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Erschienen in: Rechtsmedizin 3/2023

08.05.2023 | Medizinrecht

Rechtsmedizin zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung

Zur Festlegung der Grenze alkoholbedingter Fahrunsicherheit

verfasst von: RiBGH a.D. Kurt Rüdiger Maatz

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 3/2023

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Auszug

Die Rechtsmedizin findet ihren Standort zwischen gesetzlichen Regelungen und ihrer Anwendung in der Rechtsprechung. Das gilt auch und gerade im Zusammenhang mit dem Kraftverkehr: Wie offensichtlich trägt der Kraftverkehr, dieser „Rechtsraum des erlaubten Risikos“, ein immenses Gefährdungspotenzial in sich. Vieles von diesem Risiko ist sicherlich dem System an sich, dabei v. a. der Technik geschuldet. Doch dürfte die größte Gefahr im Menschen selbst liegen, in seiner Sorglosigkeit und Selbstüberschätzung im Umgang mit dem „gefährlichen Werkzeug“ Kraftfahrzeug. Dieses Gefahrenpotenzial gilt es zu „bändigen“, präventiv durch Aufklärung über die Gefahren, wie sie etwa durch den Konsum von Alkohol und anderen berauschenden Mitteln entstehen, aber auch repressiv durch Ermittlung von Fehlverhalten und Unfallursachen und deren Ahndung. Zu diesen Aufgaben leistet die Rechts- und Verkehrsmedizin seit jeher einen unverzichtbaren Beitrag. …
Fußnoten
1
Nehm, Grußwort auf dem Symposium zum 70. Geburtstag von U. Heifer am 11.10.2000; BA 2001, Suppl. S. 15.
 
2
Vgl. die Nachweise zur unterschiedlichen Einschätzung der Rolle des Sachverständigen bei Meyer-Goßner StPO 49. Aufl. vor § 72 Rdnr. 8.
 
3
Heifer, Abschiedsvorlesung (unveröffentlicht) Bonn, 04.03.1996; zitiert bei Maatz, Symposium zum 70. Geburtstag von U. Heifer am 11.10.2000; BA 2001, Suppl. S. 40 f.: „Der wissenschaftliche Auftrag an die Rechtsmedizin ergibt sich … aus der Forderung der Rechtsprechung, allgemein anerkannte und wissenschaftlich gesicherte Erfahrungssätze zu erarbeiten und anzuwenden, an die die Rechtsprechung nach höchstrichterlicher Auffassung gebunden ist“.
 
4
BGHSt 37, 98.
 
5
Zur Gesetzgebungsgeschichte näher Maatz BA 2001 Suppl. S. 40 ff.
 
6
Zitiert wird in BGHSt 5, 168, 170 ff. ferner das Lehrbuch von Dettling-Schönberg-Schwarz.
 
7
BGHSt 10, 265, 269.
 
8
Nur 2 Jahre später, im März 1959, konnte der 4. Strafsenat des BGH die Rechtsprechung auf der Grundlage der neueren veröffentlichten medizinischen Erkenntnisse den Grenzwert absoluter Fahruntüchtigkeit für Kradfahrer auf 1,3 ‰ festlegen (BGHSt 13, 278; bestätigt in BGHSt 13, 83). Als rechtsmedizinische Literatur werden in den Entscheidungen u. a. zitiert Berg, Ponsold, Gerchow/Schneble, Elbel/Schleyer, Dettling/Schönberg/Schwarz, Jarosch/Müller. Sehr viel später erst, nämlich 1986, vermochte sich der Senat – gestützt insbesondere auf die neueren Forschungsergebnisse von Schewe – unter Aufgabe seiner gegenteiligen Auffassung aus dem Jahr 1963 (BGHSt 19, 82) auch auf einen Grenzwert absoluter Fahruntüchtigkeit für Radfahrer von 1,7festzulegen (BGHSt 34, 133).
 
9
Anlage zur Kabinettsvorlage der Bundesminister der Justiz und für Verkehr vom 22.11.1960. Dieser Vorschlag konnte aber schon wegen der Diskontinuität nicht mehr umgesetzt werden, wurde aber weiterverfolgt und war in der 3. Wahlperiode in einer Kabinettsvorlage zum Entwurf eines 2. Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs in einem neu gefassten §316 StGB/Entw. enthalten.
 
