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Erschienen in: Rechtsmedizin 6/2021

Open Access 13.02.2021 | Schnittverletzung | Kasuistiken

Blutspurenmusteranalyse trägt zur Aufklärung eines vorgetäuschten Raubüberfalls bei

verfasst von: I. M. Bützler, M. A. Rothschild, T. Kamphausen

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 6/2021

Zusammenfassung

Ein Mann wurde nicht ansprechbar mit einer Schnittverletzung am Hals in seiner Kfz-Werkstatt aufgefunden. Er berichtete, von hinten überfallen, ausgeraubt und mit einem scharfen Gegenstand am Hals verletzt worden zu sein. Eine Blutspurenmusteranalyse und Plausibilitätsprüfung der Angaben des Mannes ergab Hinweise auf eine Selbstbeibringung und darauf, dass das Handlungsgeschehen mehrphasig ablief. Als Tatwerkzeug wurde ein Teppichmesser, in einem Ölfass versteckt, gefunden. Nach umfangreichen Ermittlungen konnten ein Tatverdächtiger entlastet und der Verletzte wegen Vortäuschung einer Straftat verurteilt werden.
Bei der Rekonstruktion von Ereignisabläufen reicht das Verletzungsbild alleine in der Regel nicht aus, um den Sachverhalt aufzuklären. Neben der polizeilichen Ermittlungstätigkeit und spurentechnischen Untersuchungen können auch eine zusätzliche Blutspurenmusteranalyse sowie eine damit verbundene kritische Plausibilitätsprüfung der getätigten Angaben Beteiligter zur Aufklärung beitragen, wie in diesem Fall eines vermeintlichen Überfalls eines Mannes durch eine weitere Person geschehen. In synoptischer Betrachtung der Befunde spricht alles in erster Linie für eine Selbstbeibringung.

Kasuistik

Vorgeschichte

Ein 65-jähriger Mann sei eines Morgens in seiner Kfz-Werkstatt von hinten überfallen und am Hals verletzt worden. Er habe hinter dem Übergang von der Werkstatthalle in das Reifenlager vor einem Kühlschrank gestanden, als sein Kopf und sein Oberkörper plötzlich ruckartig von einer ihm unbekannten Person nach hinten gerissen worden seien (Abb. 2). Er habe einen scharfen Schmerz am Hals verspürt und sei danach bewusstlos zusammengebrochen und 45 min später wieder zu sich gekommen, als ein Mitarbeiter ihn geschüttelt habe. Nach polizeilichen Erkenntnissen hätten Bargeld sowie eine Armbanduhr gefehlt. Das Bargeld habe unverschlossen auf dem Schreibtisch gelegen, um damit ausstehende Lohnzahlungen an den ihn auffindenden Mitarbeiter zu begleichen.

Wesentliche Befunde der körperlichen Untersuchung

Es bestand eine einzelne 7 cm lange, auf 2,5 cm Breite klaffende, schräg verlaufende Schnittverletzung an der linken Halsseite (Abb. 1). Die Wundränder waren glattrandig, die Wundwinkel spitz zulaufend. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war die Verletzung instabil durch ein großes, geronnenes Hämatom tamponiert, bewegungsabhängig trat pulssynchron Blut heraus. Zauderschnittverletzungen waren nicht festzustellen. Es bestanden keine weiteren scharfen Verletzungen, insbesondere keine aktiven oder passiven Abwehrverletzungen. Da bei bis in den Musculus sternocleidomastoideus reichendem Schnitt auch kleinere, nicht näher benannte, arterielle und venöse Gefäße eröffnet waren, musste der Mann noch am selben Tag operiert werden. Laut den Ärzten war der Mann zu jedem Zeitpunkt kreislaufstabil.

