Hintergrund und Fragestellung
Die Komplexmethode nach Henssge und Madea gilt als der Goldstandard für die Eingrenzung des Todeszeitintervalls im frühen postmortalen Intervall [
1,
2]. Der temperaturbasierte Methodenanteil gilt als gut etabliert [
1]. Dies gilt nur mit Einschränkungen für die nichttemperaturbasierten Methoden, die sich früher postmortaler Leichenerscheinungen oder supravitaler Phänomene bedienen. Für diese liegen teils nur wenige, teils widerstreitende und teils lediglich ältere, aus heutiger Sicht hinsichtlich der Datengrundlage nur eingeschränkt nachvollziehbare Ergebnisse vor [
3‐
7].
Auch wenn die Komplexmethode als Standardinstrument für die Eingrenzung des Todeszeitintervalls gilt, liegen keine Daten hinsichtlich der Durchführungsrealität in der forensischen Praxis vor, wenngleich die supravitalen Reaktionen zu einer Bestätigung bzw. Verbesserung der temperaturbasierten Todeszeitschätzung führen können [
8,
9]. Aufgrund der eingeschränkten Datengrundlage der Teilmethoden erscheint es daher denkbar, dass den einzelnen Methodenanteilen in der Praxis eine unterschiedliche Wertigkeit zugemessen wird und die tatsächliche Anwendung der einzelnen Methoden in der Frequenz variiert. Hierzu liegen bislang keinerlei Daten vor.
In der vorliegenden Arbeit sollte daher mittels einer fragebogenbasierten Erhebung unter den deutschen rechtsmedizinischen Instituten untersucht werden, in welcher Häufigkeit die Teilmethoden der Komplexmethode zur Eingrenzung des Todeszeitpunkts regelhaft in der forensisch-medizinischen Routine genutzt werden.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Die Datenerhebung erfolgte mittels eines eigens entworfenen Fragebogens mit 13 Items. Unter der Fragestellung „Mit welcher prinzipiellen Regelhaftigkeit werden die nachfolgend genannten Teiluntersuchungen zur forensischen Todeszeitdiagnostik im frühen postmortalen Intervall an Ihrem Institut durchgeführt?“ konnten in diesem die unterschiedlichen Teilmethoden der Komplexmethode auf einer 4‑stufigen Skala bewertet werden (nie, selten, meistens, immer; Tab.
1).
Tab. 1
Ergebnisse der Befragung von 32 rechtsmedizinischen Instituten in Deutschland (Rücklauf 28 Fragebögen; 87,5 %) sowie Darstellung des Fragebogens. Mit welcher prinzipiellen Regelhaftigkeit werden die nachfolgend genannten Teiluntersuchungen zur forensischen Todeszeitdiagnostik im frühen postmortalen Intervall an Ihrem Institut durchgeführt?
Messung der tiefen Rektaltemperatur | 1 | 1 | 3 | 23 |
Messung der Umgebungstemperatur | 1 | 1 | 3 | 23 |
Ausprägung der Leichenflecke | 0 | 0 | 0 | 28 |
Wegdrückbarkeit der Leichenflecke | 0 | 0 | 1 | 27 |
Umlagerbarkeit der Leichenflecke | 3 | 4 | 9 | 12 |
Ausprägungsgrad der Leichenstarre | 0 | 0 | 1 | 27 |
Lokalisationsabhängige Unterschiede des Ausprägungsgrads der Leichenstarre | 2 | 2 | 8 | 16 |
Neubildung der Leichenstarre nach mechanischem Lösen | 1 | 5 | 11 | 11 |
Auslösbarkeit der mechanischen Muskelkontraktion: Idiomuskulärer Wulst | 1 | 10 | 4 | 13 |
Auslösbarkeit der mechanischen Muskelkontraktion: Zsako-Phänomen | 12 | 7 | 5 | 4 |
Elektrische Erregbarkeit der mimischen Muskulatur | 4 | 9 | 3 | 12 |
Elektrische Erregbarkeit der Skelettmuskulatur | 20 | 5 | 1 | 2 |
Pharmakologische Beeinflussbarkeit der Pupillomotorik | 18 | 6 | 2 | 2 |
Der Fragebogen sowie ein Begleitschreiben, in dem eine anonymisierte Auswertung zugesichert wurde, wurden mit der Bitte um Teilnahme an 32 rechtsmedizinische Institute in Deutschland versandt (Berlin, Bonn, Bremen, Dortmund, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Erlangen, Essen, Frankfurt/Main, Freiburg, Gießen, Göttingen, Greifswald, Halle, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Homburg/Saar, Jena, Kiel, Köln, Leipzig, Lübeck, Mainz, München, Münster, Potsdam, Rostock, Tübingen, Ulm, Würzburg). Hierbei wurden der Fragebogen und das Begleitschreiben einerseits informatorisch und mit der Bitte um Unterstützung der Erhebung an die Institutsdirektor:innen versandt sowie andererseits, mit der Bitte um Durchführung der Beantwortung, an eine:n weitere:n Mitarbeiter:in des jeweiligen Instituts (in der Regel Ober- oder Fachärzt:innen).
