Der Begriff „Femizid“ wird seit einigen Jahren für Tötungsdelikte gegen Frauen verwendet; am ehesten trifft man auf ihn in der Politik und in den Medien, während er in der kriminologischen Forschung zu häuslicher Gewalt und speziell nicht sexuell motivierten Tötungsdelikten gegen Frauen seltener verwendet wird, wohl weil „Femizid“ neben der Feststellung des Sachverhalts Frauentötung sogleich eine Behauptung über die Tatgründe beinhaltet. Sollte dieser Begriff für jede Tat gegen Frauen verpflichtend gemacht werden, oder bedeutet er eine Einschränkung der Pflicht, alle, auch andere, wesentlichen Tatursachen wahrzunehmen als Frauenunterdrückung und Misogynie?
Bei diesem akademischen Streit mit praktischen Folgen besteht Einigkeit, dass weiter an der Umsetzung der Istanbul Convention von 2011 (COE
2011) zu arbeiten ist, darunter „preventing, combating and prosecuting all forms of violence covered by the scope of this Convention; protecting and providing assistance to victims“. Das Problem ist allerdings, wie man den geforderten vollständigen Schutz von Frauen erreicht, wenn man sich schon seit Jahrzehnten durchaus wirksam darum bemüht.
Ein spezielles Problem liegt daran, dass man an die Paare, deren Streit mit der Tötung der Frau endet, vorher oft gar nicht herankommt. Von mindestens 20 Mio. Partnerschaften in Deutschland enden jährlich etwa 150 durch Tötung der Frau: Diese Fälle zu verhindern, also Risikopartnerschaften zu identifizieren, setzt voraus, dass man weiß, was eine Risikostruktur ist, und zweitens, dass jemand von diesem Paar Hilfe sucht.
Millionen Partnerschaften mit Männern verlaufen letztlich harmonisch, wenn auch streitbar, kooperativ, in wechselseitiger Unterstützung. Jeder dieser Männer trägt circa drei Männlichkeitskonzepte mit sich herum, die der Großväter, das des Vaters, und das im eigenen Sozialleben erarbeitete. In bestimmten sozialen Situationen werden interaktiv ziemlich alte Modelle aktualisiert, in anderen recht junge. Menschen sind keine Automaten mit feststehendem Programm. Das Femizid-Konzept aber kennt als Ursache gewaltsamer Konflikte nur zwei entgegengesetzte, grundverschiedene Seiten: den patriarchalisch geprägten Mann, der schließlich gewalttätig seine zivilisatorische Maske fallen lässt, und die schwache, strukturell unterlegene Frau, der ihre Lebensform vom Mann diktiert wird und die sich schließlich davon befreien will, weswegen sie getötet wird. Unterstellt wird eine durch Männerherrschaft strukturell zementierte, gravierende ökonomische und soziale Unterlegenheit der Frauen in Deutschland.
Die finale Gewalt gegen eine Frau in einer Beziehung, in der es zuvor oft keine Gewalt gegeben hat, wird nicht aus einer fatalen Beziehungsdynamik abgeleitet, sondern rein unilateral aus einem vorbestehenden Herrscher-Unterworfene-Modell, bei dem der Herrscher schließlich Gewalt einsetzt, weil die Frau fliehen will.
