin auch einen Loyalitätskonflikt deutlich, der zwischen der Würdigung der Leistungen der in der DDR aktiven Psychotherapeut:innen, allen voran von Geyer einerseits, der „kritischen Reflexion des Erlebten“ durch die Referentin andererseits, bestünde, wobei sie insbesondere die Frage nach der Haltung zum politischen System aufwirft. Geyer (
2022) und Simon (
2022) haben ihre unterschiedliche Geschichte und ihre unterschiedlichen Positionen kürzlich in einem aktuellen Tagungsband noch einmal aktualisiert verdeutlicht. Leppert (
2012b) kritisierte an dem Werk die Fokussierung auf die „individuellen Facetten aus der Nische DDR-Psychotherapie“ ohne eine Einordnung in das „real existierende DDR-Gesundheitswesen“ (S. 281).
Psychotherapie in der DDR
Es ist naturgemäß unmöglich, die Komplexität einer 40-jährigen Psychotherapiegeschichte hier in Kürze zusammenzufassen, weswegen hier nur einige wenige Aspekte hervorgehoben werden sollen, in Verbindung mit einer tabellarischen Zusammenfassung einiger Meilensteine.
Bereits mit dem Ende des Krieges – so macht Geyer (
2011) deutlich – erscheinen drei einflussreiche Persönlichkeiten am Horizont, die für die Fachpolitik und auch die inhaltlichen Entwicklungen in der Psychotherapie in der DDR von besonderer Bedeutung waren. Es handelte sich zum einen um Alexander Mette (1897–1985; Lehranalysand von Therese Benedek), der später in wichtige gesundheitspolitische Funktionen kam. Ein weiterer bedeutender Akteur ist Alfred Katzenstein (1915–2000), der während des Krieges amerikanischer Soldat war und erst 1954 in die DDR übersiedelte, dann aber für die Psychotherapie wichtig wurde. Schließlich ist Dietfried Müller-Hegemann (1910–1989) von großer Bedeutung, der nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1948 in der DDR eine Partei- und Universitätskarriere machte, ehe er 1971 in den Westen Deutschlands übersiedelte.
Die Tab.
1 zeigt, beginnend mit dem Jahr 1945, dass sowohl einzelne Personen als auch einzelne inhaltliche Strömungen im Kontext der politischen Entwicklung des (späteren) DDR-Staates die 45-jährige Geschichte bestimmten. In der Anfangszeit war der Westberliner Psychoanalytiker Harald Schultz-Hencke von großer Bedeutung, auch deshalb, weil er bis 1945 Mitglied des „Göring-Instituts“ in Berlin gewesen war und danach 1945 das Institut für Psychopathologie und Psychotherapie (IPP) mitbegründete. Somit hatte er eine gewisse „Scharnierfunktion“ zur Psychotherapie im NS-Staat, die für die Entwicklung der Psychotherapie in Ost und West nach 1945 noch lange bedeutungsvoll war (Roelcke
2012).
Tab. 1
Einige Meilensteine zur Geschichte der Psychotherapie in der SBZ und der DDR. (In Anlehnung an Geyer (
2011) und die von ihm differenzierten Entwicklungsphasen)
Nachkriegszeit |
1945 | Gründungsmemorandum der Nachfolgeeinrichtung des (West‑)Berliner Institut für Psychoanalyse (Inst. für Psychopathologie und Psychotherapie) durch Harald Schultz-Hencke |
Schultz-Henke weist das Angebot von Alexander Mette, am Institut für Psychopathologie und Psychotherapie in Westberlin zu dozieren, ab |
Entlassung von Ernst Speer als Hochschullehrer in Jena wg. NSDAP-Mitgliedschaft |
1946 | Alexander Beerholdt erhält von Hans-Georg Gadamer einen Lehrauftrag am Psychologischen Institut in Leipzig und hält drei Jahre lang Lehrveranstaltungen zur Einführung in die Tiefenpsychologie und über die „Freud’sche Psychoanalyse“ |
1947 | Berufung von Schultz-Hencke auf den Lehrstuhl für Psychotherapie nach Greifswald (und Ablehnung des Rufes) |
1948 | Erste Ausgabe der Zeitschrift für Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie – später Organ der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR |
1949 | Berufung von Schultz-Hencke an die Med. Fakultät der Humboldt-Universität Berlin – DPG verabschiedet Resolution, die gleichzeitige Tätigkeit in Ost und West untersagt (Schultz-Henke entscheidet sich für die Leitung des Westberliner Instituts) |
Gründung der Beratungsstelle am Haus der Gesundheit (HdG, u. a. mit Kurt Höck als Arzt) am 01.10.1949, 6 Tage vor der Gründung der DDR |
Anfänge der DDR: Pawlow und die Folgen |
1950 | Pawlow-Konferenz in Moskau und Erklärung der Pawlow’schen Theorie zum Dogma der Lebenswissenschaften, Vorstellung der Schlaftherapie, Pawlow-Kampagne der SED |
Gründung der Lindauer Psychotherapiewoche (Leitung: Speer, s. oben) |
Dietfried Müller-Hegemann beginnt Tätigkeit in Leipzig und entwickelt die „Rationale Psychotherapie“ |
Ehrig Wartegg übersiedelt von Erfurt nach Berlin und arbeitet am HdG |
Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie (DGPT) Beschluss (18.09.1950): keine Aufforderung zum Beitritt für Mitglieder aus der Ostzone |
1951 | Versuche mit der Schlaftherapie in Jena (Gerhard Klumbies, Hellmuth Kleinsorge propagieren dort auch autogenes Training und Hypnose) und Halle (Hans Walter Crodel) |
Müller-Hegemann wird Leiter der Universitätspsychiatrie in Leipzig |
1952 | Vortrag von Gerhard Klumbies (Jena) bei den Lindauer Psychotherapiewochen über Psychophysiologie und internistische Psychotherapie (Strauß 2004) |
1953 | Gründung einer stationären Psychotherapieabteilung am Uniklinikum Leipzig |
Pawlow-Tagung in Leipzig mit Kritik an der Psychoanalyse, Etablierung einer staatlichen Pawlow-Kommission |
1954 | Mette wird Professor an der HU Berlin mit Lehrauftrag für Psychotherapie |
Gründung der AG der „Psychologen im Gesundheitswesen der DDR“ |
1955 | Karl Leonhard übersiedelt von Frankfurt a. M. nach Erfurt und entwickelt als Professor der Med. Akademie Erfurt die „Individualtherapie der Neurosen“ |
1956 | Mette wird Leiter der Hauptabteilung Wissenschaft im Ministerium für Gesundheitswesen |
Höck wird Leiter der Psychotherapieabteilung des HdG in Berlin und beginnt mit Gruppenpsychotherapien |
1957 | Erstes Psychotherapielehrbuch der DDR (Müller-Hegemann) |
1959 | Gehaltsabkommen über der Vergütung für Hochschulkader im Gesundheitswesen (Gleichstellung aller Akademiker) |
Leonhard – nun an der Charité – eröffnet Psychotherapieabteilung mit 50 Betten |
Erscheinen von Psychotherapie in Klinik und Praxis (Kleinsorge und Klumbies) |
Beginnende Institutionalisierung |
1960 | Austausch über Gruppentherapie bei den Lindauer Psychotherapiewochen (mit S.H. Foulkes, Raoul Schindler u. a.) |
Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (GÄP) |
Christoph Schwabe als Nichtmediziner und Musiktherapeut wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uniklinik Leipzig |
1961 | Kurt Höck wird Bezirksarzt von Ostberlin |
Gründung des Instituts für Psychologie in Jena mit sozialpsychologischer Ausrichtung (Hans Hiebsch und Manfred Vorwerg) |
1962 | Gründung der Gesellschaft für Psychologie der DDR (Vorsitz Werner Straub, Dresden), Friedhart Klix wird Ordinarius für Psychologie an der HU, Neuordnung der Psychologie an den DDR Universitäten |
1963 | Individualtherapie der Neurosen (Leonhard) |
1964 | Höck stellt Konzeption der ambulanten Psychotherapie auf der Basis der Neopsychoanalyse Schultz-Henckes vor und gründet die Klinik Berlin-Hirschgarten („Mekka der Gruppenpsychotherapie in der DDR“; Geyer 2011) |
Harro Wendt eröffnet psychotherapeutische Abteilung in Uchtspringe mit Fokus auf tiefenpsychologischer Einzel- und Gruppentherapie |
1966 | Internationales Symposium zur Gruppentherapie in Berlin-Ost mit Teilnahme diverser westdeutscher Gruppentherapeuten (u. a. Franz Heigl, Annelise Heigl-Evers, Helmut Enke) |
1967 | Erscheinen des Buches Gruppenpsychotherapie in Klinik und Praxis von Höck und Begründung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie |
