Die vielen Gesichter des MELAS-Syndroms

Eine Patientin erleidet mehrere ischämische Schlaganfälle mit neurologischen Ausfällen. Der Verdacht liegt zunächst auf einer kardialen Ursache, doch die Begleiterkrankungen deuten immer mehr auf eine seltene Mitochondriopathie. Wenige Monate später ist die Patientin taub. Die heterogene Symptomatik erschwert jedoch die Diagnose. Bei einem Schlaganfall mit neurologischen Defiziten liegt der Verdacht auf eine kardiale Ursache sehr nahe. Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Schwerhörigkeit können jedoch auf eine seltene Erkrankung hinweisen. Ein Team von Neurologinnen und Neurologen um Dr. Michael Ertl am Universitätsklinikum Augsburg macht mit seinem Fall auf eine wichtige Differenzialdiagnose bei wiederkehrenden Schlaganfällen aufmerksam. Eine 55-jährige Patientin leidet nach einem Schlaganfall an einer Feinmotorikstörung der linken Hand, pulsierenden Kopfschmerzen rechts und einem neu aufgetretenen Tinnitus. In der neurologischen Untersuchung fällt auf, dass sie ihr linkes Bein nicht hochhalten kann und Tastreize teilweise nicht mehr wahrnimmt – klare Anzeichen einer Schädigung der rechten Hemisphäre, die sich im cerebralen Computertomogramm (cCT) und cerebralen Magnetresonanztomogramm (cMRT) als multiple Ischämien darstellen lassen. Ohne Vorerkrankungen ist die Patientin nicht: Sie leidet an Typ-2-Diabetes und ist seit sechs Jahren schwerhörig. Ihre Familienanamnese gibt keinen Aufschluss über genetische Erkrankungen. Folge einer kardialen Erkrankung? Der Verdacht auf eine kardiale Emboliequelle steht schnell im Raum und das Team veranlasst kardiologische Untersuchungen, jedoch ist außer einer Vergrößerung der linken Herzkammer nichts auffällig. Die Patientin wird in eine Rehabilitationseinrichtung verlegt und anschließend von ihrem Hausarzt weiter beobachtet. Mittels Langzeit-Echokardiographie soll der Verdacht auf ein okkultes intermittierendes Vorhofflimmern erhärtet werden. Doch die Bestätigung einer kardiogenen Ursache bleibt aus. Nur einen Monat später wird die Patientin notfallmäßig eingewiesen aufgrund fokaler epileptischer Anfälle und Zuckungen der linken Körperhälfte. Zudem verliert sie zunehmend die Kontrolle über Bewegungsabläufe. Erneut wird ein cMRT durchgeführt. Es sind Läsionen sichtbar, die sich aber zurückbilden und zunächst als Folge der epileptischen Anfälle gedeutet werden. Die Patientin erhält ein Antikonvulsivum und wird entlassen. Nach fünf Monaten hat sich der Zustand der Patientin drastisch verschlechtert: Inzwischen ist sie taub und kann nur noch schriftlich kommunizieren. Zusätzlich haben sich die Zuckungen der linken Körperhälfte verstärkt. Das Team führt erneut eine cMRT durch und nach kritischer Beurteilung der Befunde fällt dann der Groschen – die Läsionen in Richtung Hinterhaupt und der zusätzliche Laktatpeak im naheliegenden Hirngewebe sind typisch für eine seltene Mitochondriopathie. Die Verdachtsdiagnose MELAS-Syndrom (mitochondriale Enzephalomyopathie mit Laktatazidose und schlaganfallähnlichen Episoden) wird zum ersten Mal diskutiert. Daraufhin geht es Schlag auf Schlag: Die hohen Laktatwerte in Liquor und Blut passen zum Krankheitsbild des MELAS-Syndroms und eine molekulargenetische Untersuchung liefert dann endgültige Sicherheit. Eine mitochondriale Mutation bestätigt die Verdachtsdiagnose. Das Krankheitsstadium der Patientin