Als Beispiel für diese Grundannahme sei hier stellvertretend Habermann (
2023) zitiert, die in ihrer Merkmalsauswertung von 154 Urteilen über Tötungsdelikte an einer Partnerin vorab ihre aus der Literatur gewonnenen
Delinquenzerklärung so formuliert (
2023, S. 110 f.) „Partnerinnentötungen lassen sich am besten durch die Einstellungen der Täter gegenüber Frauen und durch das Bedürfnis, Macht und Kontrolle auszuüben, erklären. Die Tötungen sind in der Regel nicht die Kulmination schwerer werdender physischer Übergriffe. Zwar üben die Täter in vielen Beziehungen auch Formen der physischen und/oder sexualisierten Gewalt aus, viel bedeutender dagegen sind kontrollierende Verhaltensweisen gegenüber der Partnerin. Kann die Kontrolle nicht länger aufrechterhalten werden, so kann dies in der Tatausübung enden. Zentraler Entstehungskontext sind Trennungen. Die Taten entstehen aus einem Kontext der sich auflösenden männlichen Dominanz und Kontrolle, der schwindenden Durchsetzung des Besitzanspruchs, extremer Eifersucht sowie tradierter Vorstellungen über das Verhalten von Partnerinnen.“
Wenn man auf den Täter und sein Handeln fokussiert, so wie es ein Strafurteil zu tun hat, ist das eine einfache Hypothese, an der manches passen dürfte; weitgehend ausgeblendet werden die Partnerschaftsdynamik und das Handeln des Opfers, weil das angesichts der Schwere und Inadäquatheit der Tat juristisch nicht weiter interessiert.
Ungeklärt ist aber, ob der Mann sich so verhält, weil er ein Mann ist (zum traditionellen männlichen Selbstkonzept gehört, dass man Frauen nicht schlägt), und ob dieser Mann generell alle Frauen hasst oder verachtet, und ob es tatsächlich um Herrschaft ging, wenn der spätere Täter vorher der schwächere Partner war.
Wenn man die betreffenden Fälle im Rahmen psychiatrischer Begutachtung kasuistisch betrachtet, stellt man fest: Bei der Tötung der Partnerin (oder des Partners) geht es um das katastrophale Ende oft jahrelanger Beziehungen, die als Liebesbeziehungen und oft auch Arbeitsbeziehungen angefangen haben und über längere Zeit eine Stabilität hatten, und die kein Herr-Dienerin-Verhältnis waren. Jede stabile soziale Struktur enthält Elemente der Macht, die sie konsolidiert und so die Beteiligten entlastet. „Macht, Hierarchie und soziale Differenz sind keine Synonyme für Gewalt, denn, wo Menschen miteinander auskommen und sich vor anderen schützen müssen, sind sie darauf angewiesen, Macht zu übertragen. Die ungleiche Verteilung von Machtressourcen ist ein Modus der sozialen Organisation, nicht der Repression“ (Baberowski
2015, S. 123).
Das gilt auch für die Elternmacht und die wechselseitigen Machtverteilung zwischen den Partnern. Der Mann hat Macht, Einfluss und Druck auf seine Partnerin auszuüben, und die Frau hat ebenso Macht, wirksam durch vielerlei: durch Überredung und die besseren Argumente, durch Zuwendungsvergünstigungen oder -entzug, evtl. durch Einsatz unterschiedlicher ökonomischer Mittel oder Zeitressourcen. Partnerschaft hat die gleichen Konflikte wie eine Regierungskoalition, nur weniger Zuschauer.
Es ist ein allzu enges Machtkonzept, wenn man erklärt (Habermann
2023, S. 35): „
Macht beschreibt eine asymmetrische Beziehung, die es der einen Seite ermöglicht, das Verhalten der anderen Seite zu steuern.“ Arendt (
1970) hat eine sorgsame Differenzierung zwischen Macht, Stärke, Autorität und Gewalt eingefordert; sie hat einen ganz anderen Machtbegriff (S. 45): „
Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ Gewalt hingegen ist oft Ausdruck fragiler Macht, die sich vor dem Kollaps bewahren will.
Stärke sei eine individuelle Eigenschaft, in der sich eine Person mit anderen Personen, die gleichartige oder andere Stärken haben, messen und kooperieren kann. Im familiären oder im partnerschaftlichen Feld geht es um ein flexibles Machtgleichgewicht bei unterschiedlichen individuellen Stärken.