1968 | Erste „psychoanalytische Selbsterfahrungsgruppe“ in Erfurt (auf Initiative von Jürgen Ott) |
Lehrbuch Kommunikative Psychotherapie (ohne Bezug zu Pawlow!) von Christa Kohler |
1969 | Gründung diverser Sektionen in der GÄP (Psychologie in der Medizin, dynamische Gruppenpsychotherapie, Hypnose und autogenes Training, Musiktherapie, Kinderpsychotherapie) |
Beginn der Gesprächstherapieausbildung an der HU Berlin, geleitet von Johannes Helm |
Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung |
1970 | Begründung der Selbsterfahrungskommunitäten (geleitet von Ott, Höck, Helga Hess u. a.) |
1971 | Konferenz in Brandenburg, veranstaltet durch die Abteilung Gesundheitspolitik des ZK der SED – Widerstand gegen die Pläne der SED, Psychotherapie zu politisieren und zu ideologisieren |
Plan für eine Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten der sozialistischen Länder durch die GÄP, Mitgliedschaft der GÄP in der Int. Federation for Medical Psychotherapy (IFP, Höck ab 1973 Mitglied des Präsidiums; Geyer 1987 Generalsekretär der IFP) |
1972 | Psychotherapieabteilungen in Erfurt (Geyer) und Rostock (Löbe) |
1973 | Erstes Symposium der Psychotherapeuten der sozialistischen Länder |
Errichtung von Lehrstühlen für medizinische Psychologie an einigen Universitäten nach einer Studienreform |
1974 | Gründung der AG Gesprächspsychotherapie in der Gesellschaft für Psychologie |
1975 | Gründungen der Arbeitsgemeinschaften Gesprächstherapie und Verhaltenstherapie in der GÄP |
1976 | Konzeption einer Seelsorge-Ausbildung in der Ev. Kirche (Wilfried Schulz, Werner Becher und Infrid Tögel) |
1977 | Gründung von Regionalgesellschaften für ärztliche Psychotherapie, Weiterentwicklung der Aus- und Weiterbildung inkl. Balint-Gruppen-Arbeit |
1978 | Vorstandssitzung der GÄP mit einer Fortführung der 1977 begonnenen Diskussion um die Psychoanalyse |
1979 | Vorschlag der GÄP, eine Sektion Einzeltherapie mit 3 AG zu gründen: Gesprächs‑, Verhaltenstherapie und psychodynamische Psychotherapie, – der nicht realisiert wurde |
Dokumentation von Höck: „30 Jahre Psychotherapie in der DDR“ |
Gründung der AG Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe durch Paul Franke in Magdeburg |
Wege der Emanzipation |
1980 | Umbenennung des HdG in „Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung“ (IfPN) |
22. Weltkongress für Psychologie an der Universität Leipzig unter Leitung von Klix |
Beginn der Ausbildung im Katathymen Bildererleben nach Kontakten zwischen Hennig (Halle) und Leuner (Göttingen) |
Hess et al. ( 1980): Formulierung der Zielsetzungen der nächsten Jahre |
1981 | Begründung der Schriftenreihe Psychotherapie und Grenzgebiete (Storch et al. 2020) |
Einführung des Fachpsychologen der Medizin (analog zum Facharzt) |
Tagung zum 125. Geburtstag von S. Freud in Bernburg |
1982 | Bildung der Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie unter Leitung von Wendt |
Psychotherapeut der Charité nennt sich als IM „Sigmund Freud“ |
1983 | Erscheinen von Forschung und Praxis in der Gesprächspsychotherapie (Inge Frohburg) |
1984 | Internationales Symposium in Dresden mit Carl Nedelmann, Wolfgang Senf, Elmar Brähler als Gästen |
1985 | Beginnende Kontakte zwischen Leipzig und Kächele (Ulm) |
1986 | Internationaler Gruppentherapiekongress in Zagreb, Ausreise von J. Ott in die BRD |
1987 | Vortrag Christina Schröder: „Angst als Kernproblem der Neurose in der Entstehungsgeschichte der psychodynamischen Therapie“ in Potsdam |
Themenheft „Psychotherapie“ in der Zeitschrift für klinische Medizin |
Internationales Psychotherapiesymposium in Erfurt |
1988 | Konzeptbildung der Balint-Arbeit in der DDR |
Besuch von Geyer und König in Wien bei Leupold-Löwenthal und Ablehnung der IPA gegenüber einer provisorischen Mitgliedschaft einer ostdt. Gesellschaft |