10
Hintergrund dessen war, dass zwar das 2. Teilgutachten des Bundesgesundheitsamts (BGA) vorlag, demzufolge eine „absolute“ Fahruntüchtigkeit schon bei einer BAK von 1,0 ‰ vorliegen und deshalb der Grenzwert einschließlich eines Sicherheitszuschlages von 0,15 ‰ auf 1,2 ‰ festzusetzen sein sollte, aber das 3. Teilgutachten des BGA, das die Differenz zwischen tatsächlicher und gemessener BAK und damit die Größenordnung des Sicherheitszuschlags bestätigen sollte, noch ausstand. BTDrucks. IV/651 S. 4.
 
11
Zu BTDrucks. IV/2161 S. 5.
 
12
Zu BTDrucks. IV/2161 S. 1/2.
 
13
BGHSt 37, 89, 93.
 
14
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§§ 286 ZPO, 261 StPO) bedeutet keine Freistellung des Richters von jeglicher Bindung. Er ist, vielmehr, wie der BGH es einmal in einer frühen Entscheidung formuliert hat, „unter die Gesetze des Denkens und der Erfahrung gestellt und hat diese Gesetze bei der Feststellung von Tatsachen zu beachten“ (BGHSt 6, 70, 72). Für die Rechtsanwendung folgt daraus: Der Tatrichter hat gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse hinzunehmen; das sind indes nur solche, denen eine unbedingte, jeden Gegenbeweis mit anderen Mitteln ausschließende Beweiskraft zukommt; std. Rspr., BGHSt 10, 208, 211; Verf. BA 1095, 97, 99 f.
 
15
Zu allem Maatz, BA 2001, Suppl. S. 40 ff.
 
16
BGHSt 37 aaO. S. 93; Hentschel in Iffland/Hentschel NZV 1999, 489, 497 m.N.
 
17
BGHSt 36, 320, 325.
 
18
Vgl. BGHSt 13, 278, 279.
 
19
BGHSt 37, 89, 95.
 
20
Die „relative“ Fahrunsicherheit bildet zur „absoluten“ keinen Gegensatz; d. h., beide „Formen“ unterscheiden sich weder nach dem Grad der Trunkenheit und der Qualität der toxisch bedingten Leistungsminderung, sondern allein hinsichtlich der Art und Weise, wie der Nachweis der Fahruntüchtigkeit als psychophysischer Zustand herabgesetzter Gesamtleistungsfähigkeit zu führen ist. Vgl. BayObLG NZV 1997, 127, 128.
 
21
Std. Rspr.; ausdrücklich BGHSt 21, 157, 160.
 
22
Vgl. u. a. Kazenwadel/Vollrath in Krüger, Das Unfallrisiko unter Alkohol, 1995, S. 115 ff; dies. BA 1997, 344; dazu Iffland BA 1998, 258 ff.
 
23
Fischer StGB 57. Aufl. § 316 Rdnr. 15.
 
24
BGHSt 10, 265/266.
 
25
Hierzu unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG näher Maatz BA 2001 Suppl. S. 40, 44.
 
26
BVerfG NJW 1995, 125 und 1990, 3140.
 
27
Zuletzt grundlegend BGHSt 37, 231 (4. Strafsenat).
 
28
Gerchow in Festschrift für Sarstedt, 1981, S. 1; ders. in Drogenabhängigkeit, hrsg. von Oemichen u. a., 1992, S. 175, 178.
 
29
Schewe, BA 1991, 264, 265.
 
30
Zur Anwendung des Zweifelsgrundsatzes „in dubio pro reo“ bei §§ 20, 21 StGB vgl. Maatz StV 1998, 279 ff.
 
31
Foerster in Venzlaff/Foerster Psychiatrische Begutachtung, 2. Aufl., 1994, S. 225, 227, 229.
 
32
Gerchow/Heifer/Schewe/Schwerd/Zink BA 1985, 77, 99; Gerchow in Drogenabhängigkeit aaO. S. 182.
 
33
Vgl. dazu näher Maatz BA 1996, 233.
 
34
Zumal nicht einmal der Alkoholrausch sich am „Modell“ der von der Rechtsprechung definierten BAK-Grenzwerte „absoluter“ Fahrunsicherheit definieren lässt. Vgl. dazu Maatz in Bratzke/Neis (Hrsg) Rausch (1997) S. 63, 68 f.; ders. StV 1998, 279, 280 f.; ders. in Maatz/Wahl in BGH-FS zum 50jährigen Bestehen (2001) S. 531, 533 ff.
 
