Tagtäglich werden Blutverluste durch medizinisches Personal (Ärzt:innen, Hebammen, Rettungsdienstpersonal) visuell abgeschätzt, weil eine exakte quantitative Messung unmöglich oder impraktikabel ist. Als Anästhesist:in ist man mit Blutverlusten im OP, im Kreißsaal, im Schockraum oder präklinisch am Notfallort konfrontiert. Die Literatur zeigt jedoch, dass in allen genannten Bereichen enorme Fehler bei der visuellen Schätzung passieren. Fehler von 50 % und mehr sind hier keine Seltenheit, was bedeutet, dass z. B. ein angegebener Blutverlust von 2000 ml tatsächlich auch 3000 ml oder nur 1000 ml betragen haben könnte. Im Allgemeinen werden Blutverluste – in allen oben genannten Bereichen – eher unterschätzt als überschätzt. Die Berufserfahrung verbessert das Schätzverhalten nicht. Die Höhe des Blutverlusts indiziert und „rechtfertigt“ invasive Maßnahmen sowie die Verabreichung von Blut und – kostenintensiven – Blutprodukten. Diese Übersicht widmet sich den Problemen bei der Schätzung von Blutverlusten, zeigt die Folgen eines falsch geschätzten Blutverlusts auf, gibt Tipps, wie man sein eigenes „Schätzvermögen“ verbessern kann, und schildert die beachtlichen Potenziale von Fortbildungen, sowie welche digitalen Unterstützungsmöglichkeiten inzwischen zur Verfügung stehen.