Befunde der Blutspuren am Ereignisort

Die Werkstatthalle war etwa 5 m breit und 7,5 m lang (Abb. 2). In der Mitte befand sich eine Hebebühne, hinter der Hebebühne 2 Absaugeinrichtungen für Altöl. Mittig im Raum standen ein blauer 10 l Plastikkanister sowie ein weißer Plastikeimer, der mit Öl befüllt war. Links neben der Hebebühne befand sich in der Werkstatthalle ein Mauerdurchbruch mit Kriechgang, das Öllager. Rechts daneben schloss sich eine Nische von 1,50 m Breite und 1,50 m Tiefe an. An der Stirnseite der Werkstatthalle befand sich ein Mauerdurchbruch von etwa 1,50 m Breite, der in ein Reifenlager führte. Das Reifenlager wies eine Tiefe von 3 m und eine sich nach links und rechts streckende Breite von etwa 10 m auf. Rechtsseitig schloss sich ein kleiner Waschraum mit 2 Waschbecken und 2 über den Waschbecken hängenden Spiegeln an.
Hinter dem Mauerdurchbruch im Reifenlager links befanden sich ein Ölfass sowie gestapelte Kfz-Reifen und ein kleiner Kühlschrank. Hier soll es zum Angriff gekommen sein. Direkt hinter dem Mauerdurchbruch, am Übergang zwischen Werkstatthalle und Reifenlager, befand sich eine insgesamt 60 cm durchmessende Blutspur, bestehend aus einer Blutlache, die gesäumt war von zahlreichen annähernd runde Blutauftropfspuren sowie Satellitenspritzern (Abb. 3 und 4). Zudem bestanden an den Außenseiten rechts sowie links der Blutlache Blutdurchwischspuren in Form von Handballen- und Fingerabdrücken (Abb. 4). An der in Richtung Reifenlager gelegenen Außenseite befanden sich ebenfalls Spuren, in Form von flächenhaften Wischspuren, z. T. mit textilem Abdruckmuster. Drei einzelne Blutauftropfspuren wiesen in Richtung der vorbeschriebenen Blutlache feine strichartige Auszieher auf (Abb. 5) und lagen zwischen Waschraum und Blutlache. Im Waschraum wies das rechte Waschbecken an seinem Vorderrand eine einzelne annähernd runde Blutauftropfspur auf mit einer Abrinnspur entlang der Unterseite des Waschbeckens in Richtung Siphon. Neben der Blutauftropfspur waren insgesamt 4 kleine Satellitenspritzer erkennbar, die ebenfalls eine Abfließrichtung in Richtung Fußboden aufwiesen.
Zwischen der Blutlache und der Nische in der Werkstatthalle bestanden zahlreiche Kontaktspuren in Form von Schuhsohlenabdrücken (Abb. 6). Hierbei handelte es sich um ein ausgesprochen grobstolliges Profil, das an einen Arbeitsschuh denken lässt. Die Kontaktspuren wiesen von der Blutlache zwischen Werkstatthalle und Reifenlager in Richtung der Nische.

Polizeiliche Feststellungen

Aufgrund des Blutspurenbildes, das sich in Richtung des Altölkanisters richtete, wurde der blaue Kanister in der Altölecke ausgeleert, in dem sich ein Teppichmesser fand. Anschließend durchgeführte molekulargenetische Untersuchungen blieben ergebnislos.
Die weiteren Ermittlungen ergaben eine massive finanzielle Schieflage des Werkstattbesitzers mit erheblichen Schulden, insbesondere gegenüber seinem Mitarbeiter und Zulieferern. Die abhanden gekommene Summe entsprach einem größeren Teil des seit Monaten ausstehenden Lohnes.

Diskussion

Die Halsschnittverletzung wäre für sich genommen ohne Weiteres mit einer Fremdbeibringung in Einklang zu bringen [1]. Auch das Fehlen von Probierschnitten würde diese Hypothese stützen [1].
Die Verletzung war nicht geeignet, eine sofortige Handlungsunfähigkeit mit 45-minütiger Bewusstlosigkeit zu erklären. Das Fehlen von weiteren Verletzungen und insbesondere von Abwehrverletzungen deutete (neben Widersprüchen in der Vernehmung des Mannes) auch auf die Möglichkeit einer fingierten Situation mit Selbstverletzung hin [1]. Letztlich war neben der Diskrepanz zwischen der Art der Verletzungen das Blutspurenverteilungsbild der entscheidende Mosaikstein in der Bewertung des Falles.