erreicht danach jedoch neue Ausmaße und die schweren hirnorganischen Schäden verursachen komplexe psychische Auswirkungen: Sie erkennt bekannte Personen nicht mehr und ist emotional labil. Aufgrund ihrer fremdaggressiven Tendenzen muss die Patientin mittels gerichtlicher Unterbringung in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen werden. Eine Therapie ist nur noch symptomatisch möglich. Mitochondriopathien sind klinisch heterogen Das MELAS-Syndrom ist eine meist mütterlich vererbte Mitochondriopathie und gehört zu den seltenen Erkrankungen. Aufgrund von Heteroplasmien, wodurch mutierte und nicht mutierte mitochondriale DNA im Gewebe vorkommt, kann das Krankheitsbild von Fall zu Fall variieren – erschwerend für eine Diagnose. Auch Neumutationen können in seltenen Fällen ursächlich sein. Zu den häufigsten neurologischen Symptomen zählen wiederkehrende ischämische Schlaganfälle Polyneuropathie epileptische Anfälle Enzephalopathie Myopathie Ataxie Migräne Innenohrschwerhörigkeit Ebenfalls häufig sind Begleitsymptome wie Diabetes, Kardiomyopathie und häufiges Erbrechen aufgrund einer Laktatazidose. Wie auch im Fall der vorgestellten Patientin sind „wandernde“ Läsionen vom Parietallappen zum Okzipitallappen typische Befunde. Empfehlung der Redaktion Seltene Erkrankungen – Themenseite In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen in der EU von ihr betroffen sind. Auf der Themenseite „Seltene Erkrankungen“ finden Sie Nachrichten, Kasuistiken und Übersichtsarbeiten zu ALS, multiplem Myelom, Hämophilie und anderen Orphan Diseases. Üblicherweise wird das MELAS-Syndrom in den ersten zehn Lebensjahren festgestellt. Eine späte Manifestation nach dem 40. Lebensjahr ist aber, wie in diesem Fall, möglich und spricht für das komplexe Krankheitsbild. Die Prognose ist schlecht – aufgrund der wiederkehrenden Schlaganfälle erleiden Betroffene oft schwere neurologische Ausfälle bis hin zum Verlust der Autonomie oder zum Tod. Ursache für die schlaganfallähnlichen Episoden ist ein gestörter mitochondrialer Stoffwechsel. Ein Ungleichgewicht von Arginin und Stickstoffmonoxid im Gewebe führt zu Störungen der Vasodilatation und folglich zu ischämischen Insulten. Der mitochondriale Defekt führt außerdem zu einem Überschuss von Laktat und folglich zu einer Laktatazidose. Anfällig für Schäden sind vor allem Organe mit hoher metabolischer Aktivität wie das Gehirn und die Skelett- oder Herzmuskulatur. Therapie nur symptomatisch möglich Das MELAS-Syndrom ist nicht heilbar und auch kausal nicht therapierbar. Aufgrund des bekannten Pathomechanismus ist jedoch eine symptomatische Therapie möglich. Eine Therapie mit L-Arginin reduzierte in einer Studie das Auftreten und den Schweregrad von Schlaganfällen. Bei der symptomatischen Behandlung z. B. epileptischer Anfälle sollten mögliche Kontraindikationen von Medikamenten berücksichtigt werden, die den Pathomechanismus negativ beeinflussen könnten.

Springer Medizin

Die vielen Gesichter des MELAS-Syndroms

Weiterführende Themen

Passend zum Thema

Apixaban im Versorgungsalltag: VHF* und Adipositas/Diabetes

Passend zum Thema

Springer Medizin

Bitte loggen Sie sich ein, um Zugang zu diesem Inhalt zu erhalten

Weiterführende Themen

Passend zum Thema

Apixaban im Versorgungsalltag: VHF* und Adipositas/Diabetes

Passend zum Thema

Bitte loggen Sie sich ein, um Zugang zu diesem Inhalt zu erhalten