Symposium für Wendt in Uchtspringe |
1989 | Umbenennung der GÄP in „Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der DDR“ (GPPMP) |
Freud-Symposium an der Universität Leipzig (Sigmund Freud – Hirnforscher, Neurologe, Psychotherapeut, Kästner und Schröder) |
Tagung des DKPM in Gießen im November 1989 am Tag nach dem Mauerfall |
Wende- und Nachwendezeit |
1990 | Übernahme der Strukturen der BRD (KV, Kammern, Infragestellung der Polikliniken) |
Beginn der Gründungen von psychoanalytischen Ausbildungsinstituten mit Unterstützung westdeutscher Kolleg:innen (Leipzig, später Jena, Berlin, Cottbus und Rostock) |
Diskussionen über den Zusammenschluss der GÄP mit der westdt. AÄGP |
Auflösung der Gesellschaft für Psychologie der DDR |
Wie die Tabelle ausweist, lehnte Schultz-Henke seinerseits das Angebot von Alexander Mette ab, am wiedergegründeten Institut in Westberlin zu dozieren. Kurz danach erhielt er selbst (1947) einen Ruf auf den Lehrstuhl für Psychotherapie in Greifswald, den er aber vermutlich aufgrund der örtlich ungünstigen Bedingungen und der schwierigen politischen Situation ebenfalls ablehnte. Schultz-Hencke stand 1949 auch im Zentrum eines Beschlusses der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG), die eine gleichzeitige Tätigkeit in Ost- und Westdeutschland ablehnte, was ihn dazu bewog, eine Professur an der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität nicht anzunehmen, sondern weiterhin das Westberliner Institut zu leiten.
Diese Ereignisse sind hier hervorgehoben, weil sie einerseits das Thema der „Zweigleisigkeit“ der Psychotherapieentwicklungen in Ost und West markieren, zum anderen – und dies wird auch in der weiteren Entwicklung eine Rolle spielen – die Thematik der Aus- bzw. Abgrenzung zwischen den beiden deutschen Staaten hervorheben.
Bereits vor der Gründung der DDR gab es Versuche, die Psychotherapie wieder zu institutionalisieren, was sich zum einen in der Gründung von Regionalgesellschaften für Neurologie und Psychiatrie widerspiegelte, zum anderen in der Gründung der Zeitschrift
Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie, die später das wichtigste Mitteilungsorgan auch der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (GÄP, ab 1989 Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie, GPPMP) der DDR war (Teitge und Kumbier
2015). Die erste Beratungsstelle dieser Zeit war zunächst am Ostberliner Haus der Gesundheit angesiedelt. Mit dem Haus der Gesundheit wurde eine Versorgungseinrichtung mit dem Charakter einer Poliklinik etabliert, die auch in den folgenden Jahren von großer Bedeutung war.
Mit der Gründung der DDR am 07.10.1949 beginnt ein Jahrzehnt, das Geyer (
2011) mit der Überschrift „
Pawlow und die Folgen“ treffend beschreibt. Ursächlich hierfür ist die „Pawlow-Konferenz“ der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau. Hier wurden die Weichen für eine „Theorie der Psychotherapie“ basierend auf der „kortico-viszeralen Pathologie“ geschaffen, mit der man sich auch gegen die angloamerikanische Psychosomatik abgrenzen wollte. Bei einer Pawlow-Tagung in Leipzig 1953 wurde die Psychoanalyse als „wissenschaftsfeindlich und antihuman“ angeprangert (Geyer
2011, S. 92). Aus der Pawlow’schen Lehre erwuchs die sog. Schlaftherapie, die in den Folgejahren in der DDR für eine begrenzte Zeit als ein Standardverfahren zur Behandlung psychischer Krankheiten angewandt wurde. Den größten Teil der Therapie nimmt ein medikamentös induzierter Schlaf ein, der sich während eines Zeitraums von 2 bis 6 Wochen über die allermeisten Stunden des Tages erstreckt und Patient:innen dazu bringen sollte, Ruhe und Erholung zu finden, Funktionsstörungen zu reduzieren und ihre Lebenseinstellungen zu modifizieren (Scholz und Steinberg
2011).
