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Erschienen in: Ethik in der Medizin 3/2014

01.09.2014 | Originalarbeit

Retter-Kinder, Instrumentalisierung und Kants Zweckformel

verfasst von: Dr. Tim Henning

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 3/2014

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Zusammenfassung

Die künstliche Zeugung und Selektion von Nachwuchs als Spender von Gewebe für Dritte ist ethisch umstritten. Kritiker des Verfahrens berufen sich oft auf Kants Forderung, Personen seien jederzeit auch als Zwecke an sich selbst zu behandeln. Diese Kritik wird aber oft vorgebracht, ohne dass erläutert würde, was es heißt, Personen als Zwecke an sich selbst zu behandeln. Befürworter des Verfahrens weisen die Kritik daher als dunkel zurück oder deuten sie so, dass sie das Verfahren zulässt. Dieser Artikel erläutert den Kern der Zweckformel (im Zusammenhang mit anderen Formulierungen des kategorischen Imperativs). Dieser Deutung zufolge ist die Zeugung von Retterkindern in der Tat eine Form der Instrumentalisierung, die ich präemptive Instrumentalisierung nenne. Der Unterschied zwischen dieser Form der Instrumentalisierung und anderen Formen instrumentell motivierter Nachwuchsplanung wird dargestellt.
Fußnoten
1
Zu den wichtigsten zeitgenössischen Versuchen, den Status des kategorischen Imperativs als des obersten Moralprinzips zu verteidigen, gehören im deutschsprachigen Raum etwa der Ansatz Steigleders [23] (der sich neben Kant auch auf A. Gewirth beruft), im angloamerikanischen Sprachraum etwa die Arbeiten von Korsgaard [13], O’Neill [16], Allison [1] oder auch (freilich in einer speziellen Variante) Parfit [17]. Zur Integration des kategorischen Imperativs in einen prinzipienpluralistischen Ansatz vgl. Audi [2].
 
2
Eine Konzeption der Menschenwürde, die sich eher von der kantischen Auffassung entfernt, vertreten Stoecker [24] und Schaber [22]. Eine hilfreiche Unterscheidung dieser Konzeption von einer stärker kantischen Konzeption sowie eine Argumentation für die Letztere findet sich bei Horn [10]. Ich danke einem anonymen Gutachter dafür, mich auf die Relevanz der Würdedebatte für das Thema hinzuweisen.
 
3
Vgl. den Bestseller-Roman My Sister’s Keeper von Jody Picoult, aus dem das einleitende Zitat zu diesem Artikel stammt.
 
4
Quellen: BBC News, 4. Okt. 2000, http://news.bbc.co.uk/2/hi/health/954408.stm; USA Today, http://www.usatoday.com/tech/science/columnist/vergano/2010-01-10-embryo-genetic-screening_N.htm. (Zugegriffen: 19. Juni 2012).
 
5
Das einzige Argument für diese Unterstellung, das ich zu sehen vermag, wäre an dieser Stelle zirkulär. Ausgehend von der Prämisse, dass schon die Selektion zur Gewinnung von Nabelschnurblut verwerflich ist, könnte man wie folgt argumentieren: Wer bereits hier bereit ist, Verwerfliches zu tun, für den wird auch die Verwerflichkeit späterer Eingriffe kein Hindernis sein. Dieses Argument setzt offensichtlich voraus, was hier erst einmal zu diskutieren ist.
 
6
Eine ausführliche Diskussion dieser Frage bietet J. Broome, vgl. [4].
 
7
Der locus classicus dieser possible consent-Deutung ist O’Neill [16].
 
8
Die Universalisierbarkeit unserer Maximen scheint diesen Autoren etwas grundlegend Anderes zu sein als die Behandlung der Zwecke anderer als intrinsische Gründe. Sofern es in diesen Forderungen eine Äquivalenz gibt, dann höchstens – und schon dies wird oft bestritten – in dem extensionalen Sinne, dass alle Formulierungen zu gleichen deontischen Verdikten in Bezug auf gleiche Handlungen führen. Diese Ansicht findet sich z. B. in J. Timmermans einflussreichem Kommentar ([25], S. 110) sowie in Parfits vieldiskutiertem Entwurf einer kantianischen Ethik [17]. Die gegenteilige Ansicht, die Kants Äquivalenzthese zustimmt, wird natürlich ebenfalls vertreten, gegenwärtig besonders prominent etwa von O’Neill [16].
 
9
Diese argumentative Parallele zwischen Kants Begründung der Möglichkeit hypothetischer Imperative einerseits und seiner Konzeption des „Widerspruchs im Wollen“ andererseits wird auch von O’Neill [16] und Korsgaard [13] gezogen. (Anmerkung: Natürlich übersieht Kant nicht, dass wir uns mitunter dagegen entscheiden, ein notwendiges Mittel zu unseren Zielen zu ergreifen oder notwendige Hilfe anzunehmen. Aber er insistiert, dass man fortan eben nicht mehr behaupten kann, dass wir das Ziel noch erreichen wollen.)
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Retter-Kinder, Instrumentalisierung und Kants Zweckformel
verfasst von
Dr. Tim Henning
Publikationsdatum
01.09.2014
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 3/2014
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-013-0253-9

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