Der Soziologe Luhmann hat sich sein Leben lang immer wieder mit Macht beschäftigt (Luhmann
2012,
2013). Entsprechend unseren alltäglichen empirischen Erfahrungen beschreibt er Macht als einen systemischen Sachverhalt, der sich in allen sozialen Gruppen etabliert, und zwar nur extrem selten als Besitz einer einzigen Person oder Gruppe bei Machtlosigkeit des Rests, sondern als ein interagierendes Kräfteverhältnis, das sich in wechselseitigen Einflüssen und Kommunikationen ausdrückt. Zwischen den vorhandenen Kräften und Mächten kommt es zu Interessenkonflikten, die in der Regel friedlich kommunikativ ausgetragen werden.
Gerade hier zeigt sich, dass nicht zwangsläufig der oder die vermeintlich Schwächere keine Erfolgschance hat. Die Konflikte können auf einen Kampf hinauslaufen, der Kampf hat dann eine Entscheidungsfunktion. Bekanntlich gibt es viele Kämpfe des vermeintlich Unterlegenen gegen die etablierte Macht – über Sieg oder Niederlage entscheidet nicht zwangsläufig die ökonomische oder soziale Überlegenheit einer Seite. „Es liegt nahe, das Wesen der Macht vom Konfliktsfall und diesen vom Kampfausgang her zu bestimmen. In einer solchen Theorie könnte die Macht dessen, der im Kampf verlieren würde, unberücksichtigt bleiben. Er hat im Grunde keine Macht“ (Luhmann
2013, S. 25).
So sind Strafurteile aufgebaut, der Sieger im Konflikt ist der Täter, der Täter war also der Mächtige, das Opfer die Ohnmächtige. Luhmann macht sich dies nicht zu eigen, sondern verweist auf die
Unbestimmtheit sozialer Situationen und darauf, dass Macht im Falle von Konflikten und in Hinsicht auf die Form der Konfliktlösung ein
möglicher Einfluss, aber (wenn überhaupt) nur einer von vielen möglichen gleichzeitigen Kausalfaktoren ist. Dass nicht ubiquitäre Faktoren die Ursache für einen Intimizid sind, zeigt sich schon darin, dass diese Taten seltene, singuläre Ereignisse sind, also offenbar aus Situationen mit sehr individuellen Hintergründen erwachsen (Kröber
2025).
Wenn zwei Menschen zusammenleben und gemeinsam ihr Leben und ihre Aufgaben meistern wollen, ist dies ein dynamisches Beziehungsgeflecht, das auch spannungsreich und belastend und schließlich – von beiden Seiten – hasserfüllt werden kann. Es kommt vor, dass der Mann diese Frau hasst, ihre mit ihr verbündeten Freundinnen und eigentlich alle Frauen; nichts rechtfertigt seine Tat. Auch diese Frau mag inzwischen diesen Mann und gegenwärtig eigentlich alle Männer gehasst haben; sie hat aber nicht erwogen, ein Verbrechen zu begehen. Hass ist keine hinreichende Erklärung, eher schon: der Wunsch nach einem irreversiblen Sieg im Machtkampf. Das Paradox bei den Intimiziden ist gerade, dass sehr häufig der psychisch und sozial unterlegene Ehepartner schließlich mit destruktiver Gewalt die Übermacht, die sich ausschließlich in der Tat erweist, erringt. Danach geht er in die Machtlosigkeit des Gefangenen.
Alle Erfahrungen aus der (letztlich immer systemischen) Paar- und Familientherapie verdeutlichen, dass es um ein interaktives Beziehungsgeflecht geht, das gerade durch die Unterschiedlichkeit der Beteiligten bedingt, aber nicht determiniert ist. Im Grundsatz findet sich die gesamte Dialektik schon im Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ in Hegels
Phänomenologie des Geistes (Hegel 1807/
1986, S. 145–155). Was Macht ist, und was in einem gegebenen Moment einer Beziehung ein wirksamer Machtfaktor ist, muss jeweils situativ erfasst werden.