Wichtig für diese Zeit erscheint unter dem Aspekt der Möglichkeiten einer frühen Integration der Psychotherapie in Ost und West, dass die DGPT 1950 in Braunschweig den Beschluss fasste, dass „die in der Ostzone lebenden Mitglieder“ keine Aufforderung zum Beitritt in die Fachgesellschaft erhalten sollten (Bernhardt und Lockot
2000). Eine Klammer zwischen Ost und West stellte interessanterweise eine Zeit lang die Psychotherapiewoche in Lindau unter Leitung von Ernst Speer dar (der seinen Jenaer Lehrstuhl aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft zuvor verloren hatte; Mettauer
2010). Bis zum Mauerbau wurde die Lindauer Psychotherapiewoche regelmäßig von Psychotherapeut:innen aus der DDR (z. B. von Gerhard Klumbies; Strauß
2004) besucht.
Wesentliche und richtungweisende Aspekte zur Etablierung einer Psychotherapie in der DDR in den Jahren nach 1949 waren die Entwicklung eigenständiger Psychotherapiekonzepte (z. B. die „Rationale Psychotherapie“ durch Müller-Hegemann), die Weiterentwicklung bestehender (z. B. der Hypnose in Jena), aber auch neuer Ansätze (z. B. Psychotherapie in der inneren Medizin ebenfalls in Jena) und die zunehmende Gründung von psychotherapeutischen Abteilungen in Kliniken (beginnend mit der Universitätsklinik in Leipzig im Jahr 1953).
In den 1960er-Jahren war sicherlich bedeutsam, dass sich die akademische Psychologie der DDR neu organisierte. Die klinische Psychologie wurde in erster Linie in Leipzig repräsentiert, aber auch in Berlin, dem Institut, das Friedhart Klix leitete und an dem Johannes Helm und später Inge Frohburg die Gesprächspsychotherapie in der DDR (über enge Kontakte mit dem Hamburger Ehepaar Reinhard und Annemarie Tausch) etablieren konnten. Frohburg hat kürzlich noch einmal die Möglichkeiten des Lehrens und Lernens verschiedener Psychotherapiemethoden im Kontext der akademischen Psychologie und der Medizin beschrieben und kontrastiert und gezeigt, dass die Gesprächspsychotherapie und die Verhaltenstherapie stark am psychologischen Institut der HU Berlin und weniger in medizinischen Kliniken gelehrt wurden (Frohburg
2022). Die Arbeits- und Ingenieurspsychologie war in Berlin und Dresden lokalisiert, die pädagogische Psychologie in Leipzig und die Sozialpsychologie an der Universität Jena.
In den 1960er-Jahren entstand in der DDR-Psychotherapie mit der Einführung der Gruppenpsychotherapie durch Kurt Höck als eine zentrale psychotherapeutische Option eine weitere Neuerung. Höck entwickelte am Berliner Haus der Gesundheit die „Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie“, die sich von hier aus in alle Bezirke der DDR ausbreiten sollte. Mit der Bildung von Selbsterfahrungskommunitäten für die Ausbildung in dieser Methode konnten sich Psychotherapeut:innen auch über die Grenzen zu anderen sozialistischen Ländern verständigen und mit ihnen arbeiten. Der von Annelise Heigl-Evers unternommene Versuch, einen gesamtdeutschen Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik zu initiieren, gelang allerdings nicht, wobei dennoch von Anfang an und regelmäßig Kontakte zwischen ost- und westdeutschen Gruppenpsychotherapeuten bestanden (Bernhardt und Lockot
2000).