Rekonstruktion der Blutspurenentstehung

Bei der größten Blutansammlung handelte es sich um die Blutlache am Übergang zwischen Werkstatthalle und Reifenlager (Abb. 23 und 4). Ausgehend von ihr waren auffällig zahlreiche konzentrische, von der Blutlache als Zentrum wegweisende Blutspritzer und kleinste Satellitenspritzer erkennbar, die dafür sprechen, dass nach Ausbildung einer flächenhaften Benetzung „Blut weiter in Blut“ tropfte [2]. Die vorgebrachte Situation, in der in liegender Position Blut aus der Halswunde floss, ist demgegenüber mit dem Blutspurenmuster nicht zu vereinbaren.
Die Kontakt- und Wischspuren waren als Handabdruckspuren mit Abdrücken der Handinnenflächen sowie einzelner Finger zu werten [2]. Die Ausrichtung der Spuren entspricht dabei einem schulterbreiten Abstand. Die flächenhaften bzw. annähernd runden Wischspuren der Blutlache können durch Knie verursacht worden sein, sodass sich aus dem Gesamtblutspurenbild eine kniende Position über der Blutlache für eine längere Zeit rekonstruieren lässt, in der Blut aus der Wunde auf den Boden und die sich ausbreitende Blutlache tropfte.
Die Blutauftropfspuren zwischen Waschraum und Blutlache wiesen in Richtung Blutlache weisende Auszieher auf. Diese entstehen durch Relativbewegungen zwischen dem Ursprung des Bluttropfens und dem Auftreffpunkt. Sie zeigen die Bewegungsrichtung aus dem Waschraum zur Blutlache an [2]. Aus dem gesamten Spurenbild lässt sich folgender Hergang ableiten: Die Bluttropfen am Waschbecken in Kombination mit den in Richtung Blutlache verlaufenden Tropfen sprechen für den Beginn des Handlungsgeschehens am Waschbecken (vor dem Spiegel, sic!). Daraufhin erfolgt eine Bewegung aus dem Raum heraus in Richtung Werkstatthalle mit Verweilen in kniender Position für einen längeren Zeitraum. Die Schuhsohlenabdruckmuster belegen ein Schreiten durch die entstandenen Blutspuren in Richtung Nische, wo in dem blauen Ölkanister ein Teppichmesser aufgefunden wurde.

Plausibilitätsprüfung der Aussage

Für die durch den Verletzten mitgeteilte 45-minütige Bewusstlosigkeit gab es keine adäquate Erklärung. Eine Verletzung der großen Halsgefäße, wie z. B. die Durchtrennung der Arteria carotis communis, lag nicht vor [3]. Bei Schnittverletzungen des Halses, ohne Verletzung der Arteria carotis, mit Eröffnung kleinkalibriger venöser und arterieller Gefäße kommt es zu einem langsameren Blutverlust, somit bleibt eine Handlungsfähigkeit häufig lange erhalten [3]. Unter Berücksichtigung des Blutspurenbildes vor Ort und des Umstands, dass sich die Verletzung selbst tamponierte, ist davon auszugehen, dass keine kreislaufrelevante Menge Blut verloren wurde. Demnach ist weder von einem sofortigen noch von einem lang andauernden Bewusstseinsverlust auszugehen. Die durch den Verletzten angegebene Überstreckung des Kopfes nach hinten könnte über eine Vagusreizung lediglich eine kurzzeitige, d. h. sekundenlange Bewusstlosigkeit hervorgerufen haben [5]. Und auch eine psychogene Bewusstlosigkeit unmittelbar mit Verletzungserhalt wäre nur von sehr kurzer Dauer (Sekunden bis maximal wenige Minuten) gewesen. Insofern kann die Angabe des Verletzten zu Hergang und Ablauf des Geschehnisses nicht plausibel nachvollzogen werden. Daraus lässt sich in Zusammenschau mit dem Blutspurenmuster schließen, dass der verletzte Mann über den Ereigniszeitpunkt hinaus handlungsfähig war [4, 6].
Auch wenn eine Fremdbeibringung aufgrund der Wundmorphologie nicht ausgeschlossen werden kann, spricht das Gesamtbild aus Verletzungsbefunden, Blutspurenmuster und der Plausibilitätsprüfung der Angaben für eine Selbstbeibringung. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben zudem erhebliche Schulden als Motiv für eine Vortäuschung eines Raubüberfalls, ggf. um weiteren zeitlichen Aufschub erhalten zu können. Ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Mordes gegen eine zunächst tatverdächtige Person wurde eingestellt. Der verletzte Mann wurde rechtskräftig wegen Vortäuschung einer Straftat zu einer Geldstrafe verurteilt.

