Einleitung
Seit einigen Jahren befinden sich digitalisierte Verfahren des Prozessmonitorings in Psychotherapie und Psychosomatik im Routinebetrieb. Ihre Nutzung gilt inzwischen als Merkmal von „good practice“ [
5], wobei es durchaus Unterschiede in der Vorgehensweise und in der Logik der Anwendungen gibt. Die hier vorgestellte Methodik, die sich seit etwa 15 Jahren im Praxiseinsatz befindet, versucht, den hoch dynamischen, komplexen und nur sehr begrenzt vorhersehbaren Verlaufsmustern von Psychotherapie gerecht zu werden und der individuellen Entwicklung der einzelnen Patienten zu folgen. Diese als „Personalisierung“ oder „Individualisierung“ der Psychotherapie bekannte Entwicklung geht davon aus, dass Therapieprozesse keinen (z. B. diagnosespezifischen) Standardverläufen („standard tracks“) folgen [
12] und sehr persönliche Schwerpunktsetzungen erfordern, die sich an unterschiedlichen Therapiezielen, Lebenssituationen, Kompetenzen und Ressourcen der Patienten sowie transdiagnostischen Konglomeraten von Problemen und Symptomen orientieren.
Den theoretischen Hintergrund hierfür bieten die Komplexitätswissenschaften, vor allem Synergetik und Chaostheorie, die sich mit der Erklärung und Analyse von Selbstorganisationsprozessen in komplexen Systemen befassen [
4]. Um diesen theoretischen wie auch praktischen Ansprüchen zu genügen, sollten Verfahren des Prozessmonitorings ein breites Spektrum von veränderungsrelevanten Faktoren erfassen (nicht nur Symptome), im Idealfall auch rein personenspezifische Faktoren, die genau auf einen individuellen Patienten zutreffen, und es sollten auch frei wählbare Abtastraten möglich sein, wobei sich tägliche Selbsteinschätzungen inzwischen bewährt haben.
Fallbeispiel
Die Patientin (Frau A.) war eine 37-jährige Frau, die lange in einer Steuerkanzlei gearbeitet hatte (für eine umfassende Darstellung dieses Falls s. [
10]). Nach mehreren Partnerschaften mit Männern, in denen sie oft sadistische Gewalt erlitten hatte, lebte sie in einer lesbischen Beziehung mit einer gleichaltrigen Frau. Trotz langjähriger Traumatisierungen seit Kindheit war sie in den 15 Jahren ihrer engagierten Berufstätigkeit in der Lage, ein geordnetes Leben zu führen, was sich mit Ende der Anstellung, bedingt durch eine Fremdübernahme „ihrer“ Kanzlei, drastisch geändert hatte. Dominant wurden nun Selbstverletzungen, wechselnde dissoziative Persönlichkeitszustände, die füreinander amnestisch waren, Unkonzentriertheit und Gefühle von Derealisation (Diagnosen: „komplexe dissoziative Störung“ und „Borderline-Persönlichkeitsstörung“). Neben den klinischen Auffälligkeiten war sie von der Sorge erfüllt, jemals wieder ein gesundes Leben führen und eine eigene, klare Identität entwickeln zu können.
Am Beginn ihrer tagesklinischen Behandlung nannte Frau A. im Ressourceninterview folgende Herausforderungen: „Abgrenzung von Geräuschen und Störstimmen“ (gemeint sind nicht psychotische Stimmen, sondern übermäßig störend und als in sie eindringend empfundene Stimmen von realen Personen), „Stabilität im Leben“, und „Arbeit finden“. Von dieser letztgenannten Herausforderung, die sie seit ihrem Berufsausstieg intensiv beschäftigte, sollte sie sich im Laufe der Therapie allerdings verabschieden.
Die Patientin erarbeitete zusammen mit ihrer Therapeutin ein
idiographisches Systemmodell, welches die für sie relevanten psychologischen Aspekte und deren Wechselwirkungen beinhaltete (dargestellt in [
10]). Die Komponenten eines Systemmodells sind „Variablen“, also Größen, deren Ausprägung sich in der Zeit verändert. Sie bezeichnen intraindividuelle oder interpersonelle Aspekte eines bio-psycho-sozialen Systems, z. B. Kognitionen, Emotionen, Motive, Verhaltensweisen, physiologische Zustände und Ähnliches. Diese Variablen bildeten die Grundlage für ihren persönlichen Prozessfragebogen, den sie zusammen mit ihrer Therapeutin am Fragebogeneditor des SNS entwickelte und im Laufe der Therapie mithilfe der SNS-App (Center for Complex Systems, Stuttgart, Deutschland) täglich ausfüllte (Tab.
1). Daraus ergab sich eine visuelle Darstellung des Veränderungsprozesses.