Geyer (
2011) beschreibt in seiner Chronik der 1970er-Jahre einen ernsthaften Versuch der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK der SED im Februar 1971, im Kontext einer Veranstaltung in Brandenburg unter dem Titel „Fragen der ideologischen Situation in den Fachgebieten Psychiatrie/Neurologie und Psychologie“ die Fächer zu ideologisieren und nach sowjetischem Vorbild zu gestalten. Nach dem Bericht von Geyer stieß dieser Vorstoß auf geschlossenen Widerstand der damaligen „Hochschullehrer und Chefärzte“, die „vorwiegend der SED angehörten“. Harro Wendt (Psychotherapeut an der Klinik Uchtspringe) wird mit dem Satz zitiert: „Psychotherapie in Ostdeutschland und Westdeutschland sei ja doch das Gleiche“.
Die 1970er-Jahre führten insofern zu einer gewissen Internationalisierung, als der 1971 gefasste Plan, die Psychotherapeut:innen der sozialistischen Länder in einer Arbeitsgruppe zu vereinigen, 1973 mit einem Symposium in Prag realisiert wurde. So kamen die ostdeutschen Psychotherapeut:innen in engeren Kontakt mit Kollegen der sozialistischen Länder, die dort bis zum Ende des Warschauer Pakts eine wesentliche Rolle spielten. Hierzu gehörten Leder in Warschau, Alexandrowicz in Krakau, Kabanov in St. Petersburg, Harmatta in Budapest oder Kratochwil in der CSSR.
Die GÄP konnte 1971 auch Mitglied in der von Carl Gustav Jung gegründeten International Federation for Medical Psychotherapy (IFP) werden.
Das Jahrzehnt könnte man rückblickend auch als eine Zeit der beginnenden Verfahrensvielfalt bewerten, wurden doch beispielsweise Arbeitsgruppen für Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie
1 in der GÄP gegründet sowie Diskussionen intensiviert, die sich mit der Frage beschäftigten, ob „die Zeit reif sei, psychoanalytisch orientierte Psychotherapieverfahren, die bereits angewendet werden, offiziell auch als solche zu bezeichnen“ (Geyer
2011, S. 252). Diese Diskussion wurde in den Folgejahren weitergeführt und resultierte 1982 in der Bildung einer Sektion „dynamische Einzeltherapie“ unter Beteiligung einiger maßgebender Psychotherapeuten (Wendt, Kerber, Kulawik, Maatz, Tögel und Tscharntke). Geyer (
2011) berichtet, dass der Vorstand der GÄP bereits 1979 die Gründung einer entsprechenden Sektion mit den Arbeitsgemeinschaften Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Psychotherapie vorschlug. In einer späteren Sitzung wurde Letzteres dann in „persönlichkeitszentrierte Psychotherapie“ umbenannt, wobei der Vorschlag insgesamt letztlich nicht aufgegriffen wurde.
Eine Sektion soziotherapeutischer Methoden, die Musik‑, Bewegungs‑, Biblio- und gestaltungstherapeutische Verfahren umfassen sollte, wurde dagegen realisiert, wobei Geyer anmerkt, die Sektionsgründung sei „kein Erfolg“ (Geyer
2011, S. 255) geworden.
Geyer nennt die 1960er-Jahre in seinem Buch die Epoche der „beginnenden Institutionalisierung“, die 1970er-Jahre die Zeit der „Methodenentwicklung und des Aufbaus der stationären Versorgung“ und überschreibt die Chronik der 1980er-Jahre mit dem Titel „Wege der Emanzipation“.