Fazit

  • Bei einer einzelnen Verletzung kann in der Regel nicht sicher zwischen Fremd- bzw. Selbstbeibringung differenziert werden, wenn nicht weitere Parameter vorliegen.
  • Eine Kommunikation mit den Ermittlungsbehörden, welche Angaben zu Vorgeschichte und der geschilderten Situation liefern können, ist unabdingbar.
  • Eine Blutspurenmusteranalyse kann wesentliche Erkenntnisse zu einem Ereignisablauf bringen. Für eine effektive Blutspurenmusteranalyse sind die Kenntnis und Interpretation der verletzten Strukturen (u. a. Art und Größe der Blutgefäße) hilfreich.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

I. Bützler, M. A. Rothschild und T. Kamphausen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Die Untersuchungen erfolgten unter Einhaltung der Vorgaben der Zentralen Ethikkomission der Bundesärztekammer. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat Herbst J, Hoppe B, Haffner H‑T (1999) Kriterien der Fremd- oder Selbstbeibringung. Rechtsmedizin 10:14–20CrossRef Herbst J, Hoppe B, Haffner H‑T (1999) Kriterien der Fremd- oder Selbstbeibringung. Rechtsmedizin 10:14–20CrossRef
2.
Zurück zum Zitat Peschel O, Mützel E, Rothschild MA (2008) Blutspurenmuster-Verteilungsanalyse. Rechtsmedizin 18:131–146CrossRef Peschel O, Mützel E, Rothschild MA (2008) Blutspurenmuster-Verteilungsanalyse. Rechtsmedizin 18:131–146CrossRef
3.
Zurück zum Zitat Eisenmenger W (2004) Spitze, scharfe und halbscharfe Gewalt. In: Brinkmann B, Madea B (Hrsg) Handbuch gerichtliche Medizin. Springer, Berlin, S 571–591 (S. 575, S. 583) Eisenmenger W (2004) Spitze, scharfe und halbscharfe Gewalt. In: Brinkmann B, Madea B (Hrsg) Handbuch gerichtliche Medizin. Springer, Berlin, S 571–591 (S. 575, S. 583)
4.
Zurück zum Zitat Brinkmann B (2004) Ersticken. In: Brinkmann B, Madea B (Hrsg) Handbuch gerichtliche Medizin. Springer, Berlin, S 699–796 (S. 717–719) Brinkmann B (2004) Ersticken. In: Brinkmann B, Madea B (Hrsg) Handbuch gerichtliche Medizin. Springer, Berlin, S 699–796 (S. 717–719)
6.
Zurück zum Zitat Walcher K (1929) Über Bewusstlosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Dtsch Z ges gerichtl Med 13:313–322 Walcher K (1929) Über Bewusstlosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Dtsch Z ges gerichtl Med 13:313–322
Metadaten
Titel
Blutspurenmusteranalyse trägt zur Aufklärung eines vorgetäuschten Raubüberfalls bei
verfasst von
I. M. Bützler
M. A. Rothschild
T. Kamphausen
Publikationsdatum
13.02.2021
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Schnittverletzung
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 6/2021
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-021-00463-y

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