01.05.2022 | Psychotherapie | Placebo, Nocebo, Patientenerwartungen - Editorial
Was kann die Psychotherapie vom Placeboeffekt lernen?
verfasst von:
Prof. Dr. Winfried Rief
Erschienen in:
Die Psychotherapie
|
Ausgabe 3/2022
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Auszug
In den Placebogruppen von klinischen Studien zeigen sich z. T. beeindruckende Effekte. Verbesserungen um 10 oder mehr Punkte in der Hamilton-Depressionsskala oder im Beck-Depressionsinventar sind bei Depressionsstudien nicht selten (Leuchter et al.
2014; Stahl et al.
2010), sodass die starken Placeboeffekte auch dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Wirksamkeitsnachweise für Medikamente insbesondere im Bereich der Psychopharmaka immer schwieriger werden. In der Tat zeigen sich auch über die Jahre hinweg eher ansteigende positive Effekte in den Placebogruppen, zumindest im Bereich Depression (Rief et al.
2009a). Gründe können die intensivere Betreuung von Patientinnen und Patienten, ein verbessertes Monitoring, aber auch eine kritischere Analyse von Effekten sein. Im Gegenzug finden sich auch in den Placebogruppen starke Negativeffekte (Noceboeffekte), und der Anteil der berichteten Nebenwirkungen in den Placebogruppen ist substanziell (z. B. Amanzio et al.
2009; Rief et al.
2009b). Großes Aufsehen erreichte entsprechend eine jüngst veröffentlichte Metaanalyse, die zeigte, dass selbst in den Placebogruppen bei den Studien zur Impfung gegen die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) substanzielle Nebenwirkungen beschrieben werden; diese wiesen häufig ein ähnliches Muster wie die erwarteten häufigsten Nebenwirkungen der Impfstoffe auf (Haas et al.
2022). Wenn die in den Placebogruppen ablaufenden Effekte jedoch so stark sind, stellt sich die Frage, ob sie nicht auch systematisch zum Wohle von Patientinnen und Patienten eingesetzt werden können. Dazu ist es jedoch notwendig, sich auf die Analyse der beteiligten Mechanismen zu konzentrieren. …