Diese Emanzipation zeigt sich tatsächlich an unterschiedlichen Ereignissen – beginnend mit der Organisation des Weltkongresses für Psychologie in Leipzig (1980) – durch den die Psychologie der DDR deutlich aufgewertet wurde (Lück
2021). Es wurden weiterhin psychotherapeutische Techniken und Ansätze in das System integriert (beispielsweise das Katathym-Imaginative Bilderleben durch Heinz Hennig in Halle). Bemerkenswert ist sicher die 1981 erfolgte Einführung des „Fachpsychologen der Medizin“, der sowohl bezüglich der Weiterbildungsdauer als auch des Status mit den ärztlichen Psychotherapeut:innen absolut gleichberechtigt war
2. Im Vergleich zu Westdeutschland wurde ein Facharzt für Psychotherapie in der DDR schon viel früher eingeführt, 1978 als Zweitfacharzt und 1989 als Erstfacharzt. Mitte der 1980er-Jahre begannen zunehmende Kontakte zu westdeutschen Kollegen, zu denen u. a. Carl Nedelmann, Hans Kordy, Wolfgang Senf, Elmar Brähler, dann aber auch Horst Kächele und Helmuth Thomä zählten. Diese Kollegen hielten Vorträge, die teilweise auch in der DDR publiziert wurden (z. B. Brähler
1985a, b). Es wurde nun, nachdem die Psychoanalyse anfangs als unwissenschaftlich diffamiert wurde, offener über die Psychoanalyse diskutiert (Leppert
2012a). Im September 1987 fand das internationale Psychotherapie-Symposium in Erfurt statt, das Geyer u. a. veranstalteten und an dem bereits 250 westdeutsche bzw. Westberliner Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten teilnehmen konnten. Geyer sagt vermutlich zu Recht, dass bei diesem Symposium eine „vorgezogene Wiedervereinigung der Psychotherapeuten“ (S. 469) stattgefunden hätte, da auf der Basis der Begegnungen unmittelbar nach der Wende beispielsweise die Gründung von Ausbildungsinstituten ermöglicht worden sei. Zu diesem Zeitpunkt konnten sich ostdeutsche Psychotherapeut:innen schon rege an (internationalen) Tagungen in Westdeutschland beteiligen, so am 18th Meeting der Society für Psychotherapy Research in Ulm (1987) oder an der 17th European Conference for Psychosomatic Medicine in Marburg (1988).
1988 wurden Werner König und Michael Geyer nach Wien eingeladen und von Harald Leupold-Löwenthal im Freud-Museum begrüßt. Nach einem Vortrag über die Entwicklung der Psychotherapie in der DDR wurde den beiden mitgeteilt, dass die Haltung des Vorstands der International Psychoanalytic Association (IPA) selbst gegenüber einer provisorischen Mitgliedschaft einer ostdeutschen Vereinigung ablehnend sei.
Im Jahr der friedlichen Revolution erscheint erwähnenswert, dass angesichts der Interdisziplinarität der DDR-Psychotherapie, die immer durch einen hohen Anteil an Psycholog:innen gekennzeichnet war, über die Umbenennung der GÄP in eine Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) der DDR diskutiert wurde. Trotz einiger Widerstände (auch der Gesellschaft für Psychologie, die die medizinische Psychologie „für sich beanspruchte“) wurde dies beschlossen.
Im November 1989 fand – beginnend einen Tag vor dem Fall der Mauer – die Tagung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM) in Gießen statt. Die Tagung stand verständlicherweise ganz im Zeichen der politischen Geschehnisse, aber auch der Planung einer engeren Zusammenarbeit zwischen Ost und West.
Bereits im Jahr 1990, also noch vor dem offiziellen Beitritt, wurden die Strukturen bezüglich der Psychotherapie aus der BRD übernommen. Während sich nahezu alle wissenschaftlichen Fachgesellschaften mit dem Beitritt auflösten, existierte die GPPMP noch Jahre über den Beitritt hinaus. Wie aus der Tabelle hervorgeht, hatte der Beitritt sehr rasch und sehr vehement einen Einfluss auf die Psychotherapie im Osten, von dem nachfolgend nur einige Facetten skizziert werden können.
Effekte der Vereinigung auf die Psychotherapie
„Die Wende und Nachwendezeit“ (so überschreibt Geyer den letzten großen Abschnitt in seinem Buch) ist durch den „Anschluss“ der Vertreter:innen der verschiedenen Psychotherapiemethoden an die westdeutschen Verbände gekennzeichnet. Bereits 1990 wurde in Leipzig mit dem Sächsischen Weiterbildungskreis das erste psychoanalytische Institut im Osten gegründet; weitere Institutsgründungen folgten in den kommenden Jahren, wobei die Institute erst nach der Jahrtausendwende vollständig in die analytische Dachgesellschaft der DGPT aufgenommen wurden.
