Erschienen in:
13.07.2016 | Leitthema
Sehr kleine Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit
verfasst von:
Prof. Dr. C. Bührer
Erschienen in:
Monatsschrift Kinderheilkunde
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Ausgabe 8/2016
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Zusammenfassung
Die Behandlung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit hat teilweise den Charakter experimenteller Medizin, die nur nach umfassender Aufklärung und mit ausdrücklicher Beauftragung durch die Eltern erfolgen sollte. Es besteht allerdings kein Konsens darüber, wo eine solche Grenze der Lebensfähigkeit anzusiedeln sei. Das mit einer Mortalität von rund 50 % assoziierte Gestationsalter ist in England von 25 Wochen 1995 auf 24 Wochen 2006 gesunken, während es 2004–2007 in Schweden 23 Wochen betrug. In Deutschland waren von den 2008–2012 auf einer neonatologischen Station aufgenommenen Frühgeborenen unter 500 g Geburtsgewicht mit AOK-Versicherungsstatus nach 180 Tagen noch 38 % am Leben; knapp 26 % der Frühgeborenen überlebten ohne Eingriff wegen posthämorrhagischem Hydrozephalus, nekrotisierender Enterokolitis oder Retinopathie. Untersuchungen ehemaliger Frühgeborener im Alter von 2 Jahren mit standardisierten Verfahren, wie sie in wissenschaftlichen Studien üblich sind, können im Einzelfall irreführende Ergebnisse liefern und sind für die Qualitätssicherung wenig brauchbar. Große Bedeutung haben hingegen Untersuchungen zum Zeitpunkt der Einschulung, in die Intelligenz, Gedächtnis und Exekutivfunktionen einfließen. Über einem Drittel der Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 750 g wird zu diesem Zeitpunkt ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert, und Probleme in der Schule bleiben für ehemals Extremfrühgeborene ein bestimmendes Thema, insbesondere für Jungen. Als Erwachsene leiden ehemalige Extremfrühgeborene mehr unter Angststörungen, zeigen mehr autistische Wesenszüge und haben häufiger Aufmerksamkeitsstörungen als Kontrollpersonen, aber weniger Probleme mit Alkohol oder Drogen. Eine detaillierte Kenntnis der facettenreichen Problematik von Extremfrühgeborenen gehört zu den Voraussetzungen, um werdende Eltern an der Grenze der Lebensfähigkeit adäquat zu beraten.