Die Datenerhebung erfolgte im Frühjahr 2022. Die Datenauswertung erfolgte anonymisiert und rein deskriptiv (Microsoft Excel).
Ergebnisse
Der Fragebogenrücklauf betrug 87,5 % (n = 28/32). Die Beantwortung von 27 der 28 Fragebogen fiel eindeutig aus (jeweils eine der Antwortmöglichkeiten markiert). In einem Fall wurden die Ergebnisse einer institutsinternen Umfrage unter allen ärztlichen Mitarbeiter:innen numerisch in die Antwortfelder eingetragen. Für die Auswertung wurde in diesem Fall die Antwortoption mit der größten Häufigkeit der Nennung berücksichtigt.
Eine vollständige Darstellung der Ergebnisse findet sich in Tab.
1.
Die Antwortoption „immer“ wurde für die unterschiedlichen Teilmethoden in einer Häufigkeit von n = 28 (100 %; Ausprägung der Leichenflecke) bis n = 2 (7,1 %; elektrische Erregbarkeit der Skelettmuskulatur sowie pharmakologische Beeinflussbarkeit der Pupillomotorik) markiert.
Fasst man die Antwortoptionen „immer“ und „meistens“ im Sinne einer regelhaften Nutzung der Methoden zusammen, zeigten sich Nennungen zur Nutzung der Teilmethoden von n = 28 (100 %; Ausprägung der Leichenflecke, Wegdrückbarkeit der Leichenflecke, Ausprägungsgrad der Leichenstarre) bis n = 3 (10,7 %; elektrische Erregbarkeit der Skelettmuskulatur).
Die Antwortoption „nie“ fand sich in einer Häufigkeit zwischen n = 0 (Ausprägung der Leichenflecke, Wegdrückbarkeit der Leichenflecke, Ausprägungsgrad der Leichenstarre) und n = 20 (71,4 %; elektrische Erregbarkeit der Skelettmuskulatur).
Fasst man die Antwortoptionen „nie“ und „selten“ zusammen, fanden sich Nennungen in einer Häufigkeit von n = 0 (Ausprägung der Leichenflecke, Wegdrückbarkeit der Leichenflecke, Ausprägungsgrad der Leichenstarre) bis n = 24 (85,7 %; pharmakologische Beeinflussbarkeit der Pupillomotorik) bzw. n = 25 (89,3 %; elektrische Erregbarkeit der Skelettmuskulatur).
Bei einer zusammenfassenden Betrachtung der positiven Antwortoptionen (immer, meistens) sowie der negativen Antwortoptionen (nie, selten) lassen sich die Ergebnisse der Befragung grob deskriptiv hinsichtlich der Häufigkeit der Nutzung der einzelnen Teilmethoden in 3 Kategorien einteilen:
Zum einen finden sich Methoden, die an den meisten deutschen rechtsmedizinischen Institutsstandorten regelhaft in der Fallroutine genutzt werden. Hierbei handelt es sich um die Messung der tiefen Rektaltemperatur (n = 26; 92,9 %), die Messung der Umgebungstemperatur (n = 26), die Ausprägung der Leichenflecke (n = 28; 100 %), die Wegdrückbarkeit der Leichenflecke (n = 28) sowie den Ausprägungsgrad der Leichenstarre (n = 28).