Bezüglich der Versorgungsstrukturen wurde relativ rasch daran gearbeitet, die poliklinischen Institutionen abzuwickeln, was zu einer Niederlassungsschwemme auf dem Feld der Psychotherapie führte. Bekanntlich ist die Idee der Poliklinik Jahre später durch die Konzeption der medizinischen Versorgungszentren in das bundesdeutsche Gesundheitssystem zurückgekehrt.
Die im Osten offensichtlich relativ hoch gehaltene Gleichberechtigung von Ärzten und Psycholog:innen, die sich in dem erwähnten Fachpsychologen der Medizin reflektiert, konnte letztlich nicht konsequent weitergeführt werden, was sich z. B. daran zeigt, dass die AÄGP 1991 bei einer Diskussion über die potenzielle Fusion mit der GPPMP die Aufnahme von Psycholog:innen ablehnte.
Dass die „Wiedervereinigung der Psychotherapeuten“ nach wie vor ein relevantes Thema ist, zeigte eine Tagung zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in Erfurt im Jahr 2019. Geyer und Geisthövel (
2019) versuchten zu diesem Anlass, Thesen zu formulieren, die sich speziell auf die Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten der ost- und westdeutschen Psychotherapie beziehen. Die Thesen konstatieren das gemeinsame Fundament der Disziplin „Psychotherapie“, wie sie zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gewachsen und auch nach dem Zusammenbruch des Naziregimes erhalten geblieben sind, aber auch die gemeinsame Ausgangssituation der „geteilten Schuld“ an der Vertreibung jüdischer Psychotherapeut:innen im Dritten Reich und die Kollaboration von Psychotherapeut:innen (und Psychiater:innen) bei der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Nach 1945, so eine These, hätte sich Psychotherapie rasch auf beiden Seiten in das jeweilige Sozialsystem integriert (Polikliniken im Osten, flächendeckende ambulante Versorgung nach Festlegung der Richtlinientherapie im Westen; östliche stationäre Abteilungen nach westlichem Vorbild allerdings mit mehr Behandlungskapazität). Aufgrund der gesellschaftlichen Unterschiede kam es zwar zu Unterschieden in den Versorgungs- und Bildungsstrukturen, Gemeinsamkeiten blieben dennoch über die Zeit der Wiedervereinigung enthalten, wie beispielsweise die Bedeutung der stationären Psychotherapie (die vermutlich weltweit in ihrem Umfang in Gesamtdeutschland einzigartig ist), die langjährige Dominanz der psychodynamischen Psychotherapie speziell in der ärztlichen Psychotherapie und Prinzipien einer gestuften psychotherapeutischen Versorgung. Geyer und Geisthövel (
2019) sind sich einig, dass im Prinzip alle im Westen entstandenen Verfahren mehr oder weniger auch im Osten übernommen worden seien. Sicher gehört zu den gesellschaftlichen Spezifitäten, dass „die autoritäre Staatsgewalt und Staatsicherheit nahezu in alle Bereiche auch der Psychotherapie in der DDR eingedrungen“ waren und damit auch die Patient-Therapeut-Beziehung beeinflussten. Neben den inakzeptablen Formen der Kollaboration sehen die Autor:innen allerdings auch, dass der gesellschaftliche Nischencharakter der Psychotherapie „Schutzräume“ gewährt hätte, was dazu führte, dass – wie Geyer und Geisthövel meinen – „Psychotherapeuten eine aktive Rolle in jenem gesellschaftlichen Prozess gespielt [hätten], der zur politischen Wende und zum Zerfall der DDR-Diktatur geführt hat“. Die Orientierung an westlichen Entwicklungen in den letzten 10 Jahren der DDR (s. beispielsweise die oben genannten Tagungen) und ein „gesellschaftlicher Großtrend der Therapeutisierung“, der auch den Ostblock sehr geprägt hätte, hätten nach Meinung der Autor:innen dazu beigetragen, dass die Wiedervereinigung von Psychotherapeut:innen vergleichsweise einfach gewesen sei. Dies sollte aber nicht verschleiern – und dies war ein wiederkehrendes Thema der genannten Tagung im Jahr 2019 –, dass es im „Prozess der Annährung und Vereinigung durchaus auch verpasste Chancen“ gegeben hat und keineswegs nur „zusammengewachsen ist, was zusammengehört“.