Schwangerenvorsorge zwischen Fürsorge und Übertreibung

Die Liste der bei der ersten Schwangerenvorsorgeuntersuchung abzuarbeitenden Risikofaktoren ist lang. Das Resultat: über 70% der Schwangerschaften in Deutschland sind Risikoschwangerschaften. „Wir sind das Land der Risikoschwangerschaften“, konstatierte Prof. Dr. Ralf Schild vom Perinatalzentrum des Diakovere-Krankenhauses in Hannover und ergänzte: „Und wir machen wahrscheinlich auch die meisten Untersuchungen überhaupt“. Zusatzangebote, die weit über das hinausgehen, was in den Leitlinien und Mutterschaftsrichtlinien (MSR) empfohlen wird, suggerieren den werdenden Müttern eine sichere Rundumversorgung und werden häufig angenommen. Vielleicht machen die Angebote nicht medizinisch Sinn, sondern nur finanziell für die Betreibenden, fragte Schild provokativ und nannte anlässlich der wissenschaftlichen Sitzung „Lifestyle oder Medizin? Geburtshilfe im 21. Jahrhundert“ beispielhaft sieben Leistungen, bei denen man sich kritisch fragen müsse, ob in Deutschland bei der Schwangerenvorsorge nicht übertrieben werde: Die routinemäßige vaginale Untersuchung bei jedem Vorsorgetermin ist in Deutschland, Belgien, Frankreich oder Italien Bestandteil der MSR, in Dänemark, den Niederlanden oder Großbritannien dagegen nicht. Der Grund: Es gab in einer europäischen Multicenterstudie mit 5.600 Schwangeren keine Evidenz, dass sich dadurch die Frühgeburtenrate senken ließe [2]. Die kardiotokografische Untersuchung (CTG) in der Schwangerschaft wird in Deutschland fast jeder Schwangeren angeboten und auch von ihr angenommen. Bei fehlenden Risiken und einem unauffälligen Verlauf der Gravidität gibt es dafür keine Evidenz. Sehr kontrovers diskutiert, aber durchaus eingesetzt wird der Streptokokkenabstrich. Eine Cochrane-Metaanalyse fand nur einen marginalen Vorteil für die intrapartale Antibiotikagabe bei bekanntem Streptokokken-Besiedlungsstatus [3]. in Großbritannien wird der Abstrich wie in Deutschland nicht routinemäßig empfohlen. Schild berichtete, dass in den USA mit 0,5/1.000 Geburten eine sehr geringe Inzidenz der Pneumokokkensepsis beim Kind gefunden wurde, die dazu noch unabhängig war von einer Prophylaxe. Die häufigste kongenital erworbene Infektion ist die mit dem Cytomegalievirus (CMV). Bei vielen Schwangeren wird die CMV-Serologie durchgeführt, die Sinnhaftigkeit muss man in Frage stellen. Die Wirksamkeit einer Therapie mit Immunglobulinen oder einem Virostatikum ist noch nicht eindeutig belegt. Auch zur Toxoplasmose-Serologie als Präventionsmaßnahme gibt es bisher keine ausreichende Datenlage, in einigen Ländern wird es empfohlen, in anderen nicht. Das Ultraschallscreening soll nach den MSR dreimal pro Schwangerschaft durchgeführt werden. In Deutschland erhalten Schwangere aber zu 85% eine größere Zahl von Ultraschalluntersuchungen. Über die Hälfte nimmt auch eine 3D/4D-Ultraschalluntersuchung in Anspruch [2]. Für das erste von nur drei Screenings empfiehlt Schild aufgrund der besseren Beurteilbarkeit fetaler Strukturen die 12. bis 13. Schwangerschaftswoche eher als die empfohlene 8. bis 11. Auch das dritte Screening findet er etwas später als zwischen der 28. und 31. Woche sinnvoller oder sieht selbst ein zusätzliches Screening in der 35. bis 37. Woche als sinnvoll an, um eine fetale Wachstumsretardierung als wichtigen Risikofaktor für einen intrauterinen Kindstod festzustellen. Für eine geburtsvorbereitende Akupunktur gibt es keinerlei Evidenz. „Vielleicht gibt es einen Wohlfühleffekt für die Frau, aber die Geburt verläuft nicht schneller und besser“, betonte Schild. Auch die meisten individuellen Gesundheitsleistungen sind laut Schild nicht evidenzbasiert. Er forderte: „Wir müssen aufklären, ohne Angst zu machen.“ und konstatierte: „Mehr ist nicht grundsätzlich besser.“ Schwangere auch im Op! Eine besonders überflüssige Maßnahme in der Schwangerschaft sei, dass schwangere Ärztinnen nicht operieren dürfen. „Das gibt’s nur in Deutschland“, sagte Schild. „Das ist für Frauen, die arbeiten wollen, wirklich nicht förderlich für die Karriere.“ Er verwies auf das Positionspapier „Operieren in der Schwangerschaft“ (OPidS) des Jungen Forums der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) in Zusammenarbeit mit dem Perspektivforum Junge Chirurgie. Dort gebe es auch entsprechende Merkblätter, wie man das Operieren bei gleichzeitigem Schutz von Schwangerer und Fötus möglich machen kann [4]. Literatur [1] Schäfers R, Kolip P. Zusatzangebote in der Schwangerschaft. In: Böcken J et al. Gesundheitsmonitor 2015. [2] Buekens et al. Lancet 1994; 344: 841-4 [3] Ohlsson A, Shah VS. Cochrane Database Syst Rev. 2014 Jun 10;(6):CD007467. [4] http://www.opids.de/fileadmin/user_upload/OPIDS/Dokumente/Tools/Positionspapier_OPidS_FINAL.pdf

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