Des Weiteren werden einige Teilmethoden an dem überwiegenden Anteil der Institute routinehaft eingesetzt (Nennung der Antwortoptionen nie/selten ≥ 4, Nennung der Antwortoptionen immer/meistens > 50 %). Bei diesen Methoden handelt es sich um die Umlagerbarkeit der Leichenflecke (n = 21; 75 %), lokalisationsabhängige Unterschiede des Ausprägungsgrades der Leichenstarre (n = 24; 85,7 %), die Neubildung der Leichenstarre nach mechanischem Lösen (n = 22; 78,5 %), die Auslösbarkeit des idiomuskulären Wulstes (n = 17; 60,7 %) und die elektrische Erregbarkeit der mimischen Muskulatur (n = 15; 53,6 %).
Letztlich werden weitere Teilmethoden in den an der Befragung teilnehmenden Instituten überwiegend nie oder selten eingesetzt (Nutzung in < 33 %). Hierbei handelt es sich um die Auslösbarkeit des Zsako-Muskelphänomens (n = 19; 67,9 %), die elektrische Erregbarkeit der Skelettmuskulatur (n = 25; 89,3 %) und die pharmakologische Beeinflussbarkeit der Pupillomotorik (n = 24; 85,7 %).
Diskussion
Die Ergebnisse der Befragung zur Häufigkeit der regelhaften Nutzung der unterschiedlichen Teilmethoden der Komplexmethode zur forensischen Todeszeiteingrenzung an deutschen rechtsmedizinischen Instituten zeigen ein sehr heterogenes Bild (Tab.
1). Damit bleibt die Durchführungsrealität einiger der Teilmethoden deutlich hinter der vermittelten Lehrbuchrealität, in der die hier abgefragten Teilmethoden größtenteils als Standardmethoden dargestellt werden, zurück [
1,
8‐
14].
Auch deckt sich die Durchführungsrealität nicht mit den Regeln zur Durchführung der ärztlichen Leichenschau gemäß der zuletzt 2022 überarbeiteten AWMF-S1-Leitlinie der DGRM [
15], in der einige der Teilmethoden explizit aufgeführt werden (Ausprägung und Wegdrückbarkeit der Leichenflecke, Ausprägung der Leichenstarre, Auslösbarkeit des idiomuskulären Wulstes und des Zsako-Muskelphänomens, Messung der Körperkern- und Umgebungstemperatur), die nach den Ergebnissen der Befragung jedoch nicht regelhaft in der Routine zur Anwendung kommen (v. a. Ausprägung der Leichenstarre, Auslösbarkeit des idiomuskulären Wulstes und des Zsako-Muskelphänomens).
Über die Gründe der heterogenen Anwendung der Teilmethoden kann aufgrund der vorliegenden Ergebnisse naturgemäß lediglich spekuliert werden. Vorstellbar erscheint, dass die teils uneinheitliche und als möglicherweise rudimentär angesehene Datengrundlage der nichttemperaturbasierten Teilmethoden dazu führt, dass v. a. die supravitalen Reaktionen in der Routine seltener genutzt werden (Neubildung der Leichenstarre nach mechanischem Lösen, Auslösbarkeit des idiomuskulären Wulstes und des Zsako-Phänomens, elektrische Erregbarkeit der mimischen Muskulatur und der Skelettmuskulatur, pharmakologische Beeinflussbarkeit der Pupillomotorik), während die temperaturbasierte Methode (Messung der tiefen Rektaltemperatur und der Umgebungstemperatur) und frühe postmortale Leichenveränderungen (Ausprägung und Wegdrückbarkeit der Leichenflecke, Ausprägungsgrad der Leichenstarre) eher regelhaft Berücksichtigung finden. Hierzu mögen Publikationen, die in der jüngeren Zeit eine Neubewertung der supravitalen Reaktionen zum Gegenstand hatten, beigetragen haben [
3‐
7].