Tab. 1
Die Items des personalisierten Fragebogens der Patientin, eingeteilt in die Kategorien „Stress und Stressverarbeitung“ (entspricht dem „Kind-State“, „Faktor 1“) und „Positive Ziele und Identitätsentwicklung“ (entspricht dem „Erwachsenen-State“, „Faktor 2“)
Stress und Stressverarbeitung (Entspricht dem Ego-State „Kind“) | Heute habe ich Stress erlebt |
Heute war es notwendig, mein Kopfkino zu aktivieren |
Heute bin ich weggesaust – dissoziiert |
Heute war es für mich wichtig, alleine zu sein |
Heute wurde ich von der Depression mitgerissen |
Der Impuls zur Selbstverletzung war für mich heute … |
Das Gedankenkreisen war für mich heute … |
Die Störstimmen waren für mich heute … |
Mein Aggressionspegel war heute … |
Mein Wutpegel war heute … |
Heute fühlte ich mich überfordert |
Mein Bedürfnis nach Abgrenzung war heute … |
Positive Ziele und Identitätsentwicklung (entspricht dem Ego-State „Erwachsene“) | Meine Belastbarkeit war heute … |
Mein Gefühl der inneren Sicherheit war heute … |
Mein Empfinden von Selbstständigkeit war heute … |
Das Gefühl für meine innere Identität war heute … |
Mein Gefühl der Erleichterung war heute … |
Meine Teilnahme am sozialen Leben war heute … |
Frau A. brachte das Blatt, auf dem „ihr“ Modell dargestellt war, in den darauffolgenden Therapiesitzungen immer wieder mit – es sei die „Landkarte ihrer Seele“. Es machte ihr verständlich, wie die Aktivierungsmuster ihres Erlebens „funktionierten“ und welche Kognitionen, Emotionen und Verhaltensweisen wie getriggert wurden. Im Laufe dieser Arbeit wurde ihr klar, dass bestimmte Variablen bzw. Erlebnisaspekte bestimmten Ego-States oder Ich-Zuständen entsprachen. Im Unterschied zum Alltagserleben, in dem diese States wie zufällig wechselten und oft füreinander amnestisch waren, lagen sie hier nun synoptisch vor Augen. Damit war auch eine vertiefte traumafokussierte Therapie und States-Arbeit möglich, von der sie gut profitierte.
Die Patientin entwickelte zusammen mit ihrer Therapeutin ihren eigenen Prozessfragebogen
Die von der Patientin vorgenommene Einteilung der Fragen (Items) in zwei Kategorien („Faktoren“) wurde in der weiteren therapeutischen Arbeit relevant. Es sollte sich zeigen, dass die beiden Kategorien genau den beiden für sie dominanten „Ego-States“ entsprachen – einem „Kind-State“ und einem „Erwachsenen-State“. Im ersten Drittel der Therapie realisierten diese beiden States eine alternierende Dynamik, d. h. sie schlossen sich gegenseitig weitgehend aus. Das gegenläufige Muster ist sowohl in den Zeitreihen (Abb.
1) als auch im Rohwerte-Resonanzdiagramm erkennbar (Abb.
2a). In dieser Phase waren vor allem die Items des Faktors 1 („Kind-State“) von starken Fluktuationen geprägt, was sich im Komplexitäts-Resonanz-Diagramm (Abb.
2b) deutlich zeigt.
Die alternierende Rhythmik manifestierte sich auch in den Korrelationsmustern der Items. Im ersten Drittel der Therapie waren die Items der beiden Faktoren (States) deutlich synchronisiert (positiv korreliert) und die Verläufe der Items des jeweils anderen Faktors antisynchronisiert (negativ korreliert) (Abb.
3a). Die alternierende Dynamik der beiden dominanten Ego-States drückte sich auch in einer hohen durchschnittlichen Inter-Item-Korrelation (gemittelt über die Absolutwerte der Korrelationen, also ohne Berücksichtigung des Vorzeichens) aus (Abb.
4b), mit einem Maximum kurz vor dem Phasenübergang (Markierung 1). Dies entspricht der in ganz unterschiedlichen Systemen auftretenden gesteigerten Synchronisation von Systemkomponenten oder Subsystemen während kritischer Instabilitäten kurz vor Phasenübergängen [
2,
4, S. 411 ff.,
8]. Die beiden Faktoren „versklaven“ in dieser Zeit als die dominanten Ordner das Erleben. Danach löst sich die pathologische Übersynchronisation auf (vgl. Abb.
3a, b).
Im Verlauf der Therapie ereigneten sich zwei bedeutsame Musterwechsel („Phasenübergänge“). Im ersten Drittel des Erfassungszeitraums war jeder Tag mehr oder weniger deutlich von einem der States geprägt – ein Muster, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt (Markierung 1 in Abb.
2 und
4) fast schlagartig änderte. Direkt davor trat eine maximale Fluktuation in Richtung Stresserleben (Abb.
1) auf, welche sie subjektiv als Identitätskrise wahrnahm. Auch in der wöchentlich ausgefüllten Depressions-Angst-Stress-Skala (DASS 21; [
6]) ist eine deutliche Zunahme ihres Depressions- und Stresserlebens vor dem Musterwechsel erkennbar (Markierung 1 Abb.