Aus Sicht der Strafverfolgung ist ein klarer Gewaltbegriff wichtig, man kann sich weiterhin halten an den juristischen Gewaltbegriff, also physische Gewalt mit definierten menschlichen Tätern und definierten Gewaltmitteln, der auch Straftatbestände der Zufügung von psychischer Qual und psychischen Schäden umfasst.
Das größere Definitions- und Erfassungsproblem ist „gender related“ – wann ist Gewalt „geschlechtsbezogen“? Ist Gewalt „geschlechtsbezogen“, wenn sie sich gegen Frauen richtet, die körperlich schwächer sind, nicht weglaufen können, weil sie psychisch, physisch oder krankheitsbedingt dazu nicht imstande sind oder, wenn sie weglaufen würden, kein Geld und keine Bleibe hätten? All das sind Merkmale, die sie mit alten und schwachen Männern und Frauen teilen, die in Altersheimen, Wohn- und Pflegeeinrichtungen sowie Kliniken von einer kleinen Minderheit von Hilfspersonen beraubt, misshandelt und sogar getötet werden. Das Merkmal „schwaches Opfer“ findet sich bei Gewalttaten von Männern gegen schwächere oder psychisch gestörte Männer, zumal in Institutionen wie Kasernen, Gefängnissen, Psychiatrien. Diese Konzentration auf das schwache Opfer gibt es auch bei den Gewalttaten Jugendlicher gegen vor allem männliche Jugendliche und Kinder.
Die Basisdefinition von Femizid ist: Tötung einer Frau, weil sie Frau ist. Das gibt es in dieser engen Form bei den Babytötungen und Abtreibungen, wo ein weibliches Baby unerwünscht ist, zum Beispiel in der Volksrepublik China in der Phase der Ein-Kind-Politik. Es fragt sich, ob man hier Frauenhass und Frauenverachtung als Motiv annehmen muss. Ist schon ein Kind vorhanden, wurden bei manchen folgende Schwangerschaften in Unkenntnis des Geschlechts beendet. Das eigentliche ethische Problem liegt in der Vorstellung, dass Eltern oder zumindest Mütter ein Verfügungsrecht über Leben oder Tod ihres Kindes haben.
Unstreitig ist, dass in bestimmten ethnischen und religiös geprägten Kulturen nach wie vor Frauen als minderwertig eingestuft werden, man denke nur an das Taliban-Afghanistan, und dass in diesen Kulturen Frauen nicht nur sozial und materiell degradiert werden, sondern auch häufiger Opfer männlicher Gewalt werden. Man denke an die Steinigung von Frauen wegen geringgradiger Vergehen der Insubordination unter das Männerrecht. Solche Kulturen gibt es nicht nur in Mittelasien.
Insofern wird in der Literatur nicht zu Unrecht der „Ehrenmord“ als Beispiel für Femizid angeführt; hier wird die Frau tatsächlich getötet, weil sie sich nicht dem ihr abverlangten weiblichen Rollenklischee fügt (insbesondere in sexueller Hinsicht). Es wird aber oft so getan, als sei der Ehrenmord als Idealtypus des Femizids zugleich das Grundmuster der Tötungsdelikte gegen die Partnerin. Ehrenmord handelt aber von etwas ganz anderem, er ist eine familiär verfügte Abstrafung, tödlicher Ausschluss aus dem Familienverbund, selten von einem ehemaligen Partner, meist von einem Blutsverwandten begangen. In Deutschland ist es eine extrem seltene, aufsehenerregende Delinquenz mit einem besonderen kulturellen Hintergrund.
Immer schon war „Frauenmörder“ wie auch „Kindermörder“ ein noch schlimmerer Begriff als „Mörder“. Braucht es in der Politik und in der Forschung eine Genderisierung in „Femizid“? Ideen, wie man Frauen noch mehr und noch besser schützen kann, und was sie selbst dafür tun sollten, sind nach wie vor gefragt. Sie setzen eine nüchterne Analyse der Lage ohne Scheuklappen voraus.
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