35
BGHSt 43, 66 (1. Strafsenat nach Anfrage bei den anderen Strafsenaten); Sachverständige vor dem Senat waren der Psychiater Prof. Dr. Kröber und der Rechtsmediziner Prof. Dr. Joachim.
 
36
Ausführlich dazu Maatz BA 1996, 233; ders. StV 1998, 279.
 
37
Maatz/Daldrup/Ritz-Timme/Mindiashvili/Hartung DAR 2015, 3 ff.; Daldrup zum AK III des 53. VGT 2015 in BA Bd. 52 (2015) S. 131; zum Thema „Strengere Regeln für alkoholisierte Radfahrer“ vgl. auch die Beiträge von Maatz, Huhn, Brockmann und Urban auf dem Symposium des BADS vom 02.06.2014 BA Bd. 51 (2014) Suppl. 2 ff.; ferner Ezlan/Luchmann/Hatz/Urban BA Bd, 52 (2015) S. 363 ff.; Scheffler BA Bd. 52 (2015) S. 72 ff.,.
 
38
BGHSt 34, 133: 1,7 ‰; von der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung unter Berufung auf die Absenkung des Sicherheitszuschlages auf den Grundwert um 0,1 ‰ durch den BGH in der 1,1 ‰-Entscheidung auf 1,6 ‰ festgelegt.
 
39
Die in der Politik aufgeworfene Fragestellung offenbarte allerdings ein grundlegendes Missverständnis der „Grenzwertrechtsprechung“. Denn diese beruht – wie ausgeführt – auf einer Würdigung von Beweistatsachen, die allein Sache der Gerichte und schon deshalb nicht dem Eingriff der Rechtspolitik zugänglich ist.
 
40
BA 1980, 298 ff; 1984, 97 ff; Schewe et al. stellten in dem Gutachten 1980 in den Fahrradversuchen bei 25 Probanden im BAK-Bereich um 1,3 gegenüber der Nüchternleistung einen Leistungsabfall um („nur“) 81,8 % (zum Vergleich: bei BAK um 0,8 ‰ um 76,2 %) fest (BA 1980, 298, 321); für ihr Gutachten 1984 wurden die (verbleibenden) 20 Probanden mit BAK im 1,5 getestet, die ausnahmslos durch Leistungseinbußen auffielen (BA 1984, 97, 108).
 
41
Eine exakte Festlegung des für den rechtlich maßgeblichen Wahrscheinlichkeitsgrad („mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“) zugrunde zu legenden Prozentsatzes mag offen sein; jedenfalls dürfte der Prozentsatz deutlich über 99 % liegen (müssen).
 
42
BGH 4 StR 386/16.
 
43
Achtes Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes vom 16.06.2017 BGBl I 1648, in Kraft getreten am 21.06.2017.
 
44
BGHSt 13, 83.
 
45
bereits BGHSt 5, 168 ff.
 
47
Im Geleitwort zur Festschrift 100 Jahre DGRM „Natürlich ist Rechtsmedizin, von ihrer Entstehung und Aufgabe her, ein anwendungsbezogenes Fach. So kann es nicht verwundern, dass die Grundlagenforschung nicht zu ihren Stärken gehört. Dagegen …“.
 
48
Nehm DAR 1993, 375, 379.
 
49
Vgl. dazu Burmann in Janiszewski/Jagow/Burmann Straßenverkehrsrecht 19. Aufl. StGB § 316 Rdnr. 14–17 mit Nachw. aus der Rspr. und mit Rechenbeispielen.
 
50
Vgl. dazu allgemein Maatz in Marneros et al., Psychiatrie und Justiz, 2000, S. 20 f.
 
Metadaten
Titel
Rechtsmedizin zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung
Zur Festlegung der Grenze alkoholbedingter Fahrunsicherheit
verfasst von
RiBGH a.D. Kurt Rüdiger Maatz
Publikationsdatum
08.05.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-023-00628-x

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