Die Ergebnisse zeigen bereits unter den sich beteiligenden deutschen rechtsmedizinischen Instituten ein uneinheitliches Bild auf; regionale Unterschiede konnten aufgrund des anonymisierten Studiendesigns hierbei nicht herausgearbeitet werden. Verlässliche Daten zur Nutzung der Komplexmethode und ihrer Teilmethoden auf europäischer und internationaler Ebene liegen bislang nicht vor.
Die offensichtlich differierende Durchführungsrealität der Komplexmethode in den deutschen rechtsmedizinischen Instituten wirft die Frage nach der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Ergebnisse der Todeszeitdiagnostik an unterschiedlichen Standorten auf. Einschränkend ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Fragestellung und das Fragebogendesign im Einzelfall dazu geführt haben können, dass Methoden, deren Einsatz lediglich in der sehr frühen postmortalen Phase eine positive Reaktion erwarten lassen (z. B. das Zsako-Phänomen), im Sinne der Fragestellung seltener positiv genannt wurden, da die Untersucher in der rechtsmedizinischen Praxis nur in wenigen Fällen zu einem solch frühen postmortalen Zeitpunkt an einem Leichenfundort sein werden. Jedoch weist die ebenfalls seltenere positive Nennung z. B. des idiomuskulären Wulstes und der pharmakologischen Beeinflussbarkeit der Pupillomotorik, deren Untersuchung zu späteren Zeitpunkten der frühen postmortalen Phase angezeigt wären, darauf hin, dass die Fragestellung in den meisten Fällen im Sinne eines grundsätzlich zur Verfügung stehenden und eingesetzten Methodenrepertoires verstanden wurde.
Im Sine eines qualitätssichernden, gemeinsamen Standards wäre es daher wünschenswert, unter den deutschen rechtsmedizinischen Instituten einen Konsens und eine Harmonisierung anzustreben, welche der Teilmethoden nach gegenwärtigem Forschungsstand regelhaft in der Fallroutine eingesetzt werden sollen und die ärztlichen Mitarbeiter:innen in der Anwendung und Bewertung weiterzubilden. Ein solcher Konsens könnte in der für 2027 beabsichtigten Überarbeitung der AWMF-Leitlinie der DGRM zur Durchführung der Leichenschau Berücksichtigung finden [
15]. Ebenso erscheint es diskutabel, ob der Empfehlung, lediglich diejenigen supravitalen Reaktionen zu untersuchen, von denen vor dem Hintergrund der temperaturbasierten Todeszeitschätzung eine positive Reaktion erwartet werden kann, grundsätzlich zu folgen ist [
9], da z. B. nichtdurchgeführte Untersuchungen nicht in eine abschließende Bewertung einfließen und damit Gegenstand kritischer Diskussionen werden können oder aber die ggf. positiven supravitalen Reaktionen Anlass zu einer fallweise kritischen Bewertung der temperaturbasierten Ergebnisse geben können.
Die Stärke der vorliegenden Arbeit liegt in einer hohen Rücklaufquote der Fragebogen (87,5 %) und der Verwendung eindeutiger, operationalisierter Items. Limitationen bestehen in einem nichterfolgten Rücklauf der Fragebögen aus 4 Instituten, wodurch sich aufgrund der Größe der Grundgesamtheit (n = 32) Verzerrungen ergeben haben können, sowie in der aus den Ergebnissen nichtableitbaren Kausalität für das insgesamt heterogene Bild unter den beteiligten Instituten.
Fazit für die Praxis
Die Teilmethoden der Komplexmethode zur Eingrenzung des Todeszeitintervalls werden in den deutschen rechtsmedizinischen Instituten nicht einheitlich durchgeführt, sodass die Ergebnisse nicht vergleichbar sein müssen. Eine nationale Konsensbildung erscheint wünschenswert.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Das Einholen eines Ethikvotums war aufgrund des Studiendesigns und des Studiengegenstandes nicht erforderlich.
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