4a).
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Patientin beschlossen, sich von dem Druck, am ersten Arbeitsmarkt tätig sein zu wollen, zu verabschieden. Dies war bisher eines ihrer zentralen Themen gewesen und auch im Ressourceninterview noch als wichtige Herausforderung benannt. Der Entscheidungsprozess wurde eingeleitet von einem attraktiven beruflichen Angebot, das sie bekommen hatte. Nach mehreren Tagen der Ambivalenz (Abb.
4a) und innerer Konflikte entschied sie sich dagegen und erlebte dies als Befreiungsschlag. Es war ihr gelungen, auf ihre innere Stimme und auf ihre Bedürfnisse zu hören, anstatt sich immer wieder in verschiedene Ansprüche „hineinzupeitschen“.
Dieser wie viele andere Therapieverläufe sind durch spontane Musterwechsel (Phasenübergänge) geprägt
Zugleich hatte sie bis dahin schon intensiv an den hinter den States liegenden Traumatisierungen gearbeitet (z. B. am Zusammenhang zwischen den Störstimmen und den Gewalterfahrungen in ihren früheren Beziehungen) und sich mit den im Systemmodell erarbeiteten psychischen Funktionsmechanismen ihrer Statedynamik beschäftigt. In den Zeitreihen fast aller Aspekte ihres Erlebens war diese Veränderung deutlich erkennbar (Abb.
1,
2,
3,
4 und
5). Im weiteren Verlauf fand ein zweiter Phasenübergang statt, aber weniger deutlich als der erste. Er bezog sich auf Konflikte mit ihrer Lebenspartnerin und akzentuierte die Entwicklung, die nach dem ersten Musterwechsel eingesetzt hatte. Unterstützt durch mehrere Therapiegespräche ging sie nicht regressiv, sondern progressiv aus der Krise hervor. In der Meta-Korrelationsmatrix (Korrelation der sequenziellen Korrelationsmuster) wird deutlich, dass sich das von den beiden States geprägte Muster danach völlig auflöste (Abb.
5).
Frau A. setzte die Arbeit mit ihrem Prozessfragebogen noch einige Wochen nach der Entlassung aus der Tagesklinik fort, welche sich in den Verläufen übrigens kaum bemerkbar machte. Insgesamt nahm sie 138 Tage am Therapiemonitoring teil. Aus ihrer Sicht waren die Arbeit mit ihrem persönlichen Fragebogen und die regelmäßigen Therapiegespräche, die konsequent auf die Verlaufsmuster und auf ihr Systemmodell Bezug nahmen, sehr hilfreich und motivierend.
Perspektiven
Die Möglichkeiten des SNS liefern in verschiedener Hinsicht die Grundlage für eine personalisierte oder individualisierte Psychotherapie. Jenseits von Manualen wird der Prozess von Patient*innen und Therapeut*innen gemeinsam auf der Basis von Prozessdaten reflektiert und gesteuert, im Sinne von shared decision making und der Unterstützung von Selbstmanagement und Selbstwirksamkeit der Patient*innen. Effekte in Richtung verbesserter Selbstreflexion, Veränderungsmotivation, Emotionswahrnehmung und -regulation sowie anderer therapiefördernder Bedingungen beruhen sowohl auf den täglichen Selbsteinschätzungen als auch auf den wiederholten feedbackbasierten Therapiegesprächen. In welchem Umfang bei welchen Patient*innen derartige Effekte auftreten und wie sie vermittelt werden, sollte in Zukunft allerdings näher untersucht werden. Hierzu sind eine umfassende Nutzerbefragung (von Therapeut*innen wie von Patient*innen) und eine randomisierte kontrollierte Studie in Arbeit.
Erfahrungen in unterschiedlichen Arbeitsfeldern (Kliniken, Tageskliniken, ambulante Psychotherapie) machen deutlich, dass die Motivation von Patient*innen, sich hochfrequent über längere Zeiträume am Prozessmonitoring zu beteiligen, sehr hoch ist. Complianceraten liegen zwischen 80 und 100 % (z. B. [
7]). Die Digitalisierung des Vorgehens macht es auch leicht, im Rahmen von Onlinetherapien eingesetzt zu werden und diese zu optimieren.
Schließlich erleichtert vor allem die Technologie des SNS die Durchführung praxisnaher Forschung. Jede Therapie produziert eine Einzelfallstudie, wobei Einzelfälle leicht zu umfassenden Prozess-Outcome-Studien aggregiert werden können (practice-based evidence). Das Problem begrenzter Fallzahlen, mit dem wir bei der Durchführung von Studien meist konfrontiert sind, könnte mit einem flächendeckenden Einsatz von Prozess-Outcome-Monitoring gelöst werden. Die Welten von Einzelfallforschung und Big Data ließen sich vereinen.
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