Seltene Erkrankungen bei Kindern „potenziell verheerend“

Auffällige Befundmuster sowie spezielle Fragen an die Betroffenen und ihr Umfeld können helfen, bei Kindern und Jugendlichen Seltene Erkrankungen früher zu identifizieren. Etwa die Hälfte aller Seltenen Erkrankungen (SE) manifestieren sich im Kindesalter. In Europa wird von neun bis 15 Millionen Kindern und Jugendlichen mit SE ausgegangen. Die gesundheitliche Bedeutung einer Seltenen Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen sei sehr variabel, aber „potenziell verheerend“, schreibt Professor Lorenz Grigull vom Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) in Bonn im Buch „Seltene Erkrankungen“ (Urban & Fischer 2021). „Drei von zehn Kindern mit SE erleben nicht ihren fünften Geburtstag.“ Das Neugeborenen-Screening in der ersten Lebenswoche (U2) umfasse zwar bereits 16 Zielkrankheiten. Das erscheine angesichts von geschätzt rund 3500 SE, die sich im Kindesalter zeigten, nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Umso mehr komme es auf die Aufmerksamkeit von Kinder- und Hausärzten an, etwa was somatische Auffälligkeiten und Entwicklungsstörungen angehe. Günstig sei es, wenn eine SE diagnostiziert werde, wenn noch keine irreversiblen Schäden vorlägen und noch therapeutisch effektiv eingegriffen werden könne, zum Beispiel mit Enzymersatztherapien bei einigen lysosomalen Speicherkrankheiten. Typische Zielerkrankung: Mukopolysaccharidose Als typische Zielerkrankung nennt Grigull die Mukopolysaccharidose (MPS) Typ 1 (Hurler-Syndrom). Die autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselstörung infolge eines lysosomalen Enzymdefekts hat schwere enchondrale und periosteale Ossifikationen zur Folge. Bereits bei der U3 und U4 fielen Entwicklungsverzögerungen, Makrozephalus, Fehlstellungen, Skoliose oder eine Hepatosplenomegalie auf. „Betroffene Kinder leiden regelmäßig an Hernien und rezidivierenden Otitiden“, berichtet Grigull. Andererseits seien die Leitsymptome unspezifisch genug, so dass sich die Diagnose regelmäßig verzögere. Grigull geht es um suspekte Muster wie rezidivierende Infektionen in der Nabelregion (Verdacht auf Immundefekt), Auffälligkeiten an mehreren Organsystemen (MPS, Morbus Fabry), verzögerte psychomotorische Entwicklungen oder verdächtige Laborwert-Konstellationen. Anamnesefragen als Schlüssel Die Experten empfehlen bei unspezifischen Beschwerden und möglicher Seltener Erkrankung ergänzende Anamnesefragen an die Eltern und Betroffenen. Zum Beispiel: Ist es schwierig, die Beschwerden Ihres Kindes in Worte zu fassen? Gibt es eine irritierende Besonderheit (z.B. Geruch, Hautverfärbungen, Zittern, Zuckungen)? Haben die Beschwerden immer wieder andere Namen/Diagnosen erhalten? Vermeiden Sie bewusst Aktivitäten mit Ihrem Kind, bei denen die Beschwerden sichtbar werden? Greifen Sie auf Hilfsmittel zurück, um besser zurechtzukommen? Gab es ein Erlebnis, dass die Zunahme der Beschwerden besonders vor Augen geführt hat? Künftig soll Künstliche Intelligenz (KI) helfen, frühzeitig Warnsignale zu erkennen, die auf Symptom- und Befundmuster hindeuten. Bereits nutzbar sind Plattformen wie isabelhealthcare.com, die etwa 10.000 Symptome und Befunde indexiert und eine gewichtete Liste von Differenzialdiagnosen generiert. „Face2gene“ ist eine App für Computer und Smartphones, mit der durch Porträtbildanalyse seltene genetische Syndrome erkannt werden können. In der hinterlegten Datenbank können Vergleiche mit relevanten Syndromen angestellt, in Foren die Befunde mit Experten diskutiert werden. Neue Herausforderung: Transition Häufig sind mehrere Organsysteme mit ungewöhnlicher klinischer Präsentation betroffen, weshalb bereits für die Diagnose und erst recht in der Versorgung Spezialisten hinzugezogen werden müssen, vom Neuropädiater und Neuroradiologen bis hin zu Endokrinologen, Augenärzten und Kinder-Onkologen. Diese finden sich in den bundesweit 37 Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE). Drei von zehn Kindern mit SE erleben nicht ihren fünften Geburtstag. Professor Lorenz Grigull, ZSE, Bonn Für einige SE gibt es schon etablierte Therapien. Hoffnungen setzen Experten in Zell- und Gentherapie-Programme, von denen nach Angaben von Grigull etwa 800 in klinischer Entwicklung sind. Doch Therapieerfolge gehen mit einer weiteren Herausforderung einher: der Transition von Jugendlichen in die Erwachsenenmedizin. Das zeigt das Beispiel Cystische Fibrose (CF): Die CF-Spezialisten haben gewöhnlich eine pädiatrische Ausbildung, doch die Patienten können heute dank neuer Therapien das Seniorenalter erreichen. Aktuell leben in Deutschland mehr Erwachsene als Kinder mit CF. Quelle: Ärzte Zeitung

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